# taz.de -- Beziehung und Erotik: Als wir den Sex verloren | |
> Kann eine Beziehung ohne Sex gutgehen? Eine Liebesgeschichte aus zwei | |
> Perspektiven – und der des Therapeuten. | |
Bild: Er: „Wie lang ist das letzte Mal schon her? Ein Dreivierteljahr, sagte … | |
Er: Ich hatte Angst vor der Nacht. Wenn es dunkel wurde, kroch das Gefühl | |
aus dem Magen empor wie die Säure beim Sodbrennen. Ich fürchtete mich vor | |
der Frau, die ich liebte. Ariane. Fünf Jahre waren wir ein Paar. | |
Wenn zwei Menschen, die sich lieben, im Bett liegen, dann sollten gewisse | |
Dinge passieren. Jedenfalls ab und an. Sie sollten sich berühren, sich | |
küssen, die feinen Härchen des anderen spüren, die sich unter der Hand | |
aufrichten. Sie sollten Sex haben. Wir sollten Sex haben. Wie lange ist das | |
letzte Mal schon her? Manchmal fragte ich Ariane und nie hatten wir gleich | |
gezählt. Ein Dreivierteljahr, sagte sie. Anderthalb Jahre, sagte ich, und | |
ihre Augen bekamen kurz diesen Ausdruck, als hätte ich etwas erschossen, | |
ein Reh vielleicht. | |
Aber dann zog sie den linken Mundwinkel nach oben und versuchte ein | |
Lächeln. Ich grinste auch. Ja, wir waren tapfer. Es war alles okay. Mehr | |
als das. Ariane und ich waren perfekt zusammen, das sagten die anderen. Uns | |
war scheißegal, was die anderen sagten. Wir wussten das selbst. | |
Sie: Es ist vorbei. Das denke ich heute noch oft. Wenn ein Liebhaber am | |
nächsten Morgen nicht nochmal Sex will oder nach dem Kino lieber was | |
trinken gehen anstatt gleich mit mir ins Bett. Meine Freunde glauben, ich | |
brauche es für mein Ego, dauernd begehrt zu werden. In Wahrheit brauche ich | |
die Art der Kommunikation, die es nur durch Sex gibt. Meine Freunde wissen | |
einfach nicht, wie das ist, wenn einem das zu lange fehlt. Obwohl: Manchmal | |
denke ich, einige von ihnen wissen mehr, als sie sagen. | |
Er: Damals bei Ariane war es nicht das erste Mal, dass es mir passiert ist. | |
Dass ich in einer Beziehung keinen Sex mehr hatte. Inzwischen liebe ich | |
eine andere Frau. Wir leben zusammen, wir schlafen miteinander. Es fühlt | |
sich nicht so an, als würde sich das ändern. Aber es hat sich früher auch | |
nicht so angefühlt. Wie mit einem Echolot höre ich immer wieder in mich | |
hinein: Spüre ich wieder einen Anflug von Erschöpfung? | |
Geht das jetzt für immer so weiter: Irgendwann hört der Sex auf, dann halte | |
ich noch ein paar Jahre durch und dann wieder die nächste Beziehung? | |
Sie: Darüber zu reden, zu schreiben, das geht erst jetzt. Daniel und ich | |
sind schon lange kein Paar mehr. | |
Ich analysiere sonst alles, was schiefläuft mit Freunden. Aber dass mein | |
Freund nicht mit mir schlafen will, ich jedoch dringend mit ihm, fast zwei | |
Jahre lang – darüber konnte ich damals nicht reden. Eher hätte ich | |
zugegeben, mir mein Studium erschwindelt zu haben oder zum Spaß Tiere zu | |
quälen. | |
Jetzt, lange nachdem Daniel und ich uns getrennt haben, sitzen wir bei | |
jemandem, der uns damals vielleicht hätte helfen können. Christoph Joseph | |
Ahlers ist Sexualwissenschaftler, er schreibt Bücher wie „Himmel auf Erden | |
und Hölle im Kopf: Was Sexualität für uns bedeutet“. Seit zwanzig Jahren | |
hat er an der Berliner Charité und hier in seiner Praxis für Sexualtherapie | |
hunderte Einzelpersonen und Paare beraten. Wir sind nicht bei ihm, um etwas | |
zu kitten. Wir haben unsere Beziehung lange hinter uns gelassen. Nun können | |
wir endlich darüber sprechen. Ahlers erklärt uns, was das Problem ist. | |
Der Therapeut: Seit Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es eine deutliche | |
Zunahme dessen, was man Störung der sexuellen Appetenz nennt. | |
Umgangssprachlich: kein Bock auf Sex. Ich unterscheide zwischen gerichteter | |
und ungerichteter sexueller Appetenz: Ungerichtete sexuelle Appetenz ist | |
Verlangen nach Sex ganz allgemein, egal wie, wo und mit wem. Gerichtete | |
sexuelle Appetenz ist sexuelles Begehren bezogen zum Beispiel auf eine | |
bestimmte Person. Die sexuelle Selbstbetätigung ist dabei vollständig | |
erhalten – wenn nicht, durch die Verfügbarkeit multimedialer | |
Internetpornografie, sogar gesteigert. Die Männer ziehen sich also aus der | |
sexuellen Beziehung zurück in die sexuelle Selbstbetätigung. Das hat es | |
früher in der Form so nicht gegeben. | |
Sie: Das mit Daniel fing eher zufällig an. Plötzlich hing er ständig in | |
unserer WG herum, ein Freund meines Mitbewohners. Wir schauten Filme und | |
kifften, und dann war da dieser eine Abend, an dem Daniel und ich alle drei | |
Teile von „Herr der Ringe“ guckten. Irgendwann dachte ich: Könnte eine | |
nette Affäre werden. Bald aber war unsere Beziehung genau das, was ich | |
immer gesucht hatte. Intellektuelles Gewichse nannte es eine Freundin. Ich | |
fand: Daniel und ich konnten uns gut unterhalten. Uns gut streiten, wenn | |
wir samstags im Bett die Zeitung lasen. Wir liebten uns. Wir hatten Spaß. | |
Wir hatten Sex. | |
Er: Wenn Ariane etwas gern macht, dann strahlt sie dabei eine unbändige | |
Freude aus. Sex machte ihr Spaß. Wenn sie mir einen blies, dann genoss sie | |
das. Sie schnurrte, wenn ich mit der Zungenspitze ganz sanft das kleine | |
schmale Tal zwischen ihren muskulösen Schulterblättern entlangfuhr. Ariane | |
wollte erobert und bestürmt werden, ihr Bedürfnis danach schien unendlich. | |
Sie: Der Sex war super. Bis irgendwann immer weniger von meiner Erregung in | |
Daniel wiederhallte. Er sich mir zuliebe aufraffte. Das erste Mal spürte | |
ich es in Paris. Ausgerechnet. Wir waren gerade eineinhalb Jahre zusammen | |
und besuchten Freunde. Von unserem Bett aus blickten wir auf Sacré-Cœur. | |
Mich erregte alles, die Gerüche auf den Straßen, der Geschmack und das | |
weiche Innere der Baguettes. Und vor allem Daniel. Er schob mich nicht weg, | |
noch nicht. Aber er drehte sich auch nicht zu mir um, nicht einmal, um mich | |
zu küssen. | |
Er: Jeder Rausch verdünnt irgendwann, kickt nicht mehr. Das Erobern, das | |
Bestürmen, es kam mir manchmal vor wie eine Arbeit, die nie zu Ende sein | |
würde. Immer wieder die gleiche Zirkusvorstellung: Tada, jetzt kommt der | |
Tiger, seht nur, wie die Frau ihren Kopf in seinen Rachen legt! | |
Sex ist, wenn die Frau kommt. Sie muss kommen, denn nur so kann ich sicher | |
sein, dass es ihr gefallen hat. Die Maschine in meinem Kopf berechnet die | |
nächsten Schritte, was muss getan werden, damit Ariane einen Orgasmus hat? | |
Da, sie stöhnt, gut, gut. Mit Frauen, die im Bett nichts sagen, konnte ich | |
nie etwas anfangen. Ich muss die Signale hören, deuten und einspeisen in | |
den Rechner, der alles speichert. Für heute ist es gut. Bis zum nächsten | |
Mal. Die Abstände werden zum Glück größer, je länger die Beziehung dauert. | |
Ariane hat mir erzählt, dass sie beim Sex nicht denkt, alle Frauen haben | |
mir das bisher gesagt. Ich beneidete sie. Ich denke immer. | |
Der Therapeut: Die soziokulturelle Bewertung von Sexualität erfolgt unter | |
dem Wertesystem der Leistungsgesellschaft. Das heißt, es besteht ein | |
kategorisches Gebot der soziosexuellen Aktivität, man muss Sex haben. Und | |
wer diesem Gebot nicht entspricht, reagiert mit Schamgefühl, | |
Unzulänglichkeitsempfindung und Rückzug und tendiert nicht dazu, sich zu | |
exponieren. | |
Sie: Der Stress, sagte er erst. Da war er gerade Chef geworden. Wir sehen | |
uns zu oft, sagte er dann. Und: Lass mir mehr Luft. Da fing es an, | |
wehzutun. Einmal waren wir auf einem Konzert. Wir tanzten und knutschten – | |
bis er mich plötzlich von sich stieß. Wir müssen ja wohl nicht immer mit | |
Zunge, oder?, rief er mir ins Ohr. Ich weiß nicht mehr, warum ich nicht | |
ging. Ich tanzte einfach weiter, wie in Trance. Aber seit diesem Abend | |
hatte ich plötzlich Angst, ihn zu verlieren. | |
Er: Mit Ariane habe ich offener geredet als in den Beziehungen zuvor. So | |
wollte ich mich davor schützen, dass der Sex wieder einmal verschwindet. | |
Wie einem Automechaniker hielt ich ihr mein Inneres hin: Hier, ich kapiere | |
es nicht, kannst du das reparieren? | |
Sie: Wir redeten darüber. Jedes Wochenende, wenn wir nebeneinander | |
aufwachten, redeten wir über Sex. Jedes Mal weinte ich. Weil ich Daniel | |
nicht aufgeben konnte – aber Sex auch nicht. Es gibt Hoffnung, sagte ich. | |
Aber unter einer Paartherapie schien sich Daniel vorzustellen, dass ihn | |
jemand umprogrammiert. Such dir doch eine Affäre, sagte Daniel. Das würde | |
ihm den Druck nehmen. Schöne Ausrede, dachte ich, nur damit er selbst mit | |
anderen schlafen kann. | |
Ich wollte nicht einfach irgendwelchen Sex. Sondern Sex mit jemandem, den | |
ich liebte. Unseren Sex. Ich konnte nicht verstehen, warum Daniel ihn nicht | |
auch vermisste. Immerhin: Unsere Gespräche am Samstagmorgen führten am | |
Anfang noch oft zu Sex. Daniel wunderte das: Wie dieses Reden ihn genug | |
befreite, um Lust zu haben. Mich wunderte, wie ihn das wundern konnte. | |
Er: Mein Gehirn sich wie ein übersteuertes Überwachungssystem vorstellen. | |
Es fragte immer wieder das Gleiche: Na, willst du sie? Na? Na? Na? Ich | |
fühlte mich unendlich müde. Dabei fand ich Ariane immer noch schön. Sie hat | |
eine aristokratische Eleganz, dieses dreieckige Gesicht von Königinnen. Nur | |
meinem Schwanz war ihre Schönheit ziemlich egal. Andere Frauen begehrte | |
ich, sie nicht. Ich versuchte, das vor ihr zu verheimlichen und vor mir. | |
Sie bekam es trotzdem mit und es verletzte sie. | |
Ich versuchte das zu kompensieren: Essen gehen, vorlesen, doch mal früher | |
zusammen ins Bett gehen, obwohl nein, doch lieber nicht. Andere Frauen zu | |
begehren, fühlte sich so leicht an. Ich begegnete ihnen in U-Bahnen, | |
Bussen, Supermärkten. Klar hatte ich früher der einen oder anderen | |
nachgeschaut, aber je länger der Sex weg war, desto mehr lösten sich die | |
Frauen in ihre Einzelteile auf. Beine, Hintern, Augen. Und in ihre Gerüche. | |
Nach Eisdiele und Meer, nach Holz und nach Erde. Als hätte jemand in meiner | |
Nase einen Verstärker aufgedreht. Dann guckte ich mir hässliche Männer an. | |
Berlin hat ja genug davon. Bierbäuche. Halbglatzen. | |
Sie: Mich erschreckte, wie schnell ich jede Großzügigkeit verlor. Jede Frau | |
war plötzlich meine Konkurrentin. Jede schien haben zu können, was mir | |
fehlte: Sex mit dem Menschen, den ich liebte. Ich war nie ganz frei von | |
Zweifeln: Bin ich zu langweilig, zu ungeil, zu unperfekt? | |
Dabei vergaß ich, zuzuhören. Auch viele Freundinnen klagten, dass ihre | |
Männer zu müde sind, zu überarbeitet oder zu depressiv. Schlapp. Wir | |
fragten uns: Warum entsprechen sie so wenig dem alten Klischee? Die, deren | |
Rolle es mal war, immer zu wollen, sind verspannt, schwer zu verführen, | |
schnell zu verschrecken. Bei Stress kann er nicht und morgens will er | |
nicht, sagte eine Freundin, und wir lachten, obwohl wir beide verzweifelt | |
waren. | |
Der Therapeut: Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war gefühlt klar: Männer | |
wollen immer nur das eine – Frauen eher weniger, wenn nicht sogar nie. Was | |
wir nun seit Beginn des 21. Jahrhunderts vermehrt beobachten, ist, dass | |
sich diese Rollen verkehrt haben: Heute sehen wir immer häufiger Männer, | |
die nicht mehr mit ihren Frauen schlafen wollen. | |
Sie: Bei den Männern vor Daniel hatte vieles nicht gestimmt – aber was | |
immer funktionierte, war Sex. Dort waren wir uns nah, selbst wenn wir | |
gerade noch über Trennung gesprochen hatten oder in einer politischen | |
Diskussion mal wieder angebrüllt hatten. Manche von ihnen liebten Sex in | |
Parks, manchmal wurde es schmutzig, weil wir uns gerade noch mit | |
Götterspeise beworfen hatten. Sex war der Spielplatz meines | |
Erwachsenwerdens, der erste Ort, an dem ich mich nach Jahren voller Pickel, | |
furchtbarer Frisuren und missglückter Rasuren schön fühlte. Frei. | |
Vielleicht hatte ich Glück. Beim meinem ersten Mal war ich 17 und schwer | |
verliebt. Und sofort süchtig. | |
Er: Sex war für mich lange das, was die anderen hatten und ich nicht. In | |
der siebten Klasse verliebte ich mich das erste Mal so richtig. Sie war | |
klein, blond, hatte eine große Klappe und schöne Brüste. Sie roch gut, nach | |
weiter Welt, nach erwachsener Frau. Ich zeigte ihr meine Zuneigung, indem | |
ich ihr Papierkugeln gegen die Brille schnipste oder Strichmännchen mit | |
Joints auf ihren Hefter kritzelte. Sie mochte mich trotzdem. | |
Wir küssten uns fünf Jahre später, sofort mit Zunge und allem, es ging | |
erstaunlich gut. Eines Abends lag sie unter mir. Und es passierte nichts. | |
Ich konnte nicht. Als wäre die Verbindung zwischen meinem Kopf, meinem | |
ganzen Wollen und meinem Schwanz durchgeschnitten. Wie ein Jedi versuchte | |
ich Kraft meiner Gedanken etwas zu bewegen, anzuheben. Ich fühlte mich, als | |
würde ich gleich explodieren, aber letztendlich implodierte ich. Was war | |
nur mit mir los? | |
Wir probierten es wieder und wieder. Es funktionierte nie. Ich | |
funktionierte nicht. Ich war überzeugt, dass ich der Einzige war, der an so | |
etwas litt, vielleicht war es eine Krankheit. Vielleicht hatte ich mir beim | |
Wichsen irgendwas eingeklemmt. Aber ich wollte Freundinnen haben, wie | |
andere auch. Weil ich Angst hatte, die würden mich wegen meines Problems | |
wieder verlassen, strengte ich mich an. Mit den Händen. Mit der Zunge. Ich | |
lernte, mich auch vor dem etwas bitteren und säuerlichen Geschmack mancher | |
Frauen nicht zu ekeln. Diese Beziehungen dauerten nie länger als ein paar | |
Monate. Dann ging ich. | |
Der Therapeut: Es gibt ein zunehmendes sozialnormatives | |
Leistungsdruckempfinden bei Männern. Frauen haben seit vielen tausend | |
Jahren Leidensroutine, bezogen auf Anforderungen an ihre Schönheit, Figur, | |
Sexyness, Verführungskraft und so fort. Diese Leidensroutine haben Männer | |
nicht. Für die war es – zumindest bis Mitte des 20. Jahrhunderts – | |
unbekannt, dass in irgendeiner Weise Anforderungen an sie, ihre | |
Körperlichkeit oder ihre sexuelle Potenz gestellt wurden. | |
Er: Es war Janka, die mich erlöst hat. Wir hatten uns an der Ostsee | |
kennengelernt. Sie hatte ein paar Nazis gesehen und fragte mich, ob ich vor | |
ihrem Zelt schlafen könnte, um sie zu beschützen. In der Nacht regnete es. | |
Ich habe ihr erzählt, dass es schwierig wird mit mir und dem Sex. Sie sagte | |
das, was die Frauen vorher auch gesagt hatten: Alles wird gut. Sie war die | |
Erste, der ich erlaubte, meinen Schwanz in den Mund zu nehmen. Ich komme | |
mir vor wie ein Sexist, sagte ich. Sie lachte. Es fühlte sich nicht sehr | |
sexistisch an. Und dann setzte sie sich einfach auf mich. Warm war es. | |
Feucht. | |
War das jetzt Sex? Mein Schwanz funktionierte, sie hatte ihn überrascht. | |
Alles dauerte nur wenige Sekunden, mein erster Orgasmus mit einer Frau, mit | |
23, mir liefen Tränen über das Gesicht. Danach lagen wir eine Stunde lang | |
auf meinem Bett und grinsten uns an. Damals dachte ich, alle Probleme seien | |
gelöst, als hätte mich eine Fee von einem Fluch befreit. Aber so war es | |
nicht. Wenn ich mit Frauen schlafen wollte, dauerte es. Manchmal Wochen, | |
manchmal Monate. One-Night-Stands waren so nicht zu machen. Für meine | |
Freundinnen war das ganz praktisch, ich hatte eine Wegfahrsperre. | |
Der Therapeut: Die Ergebnisse der Sexualforschung zeigen klare Trends: In | |
den Siebzigern und Achtzigern ging es vor allem um Orgasmusstörungen der | |
Frauen. Störungen der sexuellen Appetenz waren nachrangig. In den | |
Neunzigern kamen viele Männer mit Erektionsstörungen. Ab den 2000ern gab es | |
eine deutliche Zunahme der Störung der sexuellen Appetenz. | |
Er: Ich habe also jeden Trend mitgemacht. | |
Sie: Trotz aller Zweifel wusste ich trotzdem: Daniel liebte mich. Es war | |
überdeutlich, weil er sich so anstrengte, es mir auf andere Art zu zeigen. | |
Ganz gleich, was ich erzählte: Daniel erkannte ein Problem und versucht ees | |
zu lösen. Ich liebte ihn dafür, aber es lähmte mich auch. Den Rest von Sex | |
tötete es sowieso. Je weniger Sex wir hatten, desto tiefer gruben wir uns | |
ein in diesen Kokon des Beschützens. Dadrin war es wenigstens warm. Und | |
niemals heiß. | |
Er: Ich wies Ariane ab und fühlte mich schuldig. Die Schuld versuchte ich | |
abzutragen, indem ich Ariane dann doch berührte, sie streichelte. Sex | |
verwandelte sich von etwas Schönem zu einer Pflicht, die ich mit Unwillen | |
erledigte. Beim nächsten Mal war es dann noch schwerer. | |
Ariane hatte Besseres verdient als das hier. Aber verlassen konnte ich sie | |
nicht, dazu brauchte ich sie zu sehr. Und sie mich. Wir waren so stark | |
verbunden. Das machte diese Beziehung oft besonders schön. Zugleich machte | |
es uns unglücklich. Ich fühlte, wir kamen uns abhanden, und meine Angst | |
davor war riesig. | |
Der Therapeut: Das Dilemma zwischen dem Wunsch nach Nähe und dem Bedürfnis | |
nach Distanz ist für viele Menschen schwer aufzulösen. Es gibt eine | |
Grundambivalenz zwischen dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und dem Bestreben | |
nach Autonomie. Und diese gegensätzlichen Bedürfnisse unter einen Hut zu | |
kriegen, das ist eben die Herausforderung partnerschaftlicher Beziehungen, | |
insbesondere im Sexuellen. Wir murksen da alle herum. | |
Die Symbiose fühlt sich erst mal behaglich an. Nämlich nach einer | |
geschwisterlichen Unzertrennlichkeit. Sie führt langfristig aber dazu, dass | |
sowohl die Entwicklung der beiden Partner als auch die Entwicklung des | |
Paares blockiert ist. Sie bleibt infantil, regressiv, geschwisterlich. Es | |
entsteht eine Übernähe. Sofakuscheln, Naschkatzenfüttern, Schnutzi, Butzi, | |
Mausi, Hasi. | |
Er: Wenn ich beschreiben sollte, wie ich mir eigentlich die ideale | |
Beziehung vorstelle, dann habe ich immer Folgendes gesagt: Wie zwei Sonnen, | |
die einander umkreisen. Nicht Sonne und Planet. Nicht Sonne und Mond. Beide | |
sind gleichwertig und strahlen aus eigener Kraft. Ich habe nie einen | |
Astrophysiker gefragt, was passieren würde, wenn sich zwei gleich große | |
Sonnen so nahe kommen. Wahrscheinlich explodieren sie oder stürzen | |
ineinander oder sie verschmelzen zu einem alles verschlingenden Superstern. | |
Sie: Ich hab ich mich schon immer lieber mit dem Körper ausgedrückt als mit | |
Worten. Aber dass Sex als Sprache nicht für jeden funktioniert, begreife | |
ich erst jetzt. | |
Der Therapeut: Der gesellschaftliche Diskurs zur Sexualität erschöpft sich | |
auf zwei Feldern: Fortpflanzung und Erregung. Da brauchen wir keine | |
Nachhilfe. Es gibt aber noch eine dritte Funktion von Sexualität. Und diese | |
dritte Funktion ist die elementarste für unser Menschsein: Kommunikation. | |
Für diese wichtigste Funktion haben wir aber kein kulturelles Bewusstsein. | |
Kommunikationsfunktion bedeutet, die Möglichkeit, durch sexuellen | |
Körperkontakt Grundbedürfnisse zu erfüllen. Nämlich das Grundbedürfnis | |
wahrgenommen zu werden. Ernst genommen zu werden. Und angenommen zu werden. | |
Das ist es, worum es uns Menschen im Kern geht. Und wenn wir einen Orden | |
kriegen vom General oder eine Gehaltserhöhung vom Chef oder eine Einladung | |
zu einer exklusiven Veranstaltung, dann wird uns signalisiert: Ich bin | |
okay, ich gehöre dazu. Alles, was wir in unserem Leben tun, zielt darauf | |
ab, dieses Grundbedürfnis zu erfüllen. Und die intensivste, weil potenziell | |
intimste Form, diese Bedürfnisse zu erfüllen, ist sexuelle | |
Körperkommunikation. Nur sagt uns das keiner. | |
Er: Manchmal würde ich gern anordnen können, dass Menschen nur dann über | |
Sex schreiben dürfen, wenn sie vorher eine Frage beantworten: Worauf | |
stehst du eigentlich so im Bett? Texte über Sex erklären meist anderen, | |
worauf sie zu stehen haben. Frauenzeitschriften, Männerzeitschriften: Wie | |
bin ich ein ganzer Kerl und wie macht sich die Frau einen Typen gefügig, | |
ohne dass er es merkt? Auch feministische Autorinnen und Autoren predigen | |
oft, statt empathisch zu sein. Gerade wenn es ins Halbdunkel geht, um | |
Begehren und Macht im Bett. Nimmt man einer Frau ab, einfach nur geil zu | |
sein? Bleibt doch am Ende der Mann derjenige, der alles Rohe und Dunkle | |
verkörpert? Ich lese Texte über Sex immer mit der Frage: Hat der Autor oder | |
die Autorin wenigstens eine Ahnung von dem, was wir schnell Abgründe | |
nennen? Von Unsicherheit und Schwäche? | |
Sie: Am Ende habe ich mit jemandem anderem geschlafen. Er war verheiratet. | |
Es war wild, schön. Ich hatte kein schlechtes Gewissen. Aus einem einfachen | |
Grund: Daniel und ich waren wieder auf Augenhöhe, so fühlte es sich an. | |
Viel wichtiger aber: Ich liebte Daniel wieder. Ohne Angst, ohne Eifersucht. | |
Ich schlief weiter mit dem einen, gefahrlos, er war verheiratet. Dann | |
schlief ich mit einem zweiten. Der war in mich verliebt. Ich auch in ihn, | |
ein bisschen. | |
Ich hoffte, dass Daniel auch Sex mit anderen hatte. Weil ich mich ihm durch | |
das ganze Fremdgevögel wieder nah fühlte. So, dachte ich damals, könnte es | |
gehen. Die nächsten Jahre, den Rest unseres Lebens. | |
Er: Ich reduzierte meine Stelle und wollte mir mehr Zeit für unsere | |
Beziehung nehmen. Wir gingen wieder öfter in dieses Café, das wir beide | |
mochten, lagen im Bett und redeten, ich las ihr ab und an mal wieder etwas | |
vor. Das Gefühl, sie zu begehren, kam nicht zurück. | |
Wir haben uns damit abgefunden. Es gibt diese letzte Geburtstagskarte, in | |
der Ariane schreibt, ich sei ein großes, starkes („nein, nicht dickes!!!“) | |
Wunderwesen, das sie von Herzen liebt. „Ob mit Leidenschaft oder ohne in | |
unserer Beziehung– daran ändert sich nichts. Alles Liebe und Gute zum | |
Geburtstag. Deine Ariane“ | |
Sie: Seit ich wieder Sex hatte, fühlte ich mich frei. Bis zu dem Moment, in | |
dem Daniel mich verließ. Wegen einer anderen. Ich hätte ihm gern gesagt: | |
Entscheide dich doch für uns beide. Heute denke ich: Das hätte so nie lange | |
funktioniert. Das ist nicht das, was ich von einer Beziehung will. | |
Der Therapeut: Das ist ein ausgesprochen schmerzhafter Prozess. Stellen | |
Sie sich vor, Ihre Hände sind mit Sekundenkleber zusammengeklebt. Wenn | |
Sie sie lösen wollen, müssen Sie wahrscheinlich schneiden und Sie verlieren | |
Hautpartien und erzeugen Verletzungen und Schmerz. Das Ziel einer | |
Entsymbiotisierung ist es, von der Symbiose zur Syndiade zu kommen. Das | |
heißt, dass jeder Partner sich annähern und distanzieren kann, ohne dass | |
das zu Beziehungsabbruch oder Selbstverlust führt. Das ist schwer. Aber das | |
ist das, was therapeutisch angestrebt wird. | |
Es gibt eine Volksweisheit, die sagt: „Bewachte Milch kocht nicht!“ Genau | |
darum geht es hier. Solange ich darauf starre, tut sich nichts. | |
Er: Meine heutige Freundin und ich haben ein paar Regeln aufgestellt: Einen | |
Urlaub im Jahr verbringen wir getrennt und einen zusammen. Ein Jahr darf | |
sie das Ziel aussuchen, ein Jahr ich. Jede Woche verbringen wir zwei Abende | |
auf jeden Fall gemeinsam und an einem Tag am Wochenende bleiben wir morgens | |
zusammen im Bett liegen. Okay, manchmal geht sie schon joggen, aber sie | |
kommt zurück. Wir streicheln uns, machen blöde Witze. Sex muss dabei nicht | |
rauskommen, aber es passiert oft. Wild romantisch klingt das nicht. Aber es | |
funktioniert. Wir flirten auch mal mit anderen. Und sollte es zu mehr | |
kommen, will sie das nicht wissen und ich auch nicht. Es sei denn, etwas | |
gefährdet die Beziehung. Klingt wie ein Freibrief, für uns ist es | |
Vertrauen. | |
Sie: Es ist aus – das dachte ich nach der Trennung von Daniel lange. Nicht | |
nur, wenn mir eine Affäre zu lasch war. Ich zweifelte am Konzept von | |
Beziehung an sich. Es läuft doch immer darauf hinaus, dass der Sex weniger | |
wird. Die Behaglichkeit stickig. Erzählen doch alle. | |
Ich begann die Unabhängigkeit zu lieben. Eines Morgens, als ich | |
unausgeschlafen in der Küche saß, twitterte ich „Ich schlafe eigentlich nur | |
in Zügen und Beziehungen richtig gut. Vermutlich, weil ich mich in beidem | |
so langweile.“ Ich hatte mein Leben lang Schlafstörungen. Als ich mit | |
Daniel zusammen war, schlief ich wie ein Baby. Weil ich mich so geborgen | |
fühlte. | |
Jetzt bin ich wieder mit jemandem zusammen. Ich schlafe nicht gut. Aber ich | |
denke nicht mehr: Es ist aus. Sondern: Es fängt an. | |
Er: Ich wollte nie mit meiner Freundin zusammenziehen. Zu viel Nähe, zu | |
viel Verkleben. Mit der Frau, mit der ich heute zusammen bin, hatte ich zu | |
Beginn eine Fernbeziehung. Acht Stunden mit dem Zug, alle vier bis fünf | |
Wochen ein Treffen. Dann zog sie nach Berlin, und ich merkte: Wir verkleben | |
dennoch nicht. Gerade sind wir zusammengezogen. Ich hatte eine Bedingung: | |
Ich brauche ein eigenes Zimmer. | |
5 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
Ariane Lemme | |
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