# taz.de -- Bernstein aus der Kreidezeit: Das Sozialleben von Ameisen | |
> Ein kleines Stück Bernstein mit eingeschlossenen Fossilien zeigt, dass | |
> die Sozialstruktur von Ameisenstaaten schon in der Evolution angelegt | |
> war. | |
Bild: Weibliche Ameisen eingeschlossen in Bernstein aus der Kreidezeit | |
Unzählige kleine braunschwarze Körper bedecken den Hügel. Ein scheinbar | |
unkontrolliertes, aber geschäftiges Hin- und Herkrabbeln so vieler Tiere, | |
dass sie nicht alle klar erkennbar sind. Ein Ameisenhügel kann eine starke | |
Faszination auslösen. Bei genauerer Betrachtung wird aus dem Gewusel ein | |
koordiniertes Miteinander, bei dem jedes Tier seine Aufgabe hat. Die Arbeit | |
verteilt sich auf drei Kasten, ganz oben die Königin, die die Eier legt. | |
Die Männchen haben einzig die Aufgabe, diese zu befruchten. Die größte | |
Gruppe bilden die Arbeiterinnen, die für Nahrung und Nestbau sorgen und | |
sich um den Nachwuchs kümmern. Diese Arbeitsaufteilung nennt sich | |
Eusozialität. | |
Wir lernen das Ameisenleben meist von Kindesbeinen an kennen, da es so | |
einzigartig, spannend und für Kinder oft eine faszinierende Beobachtung | |
ist. Doch seit wann machen das die Ameisen schon, wann entwickelte sich | |
diese besondere Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens? | |
Die Antwort steckt im [1][Bernstein.] Vier in diesem eingeschlossene | |
Fossilien untersuchten die [2][Wissenschaftler um Brendon E. Boudinot, | |
gegenwärtig in Jena forschend]. Die Ergebnisse wurden im Zoological Journal | |
of the Linnean Society veröffentlicht. Genauer handelt es sich um drei | |
flügellose ausgewachsene weibliche Ameisen nebst einer Puppe. Es ist der | |
erste gefundene gemeinsame Einschluss mehrerer Lebensstadien von | |
mesozoischen Ameisen. | |
„Wir entdeckten, dass die rund 100 Millionen Jahre alten [3][Fossilien] | |
außergewöhnlich gut erhaltenes Weichgewebe besitzen. Darunter Muskeln, | |
Nerven und Gehirne“, erklärt Boudinot. Mittels | |
Röntgen-Mikro-Computertomografie konnten die Fossilien anhand ihrer Gewebe | |
genauer untersucht und identifiziert werden. Bei dieser Methode handelt es | |
sich um eine 3D-Visualisierung, bei der Röntgenstrahlen genutzt werden, um | |
ein Objekt schichtweise zu betrachten. Bei der Untersuchung kam es zu zwei | |
aufsehenerregenden Entdeckungen. „Wir waren nicht nur in der Lage, eine | |
neue Spezies in dem Bernstein zu identifizieren, sondern auch zu belegen, | |
dass die Puppe zu einer der erwachsenen Ameisen gehört“, erzählt Boudinot. | |
Zwei der Tiere gehören einer bisher unbekannten Art der ausgestorbenen | |
Ameisenstammgruppe der Gattung Gerontoformica an. Damit ist dies die 14. | |
Art dieser Gattung, die beschrieben wird. Der ersten Beobachtung folgend | |
wurden die beiden Tiere zunächst der bereits bekannten Art Gerontoformica | |
pilosa zugeordnet, doch die genaue Untersuchung mittels der | |
Computertomografie zeigte einige kleine anatomische Unterschiede. Somit | |
kamen die Forscher zu dem Schluss, eine bisher ungekannte Art vor sich zu | |
haben: Gerontoformica sternorhabda. | |
Die dritte der ausgewachsenen Ameisen konnte eindeutig der Art | |
Gerontoformica gracilis zugeordnet werden und, was die Forscher besonders | |
interessierte, die Puppe scheint ebenfalls der Art G. gracilis anzugehören. | |
Das schlossen die Forscher aus der mehr als doppelt so hohen | |
morphologischen Übereinstimmung mit G. gracilis gegenüber der neuen Art G. | |
sternorhabda. | |
## Zuordnung der Ameisenpuppe | |
„Die Erkenntnis, dass die Puppe zu einem der adulten Tiere gehört, ist | |
besonders bedeutsam, denn sie zeigt, dass Ameisen sich seit der Zeit der | |
Dinosaurier gemeinsam um ihre Jungen kümmern.“ Über diesen Fakt wurde | |
bereits spekuliert, doch die Hypothese konnte bis vor Kurzem nicht | |
bestätigt werden. Die Puppe erregte die Aufmerksamkeit der Forscher. Da sie | |
sich nicht alleine fortbewegen kann, lag der Schluss nahe, dass sie zu | |
einem der adulten Tiere gehörte. Der Bernstein ist zudem fast frei von | |
Trümmerspuren; die Puppe wurde also sehr wahrscheinlich zeitgleich mit den | |
ausgewachsenen Exemplaren eingeschlossen. | |
„Dieser sogenannte Bruttransport ist ein einzigartiges Merkmal des | |
[4][arbeitsteiligen Zusammenlebens von Ameisen“], meint Boudinot. Legt man | |
die Hypothese zugrunde, dass flügellose adulte Stammameisen sowohl | |
Pflegerinnen als auch Jägerinnen, also Arbeiterinnen waren, sei davon | |
auszugehen, dass mit dem Bruttransport eine gemeinsame Nahrungssuche | |
einhergeht sowie unterschiedliche Königinnen- und Arbeiterkasten vorhanden | |
waren. Diese Hypothesen bestehen seit einigen Jahren und wurden nun | |
erstmals durch einen materiellen Beweis untermauert. Das Sozialleben der | |
Ameisen gibt es schon seit mindestens 100 Millionen Jahren. | |
Was sich allerdings wohl nie vollständig durch die Untersuchung von | |
Fossilien klären lassen wird, ist die Frage, ob Ameisen auch eine Periode | |
der obligaten Monogamie durchliefen, bevor sie die Eusozialität für sich | |
entdeckten. | |
Trotzdem gibt es noch viel zu erforschen. Die Mikrocomputertomografie | |
ermöglicht eine viel detailliertere Bestimmung der inneren Anatomie | |
fossiler Insekten. Die Verwandtschaftsverhältnisse fossiler Arten | |
untereinander und zu heute lebenden Arten lassen sich genauer untersuchen. | |
Vielleicht finden Forscher nun auch Antworten auf die Frage, wie die beiden | |
unterschiedlichen weiblichen Formen bei den Ameisen entstanden. Gingen | |
beispielsweise zuerst die Flügel oder erst die Fruchtbarkeit bei den | |
Arbeiterinnen verloren? | |
18 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Bernsteinfischen-in-Polen/!5543465 | |
[2] https://www.uni-jena.de/220222-ameisen-im-bernstein | |
[3] /Forscher-ueber-DNA-Funde-im-Boden/!5785148 | |
[4] /Insektensterben-betrifft-auch-Ameisen/!5509051 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Fuchs | |
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