# taz.de -- Bernsteinfischen in Polen: Ostseegold im Netz | |
> Die Danziger Bucht verfügt über ergiebige Bernsteinvorkommen. | |
> Bernsteinfischen ist dort zur kalten Jahreszeit Volkssport. | |
Bild: Bernsteinsucher im polnischen Ustka | |
Der Wind weht frisch aus wechselnden Richtungen, die Ostseewellen rollen | |
friedlich über das Meer. Auf ein paar wenigen kräuseln sich Schaumkronen, | |
die Luft riecht herrlich nach Salz und Algen. Zbigniew Strzelczyk steht in | |
seinen grüngrauen, hüfthohen Gummistiefeln am Strand von Sobieszewo und | |
wägt die Lage ab. Der Mann mit der dicken Hornbrille sieht unzufrieden aus. | |
„Absolute Flaute“, brummt der Danziger Bernsteinmeister gegen das | |
Meeresrauschen an und blickt über die kaum bewegte Wasseroberfläche. | |
„Eigentlich war starker Wind aus Nordost gemeldet.“ | |
Sturm ist Strzelczyks Leidenschaft. Sein innerer Kompass ist auf Nordost | |
geeicht. Aus dieser Himmelsrichtung kommt der Strandsegen: Bernstein – das | |
Gold der Ostsee. Bei starkem auflandigem Wind werden Inseln aus Algen ans | |
Ufer gespült, die große Mengen Bernstein, ganze Platten sogar mit sich | |
führen können. Der Sturm muss nur stark genug blasen, die Wellen müssen | |
mächtig genug über den Meeresboden rollen, pulsieren, rotieren und sich | |
kraftvoll zurückziehen. Immer wieder. | |
Dies ist der Rhythmus, bei dem die begehrten cognacfarbenen Brocken aus den | |
Schichten des Untergrundes abreißen, im Meer taumelnd von Seegras umwickelt | |
werden und an Land treiben. Je kräftiger die Tangmassen vom Meer | |
geschüttelt werden, desto eher fällt ein wertvoller Klunker heraus und | |
sinkt zu Boden. Das ist, was bei den heftigen Herbst- und Frühjahrsstürmen | |
von November bis März passiert. Dann bricht an der Ostseeküste der | |
Goldrausch aus. | |
## Reiche Lagerstätten | |
Der Strand von Sobieszewo, gut fünfzehn Kilometer von Danzig entfernt, gilt | |
unter den pommerschen Bernsteinfischern als idealer Fundort. Die lange | |
Landzunge biegt sich sackförmig zu einer Bucht, ein vorzügliches | |
Auffangbecken für fossiles Harz. Vor gut 45 Millionen Jahren zerstörten die | |
Gletscher der pleistozänen Inlandsvereisung die ausgedehnten Kiefernwälder | |
in Südskandinavien, das Harz der Bäume erhärtete im Laufe der Zeit. | |
Wasserströme überfluteten die Wälder und spülten große Mengen Bernstein | |
aus, die durch das baltische Meer nach Süden wanderten und sich vor den | |
Küsten ablagerten. | |
Die Danziger Bucht verfügt über besonders ergiebige Vorkommen, weil sie | |
direkt gegenüber dem urzeitlichen fennoskandinavischen Schild liegen. Die | |
reichsten Lagerstätten bei Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, fielen | |
allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg an Russland. Geologen schätzen die | |
Vorräte auf 350.000 Tonnen, gut 90 Prozent des weltweiten Vorkommens. Dem | |
baltischen Bernstein sagt man die allerbeste Qualität nach. | |
Die kalte Jahreszeit ist auch wegen der Temperaturen zum Suchen genau | |
richtig. „Bernstein entspricht der Dichte von kaltem und salzhaltigem | |
Wasser“, erklärt Strzelczyk. Wenn die Wassertemperatur auf knapp 0 Grad | |
sinkt, die Lufttemperatur bei minus 10 Grad liegt, wird der Bernstein | |
leichter von den Wellen an Land getragen. In warmem Wasser wiegt Bernstein | |
dagegen eher schwer und bleibt häufiger im Sommer am Meeresboden liegen. | |
Deshalb sind bei diesem Wetter an der Küste von Sobieszewo nur dick | |
angezogene Menschen zu sehen. Leicht gebeugt suchen sie in der typischen | |
Sammlerhaltung den Boden konzentriert nach Schwemmgut ab, stochern zwischen | |
Muscheln, Tang, Steinen und Holzstücken nach Kostbarem. Einige Fischer | |
stehen bis zu den Knien im Wasser. | |
## Der Bernsteinmeister | |
Wie Strzelczyk, der aber nur noch selten zum Bernsteinfischen aufbricht. | |
Er ist einer von sechs Bernsteinmeistern in Polen und kauft das Rohmaterial | |
für seine Werkstatt in der Danziger Altstadt hauptsächlich von Händlern | |
seines Vertrauens. Es wird überwiegend im industriellen Tagebergbau | |
gewonnen. Der Kitzel aber, am Meeresufer nach den unpolierten honiggelben | |
Klunkern zu stöbern, der vergehe nie. „Es ist die hautnahe Erfahrung, dass | |
das versteinerte Baumharz ein Geschenk der Natur ist.“ | |
Auch Strzelczyk hat sich warm angezogen, einen wasserdichten Mantel und | |
einen Schal. Bei Minusgraden hält das die eisige Kälte im Wasser trotzdem | |
nicht fern; nach ein paar Minuten ist man bis auf die Knochen | |
durchgefroren. „Außer Sturm und Gummistiefeln brauche ich noch Tee mit | |
Strom“, lacht der Fischer – gemeint ist hochprozentiger Alkohol. | |
Die Suche beginnt früh morgens mit der Stirnlampe. „Der frühe Vogel pickt | |
den Wurm“, sagt der routinierte Bernsteinfischer, greift zum langstieligen | |
Kescher, watet durchs Wasser und harkt den Meeresboden ab. Ein mühsames | |
Gehen, denn selbst dem Kräftigsten reißt die Strömung immer wieder den | |
Grund unter seinen Füßen weg. Nach einer Weile hebt er den Kescher, | |
durchforstet den Inhalt. Meist findet er kleinere Klumpen. Ein faustgroßes | |
Exemplar zu bergen ist reine Glückssache. Im Netz hat er heute nur ein paar | |
Muscheln und Algen. Er wirft sie zurück ins Meer. | |
„Bernstein erkennt man zuerst am Gewicht“, sagt der Fachmann. Der Bernstein | |
ist leicht wie Holz, weil er kein Stein ist, sondern Succinit, wie | |
baltischer Bernstein auch heißt. Die richtige Echtheitsprobe folgt in | |
Strzelczyks Atelier. Früher prüften viele Sammler die Echtheit, indem sie | |
den Brocken gegen die Zähne klopften. „Das kann gefährlich werden“, warnt | |
Strzelczyk. Denn statt des begehrten Bernsteins stecken Fossiliensammler | |
womöglich „falschen Bernstein“ ein, einen hochgiftigen Phosphorklumpen. | |
Liegt er in der Manteltasche, kann er Feuer fangen und schwere | |
Verbrennungen verursachen. Bernstein und Phosphor sehen sich zum | |
Verwechseln ähnlich. Der Unterschied: Phosphor riecht nach Knoblauch. Die | |
angeschwemmte Chemikalie stammt aus der Weltkriegsmunition, aus | |
Brandbomben, die noch am Boden der Ostsee lagern und angeschwemmt werden. | |
Ihr Trivialname ist „Senfgas“. | |
Strzelczyk taucht seinen Kescher unermüdlich in die Wellen ein. Fischt er | |
einen Brocken, darf er ihn behalten. Das Strandrecht liegt heute zwar bei | |
der jeweiligen Gemeinde, aber privates Sammeln wird geduldet. | |
Das war nicht immer so. In der Slawenzeit gehörten alle Fundstücke dem, der | |
sie fand. Als im Mittelalter Fürstentümer und Königreiche entstanden, | |
änderte sich die Rechtslage. Der Grundsatz lautete nun: Was in und auf dem | |
Acker oder am Meeresufer gefunden wird, gehört dem Landesherrn und muss | |
abgeliefert werden. | |
Als der Deutsche Orden im 13. Jahrhundert das spätere Ostpreußen eroberte, | |
brachte er alle Küstenstädte unter seine Kontrolle, auch um sich das | |
Monopol über die Förderung und den Handel von Bernstein zu sichern. | |
In der Sturmzeit zwangen die Ordensritter Fischer und Küstenbewohner zur | |
Bernsteinsuche. Kleinere Stücke durften sie behalten. Ab 1394 wurde der | |
Besitz von unbearbeitetem Bernstein strafbar. Untertanen waren | |
verpflichtet, das fossile Material bei den Ordensbeamten abzuliefern. Um | |
den Schmuggel zu unterbinden, war seine Bearbeitung im Ordensland bis Ende | |
des 15. Jahrhunderts verboten. Dies war als Privileg der | |
Bernsteindreherzunft in Königsberg vorbehalten. | |
„Der Deutsche Orden handelte nur mit Rohbernstein“, sagt Andrej Gerszewski, | |
Historiker im Bernsteinmuseum in Danzig. Dass Untertanen, die Bernsteine | |
für sich behalten hatten, zur Strafe am Strand gehängt wurden, sei aber | |
eine Legende – oder eine Fehlinterpretation aus alten Stichen. Was auf | |
ihnen wie Galgen aussah, seien Balken gewesen, die als Seelichter dienten, | |
so der Experte. | |
Unterdessen fischt Strzelczyk weiter nach dem Gold der Ostsee. Ein schickes | |
Fundstück hat er schon in der Tasche: versteinertes Holz. Daraus will er | |
einen Kettenanhänger machen. | |
Als Zbigniew Strzelczyk die Bernsteinsuche für heute schon aufgeben will, | |
verfängt sich im Kescher doch noch ein beachtliches Stück. „Man darf nie | |
aufgeben“, sagt der Fischer und lacht. | |
27 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Beate Schümann | |
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