# taz.de -- Atheismus an der Uni Göttingen: Gottlose Forschung | |
> Die Geschichte des atheistischen Denkens ist lang, aber wenig erforscht. | |
> Das will unter anderem das historische Seminar der Uni Göttingen ändern. | |
Bild: Offensiver Atheismus: Ein gottlos Glücklicher auf dem Evangelischen Kirc… | |
Göttingen taz | Für Glaubensfragen ist an der Göttinger Universität in der | |
Regel die Theologische Fakultät erster Ansprechpartner. Ihre 15 Professuren | |
sollen die doppelte Besetzung aller klassischen Disziplinen der Theologie | |
und darüber hinaus Forschung und Lehre in Spezialdisziplinen wie Judaistik, | |
Kirchenrecht und Theologischer Ethik gewährleisten. Doch ein zentrales | |
Glaubensthema fehlte bislang – der Atheismus. | |
Wer hierzu nach wissenschaftlicher Expertise suchte, wurde an der Georgia | |
Augusta nicht fündig. Das soll sich nun ändern. Ein neues internationales | |
Forschungsnetzwerk, das an der Uni angesiedelt ist, beschäftigt sich mit | |
der Entwicklung des Atheismus und den Formen des Unglaubens in der | |
europäischen Neuzeit. | |
Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus neun Ländern | |
untersuchen dabei, wie der Atheismus zwischen den 1860er- und 1940er-Jahren | |
nicht nur als intellektuelle Haltung, sondern auch als gelebte Erfahrung | |
und organisierte soziale Bewegung in Europa entstanden ist. | |
[1][Atheismus (altgriechisch: „ohne Gott“) bezeichnet die Überzeugung, dass | |
es keine Götter gibt]. Zum Atheismus im weiteren Sinne wird mitunter aber | |
auch der Agnostizismus oder agnostische Atheismus gezählt, nach dem eine | |
Existenz von Göttern nicht klärbar – und daher irrelevant ist. Weil | |
wiederum der Agnostizismus unterschiedliche Ansichten vereint, ist seine | |
Zuordnung zum Atheismus allerdings umstritten. | |
## Mehr als ein Fünftel ohne Glauben | |
Wie viele Atheistinnen und Atheisten es auf der Welt gibt, ist unklar. In | |
seiner „Bilanz des Unglaubens“ schreibt der französische | |
Religionshistoriker Georges Minois, es kursierten Unmengen an Zahlen, die | |
allesamt falsch seien. | |
Allenfalls sei aus ihnen zu ersehen, dass mehr als ein Fünftel der | |
Menschheit [2][nicht an einen Gott glaube]. Allerdings präsentierte Minois | |
selbst Schätzungen für das Jahr 1993 – weltweit 1,2 Milliarden Agnostiker | |
und Atheisten – sowie für das Jahr 2000 – etwa 1,1 Milliarden Agnostiker | |
und 262 Millionen Atheisten. | |
Um solche Zahlen geht es dem neuen Netzwerk nicht. Die 16 festen Mitglieder | |
wollen vor allem aufzeigen, „wie atheistische Ideen durch Schriften, | |
Organisationen und alternative Riten wie Jugendweihe oder säkulare | |
Beerdigungen aktiv gelebt und verbreitet wurden“, sagte Mit-Initiatorin und | |
-Leiterin der Forschungsgruppe, Carolin Kosuch vom Seminar für Mittlere und | |
Neuere Geschichte der taz. | |
„Darüber hinaus untersuchen wir, wie Atheisten oft als Bedrohung der Moral | |
oder der öffentlichen Ordnung wahrgenommen wurden und wie sich diese | |
Wahrnehmungen im Zuge breiterer gesellschaftlicher Veränderungen | |
wandelten.“ | |
## Atheismus hat eine lange Geschichte | |
[3][Die Wurzeln des Atheismus] reichen bis in die Antike zurück. Die Epoche | |
des Mittelalters war nicht nur eine Zeit großer Religiosität, sondern auch | |
stark von Glaubensformen geprägt, die mit den kirchlichen Lehren | |
konkurrierten. Renaissance, Humanismus und Aufklärung stärkten dann den | |
Skeptizismus gegenüber religiösen Dogmen. | |
Im 17. und 18. Jahrhundert wurden vor allem Anhänger des niederländischen | |
Philosophen Baruch de Spinoza als Atheisten diffamiert: Ihm zufolge ist | |
Gott eine mit der Natur identische Substanz. | |
Als Kampfbegriff diente – und dient in den USA teilweise noch immer – die | |
Bezeichnung „Atheist“ zur Diffamierung derjenigen, die zwar an Gott | |
glauben, aber in Einzelaspekten von der herrschenden Gotteslehre abweichen. | |
„Uns war es sehr wichtig, die Geschichte möglichst vieler europäischer | |
Atheismen einzubeziehen“, berichtet Kosuch. Neben | |
Wissenschaftler:innen aus West-, Süd- und Mitteleuropa seien auch | |
Ungarn, Tschechien und skandinavische Länder im Netzwerk vertreten. | |
„Hinzu kommen zu jedem Treffen eingeladene Experten und Expertinnen, sei es | |
aus dem Bereich Digital Humanities, sei es aus der Atheismus- und | |
Religionsforschung, die uns mit ihrem Wissen und ihrer Expertise | |
unterstützen.“ Das Netzwerk wird drei Jahre lang durch die Deutsche | |
Forschungsgemeinschaft mit insgesamt rund 73.000 Euro gefördert. Die | |
Teilnehmenden konferieren – teils in Arbeitsgruppen – online, es sind aber | |
auch Präsenztreffen vorgesehen. | |
Das erste findet im September an der Universität Göttingen statt. Seine | |
Forschungsergebnisse will das Netzwerk 2027 in einer umfangreichen | |
Publikation bündeln. „Wir planen eine englischsprachige Quellenedition, die | |
online verfügbar und mit einem umfassenden wissenschaftlichen Kommentar | |
versehen sein wird“, kündigt Kosuch an. | |
„Unsere Idee war, dass diese Edition Grundlage für weitere Projekte dieser | |
Art sein könnte.“ So könne der Atheismus in der Geschichte Europas | |
dauerhaft die Aufmerksamkeit bekommen, die ihm zusteht. | |
18 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Atheismus-Aktivist-ueber-Anfeindungen/!5729562 | |
[2] /Interview-mit-Religionskritiker/!5129884 | |
[3] https://www.logo.de/atheismus-100.html | |
## AUTOREN | |
Reimar Paul | |
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