# taz.de -- Argentinien vor der Wahl: Stimmungsmache gegen den Staat | |
> Der rechtspopulistische Javier Milei geht als Favorit in Argentiniens | |
> Präsidentschaftswahl am Sonntag. Gerade bei den Jüngeren kommt er gut an. | |
Bild: Javier Milei, Favorit bei den Präsidentschaftswahlen in Argentienien | |
BUENOS AIRES taz | „Ich bin der König in einer verlorenen Welt“, sang | |
Argentiniens aussichtsreichster Präsidentschaftskandidat [1][Javier Milei] | |
bei seinem letzten Auftritt vor der Wahl. In der Gewissheit, es mindestens | |
in die Stichwahl zu schaffen, bot das Spektakel mit seinen Showeffekten | |
inhaltlich nichts Neues. | |
Nur keinen Fehler machen, war die Strategie des selbst erklärten | |
Anarcho-Kapitalisten in der mit überwiegend jungem und männlichem Publikum | |
gefüllten Musikarena. Und so kreiste der 52-Jährige in zahlreichen | |
Variationen um seine zentralen Botschaften von Freiheit, Marktwirtschaft | |
sowie dem Recht auf Privateigentum und schimpfte auf die politische Kaste, | |
die das Land und seine Menschen in den Ruin getrieben hat und, die via | |
Stimmzettel vertrieben werden sollte. | |
Eine nicht enden wollende wirtschaftliche Rezession, eine dreistellige | |
Inflationsrate, eine wachsende Armut und ein unaufhaltsamer [2][Verfall der | |
Landeswährung] sind der Hintergrund für die Präsidentschafts- und | |
Kongresswahlen, die am Sonntag in Argentinien stattfinden. 35,4 Millionen | |
Wahlberechtigte sind aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Es herrscht | |
Wahlpflicht. | |
Drei der fünf Präsidentschaftskandidat*innen haben Chancen auf | |
einen Wahlerfolg. Außer Milei von der libertären Partei La Libertad Avanza | |
(Die Freiheit schreitet voran) sind es Patricia Bullrich von der | |
rechtsliberalen Oppositionsallianz Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den | |
Wechsel), sowie Wirtschaftsminister Sergio Massa von der links-progressiven | |
Regierungsallianz Unión por la Patria (Union für das Vaterland). | |
## Die jüngeren wählen Milei | |
Wenig wahrscheinlich ist, dass einer der drei sich bereits in der ersten | |
Runde durchsetzt. Spannend ist jedoch, wer in die mögliche Stichwahl kommt. | |
Bei den [3][Vorwahlen im August] hatte der Überraschungserste Milei | |
lediglich 630.000 Stimmen mehr erhalten als der Dritte Sergio Massa. | |
„Würden am Sonntag nur die Wahlberechtigten unter 30 Jahre wählen, würde | |
Milei in der ersten Runde gewinnen“, sagt der Politologe und | |
Meinungsforscher Lucas Romero. Junge Menschen, die es schlicht satt hätten, | |
dauernd zu hören, dass alle Politiker egal welcher Couleur die gleichen | |
miesen Versager seien, und die tiefe Frustration der Älteren werde zur | |
Motivation, für jemanden zu stimmen, der verspricht, mit all dem | |
aufzuräumen. „Die große Mehrzahl seiner Wähler ist jung und männlich und | |
kommt aus allen Bildungsniveaus und sozialen Klassen“, so Romero. | |
Es erscheint paradox, dass gerade jene, die eigentlich auf einen starken | |
Staat angewiesen sind, sei es Sozialhilfe, Gesundheit oder Bildung, für | |
einen Kandidaten stimmen, der diesen Staat radikal abbauen will. „20 Jahre | |
lang hat man den Menschen gesagt, dass der Staat sich um ihre Probleme | |
kümmern wird“, sagt Romero. Doch in dieser Zeit habe sich dieser Staat | |
nicht nur als höchst ineffizient erwiesen, sondern sei zu einem | |
überdimensionierten Apparat geworden. | |
„Er wird von vielen nicht mehr als Institution zur Problembewältigung | |
wahrgenommen, sondern als Hindernis für die persönliche und | |
gesellschaftliche Entwicklung, der zudem eine privilegierte Kaste von | |
Politikern und Angestellten alimentiert, während sich ihr eigener soziale | |
Status immer weiter verschlechtert“, fügt der Meinungsforscher hinzu. | |
## Der amtierende Präsident ist verschwunden | |
Während Milei seinem jungen Publikum eine „Revolution der Freiheit“ | |
versprach, setzte Patricia Bullrich zum Abschluss ihres Wahlkampfes | |
abermals auf die Themen Sicherheit und Kriminalität, versprach mehr Polizei | |
auf den Straßen und, dass sie „das Land aus dieser schwierigen Situation | |
herausführen“ werde. Doch so blass wie dieser Satz blieb auch ihr | |
Wahlkampf. Die ehemalige Sicherheitsministerin des Ex-Präsidenten Mauricio | |
Macri konnte kaum jemanden mitreißen. Allerdings präsentierte sie ein | |
kompetentes Schattenkabinett. | |
Sergio Massa hatte den 17. Oktober, den ‚Día de la Lealtad‘ für seine | |
Abschlussveranstaltung gewählt. Am 17. Oktober 1945 waren rund 300.000 | |
Arbeiter und Gewerkschafter zur Unterstützung des inhaftierten | |
Arbeitertribuns Juan Perón auf die Straße gegangen und hatten damit den | |
Grundstein für dessen spätere Präsidentschaft gelegt. Die Peronisten feiern | |
den 17. Oktober jedes Jahr als ‚Tag der Loyalität‘. Dabei waren Präsident | |
Alberto Fernández und Vizepräsidentin Cristina Kirchner die großen | |
Abwesenden an diesem Tag. | |
Die Peronistische Partei ist auf der Suche nach einer neuen Führungsriege | |
über den Wahlsonntag hinaus. Fernández ist fast völlig von der Bildfläche | |
verschwunden, seit er im April ankündigte, dass er nicht zur Wiederwahl | |
antreten werde, und Cristina Kirchner hält sich aus dem Wahlkampf heraus. | |
Seit Wochen schwingt Sergio Massa das Zepter, als wäre er der amtierende | |
Präsident. | |
In seiner Rede nannte er weder den Namen des Präsidenten noch den der Vize. | |
Ebenso wenig nahm er das Wort Inflation oder Armut in den Mund. Stattdessen | |
versprach er einen „präsenten und effizienten Staat“, der sozialen Schutz | |
und eine öffentliche Bildung garantiere, ganz im Gegensatz zu Mileis | |
marktradikalen Ankündigungen. | |
## Trump, Bolsonaro… Milei? | |
Bei Vergleichen von Milei mit den Ex-Präsidenten Donald Trump und Jair | |
Bolsonaro zeigen sich Unterschiede. Zwar behaupten alle drei, Außenseiter | |
und gegen das Establishment zu sein, aber ihre Wege nach oben sind äußerst | |
verschieden. Trump hatte sich innerhalb der Republikanischen Partei | |
durchgesetzt und dann die Kontrolle über die Partei übernommen. Als Chef | |
einer internationalen Holdinggesellschaft hatte er zudem Führungserfahrung. | |
Bolsonaro war lange Zeit Abgeordneter und bekleidete verschiedene | |
öffentliche Ämter. Obwohl er lange kein relevanter politischer Akteur war, | |
gelang es ihm, durch Bündnisse mit anderen politischen Akteuren, den | |
Streitkräften, den Evangelikalen und den großen Agrarproduzenten ins | |
Präsidentenamt zu gelangen. Bei Milei findet sich nichts Dergleichen. Er | |
ist ein Ziehkind der Medien. Er hat weder relevante Parteibündnisse | |
geschmiedet noch religiöse Unterstützer. | |
Ganz im Gegenteil. Seit Wochen liegt Milei mit der in Argentinien | |
einflussreichen katholischen Kirche im Clinch, nachdem er ihre Doktrin der | |
sozialen Gerechtigkeit als kommunistischen Auswurf kritisiert hatte. | |
Priester aus den Armenvierteln um Buenos Aires zelebrierten Anfang | |
September eine öffentliche Messe gegen ihn. Vergangenen Montag meldete sich | |
gar der argentinische Papst aus Rom zu Wort. Zum einen sei er kein | |
Kommunist und: „Es gibt nur einen Messias, alle anderen sind Clowns“, sagte | |
Papst Franziskus. | |
21 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
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