# taz.de -- Anti-Atom-Menschenkette: Erfolgreicher Größenwahn | |
> Rund 120.000 Teilnehmer auf 120 Kilometern zwischen Krümmel und | |
> Brunsbüttel: Dank guter Organisation war die Menschenkette fast überall | |
> dicht. | |
Bild: Super gelaufen - die Anti-Atom-Aktion war ein Erfolg. | |
Als Jochen Stay von der Anti-Atom-Organisation Ausgestrahlt im vergangenen | |
November erstmals die Idee aufbrachte, Krümmel und Brunsbüttel mit einer | |
Menschenkette zu verbinden war die Skepsis groß. Zwar hatte die Bewegung im | |
Herbst schon 50.000 Demonstranten nach Berlin mobilisiert, zwar brachte die | |
neue schwarz-gelbe Regierung mit ihrem Pro-Atom-Kurs immer mehr Menschen | |
gegen sich auf. | |
Und dennoch: Eine 120 Kilometer lange Strecke durch teilweise dünn | |
besiedeltes Gebiet am nördlichen Ende der Republik komplett mit Menschen | |
füllen zu wollen, erschien manchen Mitstreitern doch als Größenwahn. Dass | |
für den gleichen Termin dann auch noch zwei weitere Großveranstaltungen in | |
Biblis und Ahaus geplant wurde, trug nicht gerade zur Beruhigung bei. | |
Doch Jochen Stay ließ sich nicht beirren. "Die Aktionsform Menschenkette | |
spricht schließlich ganz andere Bevölkerungskreise an", sagte er. "Viele | |
Menschen können teilnehmen, indem sie einfach vor die Haustür treten." Die | |
Zahl der Organisationen, die die Menschenkette unterstützten, nahm | |
kontinuierlich zu, die Mobilisierung im Internet und auf der Straße lief | |
auf Hochtouren. Dass rund 15.000 Menschen mit Bussen und Sonderzügen | |
anreisen würden, wussten die Veranstalter durch die Anmeldungen. | |
Dass sich mindestens ebensoviele aus der Region anschließen würden, davon | |
gingen sie fest aus. Das würde langen, um alle vier Meter jemanden stehen | |
zu haben - aber nur, wenn alle gleichmäßig verteilt sind. Um Abstände zu | |
überbrücken, werden 30.000 gelbe Bänder von je 2 Meter Länge produziert, | |
die in Bussen und an der Strecke verkauft werden sollen. | |
Als es am Samstag endlich so weit ist, herrscht nicht nur bei den | |
Organisatoren Hochspannung, sondern auch bei den Teilnehmern. Denn einen | |
Überblick über das gesamte Geschehen hat bei dieser Aktionsform niemand. | |
Gut war die Stimmung überall dort, wo sich schon früh abzeichnete, dass die | |
Kette geschlossen würde. In Hamburg St. Pauli schließt sich die Kette schon | |
um 14 Uhr - eine halbe Stunde vor dem vorgesehenen Termin. | |
Auch an den umliegenden Sammelpunkten werden keine Menschen mehr benötigt, | |
um die Kette dicht zu kriegen, gibt einer der Koordinatoren bekannt. Mit | |
Trommeln, Trillerpfeifen und La-Ola-Wellen heizen die Atomkraft-Gegner die | |
Stimmung an, während weitere Teilnehmer dazustoßen. Auf der Holstenstraße | |
läuft die Kette bereits in Schlangenlinien, damit mehr Menschen Platz | |
finden. Statt zur Kettenverlängerung werden die gelben Bänder hier nur als | |
modisches Accessoire eingesetzt. | |
Zwischen Brokdorf und Brunsbüttel werden sie hingegen tatsächlich | |
gebraucht. Nachdem die in Bussen angereisten Teilnehmer zunächst noch | |
skeptisch registrierten, dass sich auf dem Deich mehr Schafe als Menschen | |
befinden, füllt sich das Gebiet bis 14.30 Uhr auch hier so weit, dass | |
zumindest mit Bändern und zusammengeknoteten Kleidungsketten eine | |
geschlossene Kette entsteht. | |
Jubel brandet auf, als sechs Fallschirmspringer mit Raubomben und | |
Transparent nahe Brunsbüttel am Deich landen. In der Nähe von Glückstadt | |
reihen sich die ehemaligen Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) und Sigmar | |
Gabriel (SPD) in die Kette ein und versichern, dass sie am einst gemeinsam | |
beschlossenen Ausstieg festhalten werden. | |
Auch östlich von Hamburg ist die Kette weitgehend dicht: Rund um das | |
Atomkraftwerk Krümmel dominieren die 70 Traktoren und Gespanne, die in zwei | |
Trecks aus dem Wendland angereist sind. In Geesthacht reihen sich Reiter | |
mit ihren Pferden zwischen Anwohner, die ihren Grill im Vorgarten für die | |
Teilnahme an der Kette nur kurz verlassen müssen. | |
Nicht komplett gelungen ist der Kettenschluss rund um den nordöstlichen | |
Vorort Pinneberg. Auch mit Schals und Transparenten sind die Lücken hier | |
nicht zu schließen. Bei den Teilnehmern macht sich Enttäuschung breit. Aber | |
nur so lange, bis um kurz nach 15 Uhr durchs Megafon die Teilnehmerzahl | |
durchgegeben wird, die die Veranstalter zuvor aus den Angaben von 124 | |
Streckenposten per SMS ermittelt haben: Aus 120.000 Menschen soll die Kette | |
demnach bestanden haben. | |
Die Zweifel, die an den weniger dicht besetzten Streckenabschnitten auch | |
unter den TeilnehmerInnen zunächst noch bestehen, verschwinden spätestens | |
in dem Moment, als die Polizei diese Größenordnung bestätigt und zunächst | |
ebenfalls von 120.000, später dann von rund 100.000 Menschen spricht. | |
Jetzt endlich fällt auch die Anspannung von Jochen Stay ab. Auf der Bühne | |
an der Hamburger Hafenstraße spricht er stolz und optimistisch über die | |
Protestbewegung. Und natürlich über die nächsten Pläne, etwa im Herbst in | |
Gorleben: "Ich hoffe, dass wir den Weg vom Protest zum Widerstand | |
schaffen." | |
26 Apr 2010 | |
## AUTOREN | |
L. Kaiser | |
J. Kahlcke | |
M. Kreutzfeldt | |
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