# taz.de -- Anselm-Kiefer-Retrospektive in London: Lebenslang Nachkriegskünstl… | |
> Die Ästhetik der Zerstörung hat Anselm Kiefer nie losgelassen. Die Royal | |
> Academy of Art in London widmet ihm eine große Retrospektive. | |
Bild: Im Innenhof der Royal Academy of Art in London begegnet man der Installat… | |
Die Ankunft erfolgt über das Meer, wie es sich gehört als eine Referenz für | |
die britische Nation der Seefahrer. Nicht weit vom Trafalgar Square und dem | |
Waterloo Place entfernt liegt die Royal Academy of Arts in London. Dort | |
beginnt eine große Retrospektive für Anselm Kiefer im weiten Hof mit zwei | |
Vitrinen, die den Seeschlachten der Weltgeschichte gewidmet sind. U-Booten | |
gleich schweben bleierne Hülsen durch das Sonnenlicht oder sind auf den | |
Grund aus gesprungener Erde gesunken. | |
Das ist ein ebenso melancholisches wie poetisches Bild, das großen Abstand | |
hält zum konkreten Leiden der auf See Gestorbenen. Dazwischen treiben die | |
Daten historischer Seeschlachten, die, auf graue Leinwand geschrieben, | |
mystische Rechenspiele behaupten: „Seeschlachten wiederholen sich alle 317 | |
Jahre oder deren Vielfachen.“ Geht es doch um nichts weniger als den ganzen | |
Echoraum der erfassten Geschichte. | |
Damit ist schon eines der Motive klar, das die Kuratorin Kathleen Soriano | |
in ihrem Blick auf Anselm Kiefer stark macht. Er ist ein Künstler, der den | |
Schauplatz seiner Nachkriegskindheit nie verlassen hat. Keiner der drei | |
Essays im Katalog kommt ohne die Erzählung darüber aus, wie der im März | |
1945 geborene Künstler in zerbombten Häusern spielte und sich an | |
Familienerzählungen über den Wald als Versteck der letzten Kriegstage | |
erinnerte. Hier schon beginnt die sinnliche Nähe zu Lehm und Holz, zwei der | |
Materialien, deren Transformationen in seinen Werken eine große Rolle | |
spielen. Und ebenso die Beschäftigung mit der Kraft der Zerstörung als | |
ästhetischem Mittel. | |
## Der Mann, dem ein Zweig aus der Brust wächst | |
Wie ein Nukleus umfasst dann der erste Ausstellungsraum, der frühen | |
Arbeiten Kiefers aus den sechziger, siebziger Jahren gewidmet ist, alle | |
Themen, die man in den elf folgenden, großenteils chronologisch geordneten | |
Sälen abschreiten kann. Der liegende Mann, dem ein Zweig aus der Brust | |
wächst in einem Aquarell von 1971, wird einem noch oft begegnen unter einem | |
weit aufgespannten nächtlichen Himmel oder unter schwarzen Sonnenblumen. | |
Ebenso der blutbefleckte Schnee, Metapher für eine Landschaft, die erstarrt | |
und abgestorben scheint angesichts der Schrecken, deren Zeugen sie wurde. | |
Und vor allem die Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus, gegen | |
deren Beschweigen Kiefer Ende der sechziger einen performativen Akt setzte, | |
sich selbst in der Pose des Hitlergrußes fotografierte, in Uniform oder im | |
langen Strickkleid, vor Denkmälern und historischen Kulissen. | |
So stellte er seine Selbstbefragung aus und paraphrasierte das | |
Eingeständnis für die Empfänglichkeit heroischer Inszenierungen in Gemälden | |
nach den Fotografien. Diese frühen Bilder lassen aber zugleich mehr Skepsis | |
und Ironie gegenüber dem Bedürfnis nach Größe erkennen als viele der | |
späteren Bilder. | |
## Der Zerfall des Heroischen | |
Dass Anselm Kiefer selbst in seinen skulpturalen Landschaften und Bildern | |
dem Drang zum Monumentalen verfalle, ist ein Vorwurf, der vor allem in der | |
Rezeption in Deutschland gegen ihn erhoben wird. Die Retrospektive ficht | |
das erst mal nicht an. Die hohen, repräsentativen Säle der Royal Academy of | |
the Arts hungern ja geradezu nach solchen Formaten, nicht selten drei mal | |
fünf Meter, und nehmen sie mühelos auf. Man wandert hier gelassen vorbei am | |
Zerfall des Heroischen, ob die Gemälde nun die Architektur der Nazis oder | |
ägyptische Pyramiden zitieren. | |
Was der Ausstellung aber fehlt, ist die Vermittlung der Elemente des | |
Chaotischen und der Verunsicherung im Prozess der Entstehung der Werke. Die | |
Texte im Katalog, zum Beispiel von Richard Davey, der Kiefer in seinem | |
Atelier, einem ehemaligen Warenhaus nahe Paris, besucht hat, beschwören | |
solche Momente, in denen der Künstler, streifend durch einen unendlich | |
wuchernden Wust von Werken und Materialien, sich mitten im Sinnlosen | |
wiederfindet, fremd seinem eigenen Werk gegenüber. | |
## Das Leiden der Bildkörper | |
Wenn Kiefer seine Leinwände Feuer und Säure aussetzt, vergräbt oder über | |
Jahre in Container verschließt und den Bildkörper einem stellvertretenden | |
Leiden unterwirft, hat das immer auch etwas von Kampf, vom vielleicht auch | |
verzweifelten Suchen nach einer bedeutungstragenden Schicht. | |
Die Gedichtzeilen, oft von Paul Celan, die Kiefer auf viele seiner | |
Leinwände schreibt, werden nur zu leicht als inhaltliche Deutungsmuster und | |
Richtungsweiser gelesen. Ist es nicht enttäuschend, wenn damit am Ende das | |
eigentliche Ereignis der Bilderwerdung, das Entstehen der schweren Krusten | |
aus Erden und Farben, das Zusammenbacken ihrer Atome in unter chemischen | |
Aspekten nicht selten experimentellen Bedingungen, zurückgedrängt wird? | |
Man könnte ein solches Gefühl von Vergeblichkeit in eine Installation | |
hineinlesen, die Kiefer für einen gekuppelten Saal der Academy entworfen | |
hat. Unter goldgefassten Nischen mit Büsten von Sponsoren und Künstlern der | |
Akademie-Geschichte erhebt sich eine Pyramide aus scheinbar achtlos | |
gestapelten Leinwänden. Dazwischen geschoben sind Klumpen aus ungestaltem | |
Lehm und trockene Sonnenblumen, die immer wieder als Symbol von | |
Vergänglichkeit und Wiedergeburt auftauchen. Rings um den Berg herum liegen | |
Placken abgeplatzter Farbe, das Kunstwollen ist übergegangen in die | |
Erzeugung von Dreck. Auch so herum gesehen hängt eben alles mit allem | |
zusammen. | |
## Symbolische Überdehnung | |
Der Titel, „Die Erdzeitalter“, und übermalte Fotografien der Installation | |
an den Wänden, die Parallelen zwischen den Schichten im Bilderstapel und | |
den Schichten der Erdzeitalter behaupten, greifen dann jedoch wieder sehr | |
ins Weite aus, und diese symbolische Überdehnung macht die Sache letzten | |
Endes eher wieder kleiner als größer. | |
In neueren Interviews und Gesprächen bezeichnet sich Anselm Kiefer manchmal | |
selbst als Zyniker, der die Lust des Menschen an der Zerstörung für eine | |
elementare Komponente des Menschseins hält, die moralisch zu bewerten | |
deshalb wenig Sinn ergibt. Im Umgang mit seinen Materialien, im Horten von | |
Dingen, die nicht zuletzt auch aus realen Kriegen stammen, lebt er diese | |
Faszination durch den Schrecken aus. Aber dort, wo die Werke öffentlich | |
werden, sind sie durch eingeschriebene Wörter, Bezüge zur Mythologie und | |
Poesie, doch wieder abgemildert, in Sinnstiftung eingegliedert oder Gesten | |
der Demut. So viel Überbau, warum tut er nur not? | |
Man kann sich in London, in der Tate Britain, gerade mit einer Bildhauerin | |
der Generation von Anselm Kiefer beschäftigen, die ohne solchen Überbau | |
eine nicht weniger große und doch sehr viel leichtere Installation über | |
mehrere klassizistische Räume hinweggespannt hat. | |
Phyllida Barlow, 1944 geboren, ist in Deutschland kaum bekannt, eher | |
Schüler der Kunstprofessorin wie Rachel Whiteread und Douglas Gordon. In | |
der Tate Britain erstreckt sich noch bis 19. Oktober von ihr eine Arbeit, | |
die ebenfalls die Werkstoffe der Kunst verhandelt, mit Pyramiden aus Latten | |
mit Farbresten, Säulen aus gerollter Pappe und farbigen Klebebändern, | |
beherzt respektlos gegenüber der repräsentativen architektonischen Hülle, | |
deren Größe aber mühelos standhaltend, ohne mythologische Referenzen zu | |
bemühen. Solch eine Durchlässigkeit und auch Alltäglichkeit, in die | |
Gegenwart ohne Anstrengung eindringen kann, wird man bei Kiefer nie finden. | |
## Die Gotik und der Akt | |
Aber auch bei ihm gibt es Überraschungen. In einem der letzten Räume kann | |
man über Vitrinen gebeugt aufgeschlagene Seiten von großen Büchern sehen, | |
die 2013 entstanden sind. Einige haben Seiten aus Blei, auf denen | |
elektrolytische Prozesse prächtige Farben hervorgebracht haben. Andere | |
zeigen unter dem Titel „Die Kathedralen Frankreichs“ Aquarelle, in denen | |
die gotische Architektur von Frauenakten kommentiert und interpretiert | |
wird. | |
Da schießt ein Kirchturm zwischen den Schenkeln einer Frau empor, und das | |
Dunkel in hohen Seitenschiffen lockt wie die gespreizten Schamlippen einer | |
anderen. Das mag eine Altmännerfantasie sein, lässt sich aber auch als ein | |
etwas böser Humor lesen, mit dem Kiefer das Mystische und das | |
Himmelstrebende, das so vielen seiner Arbeiten eigen ist, einmal anders | |
interpretiert. | |
26 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
## TAGS | |
London | |
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