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# taz.de -- Deutscher Großkünstler in Tel Aviv: Unser Kiefer
> Eine große Anselm-Kiefer-Schau weiht den Erweiterungsbau des Kunstmuseums
> Tel Aviv ein. Sie scheint die Rückkehr des Malers nach Deutschland zu
> markieren.
Bild: Ausschnitt von Kiefers Kunstwerk: "Als Arche verließ es die Strasse so w…
Als Anselm Kiefer ein Kind war, tötete er die Hühner auf dem Hof seiner
Eltern. "Wir waren Bauern und haben mühsam unseren Lebensunterhalt
verdient, und sie haben das Gemüse gepickt und beschädigt", erzählte Kiefer
unlängst der israelischen Tageszeitung Haaretz. "Als ich sie umgebracht
habe, dachte ich, das sei gerechtfertigt. Aber danach, als ich auf das Feld
voller Kadaver sah, fühlte ich eine große Scham. Ich hatte Abscheu vor mir
selbst, es war unerträglich. Aber warum hatte ich das getan? Weil ich es
konnte. Nicht nur hat es kein Halten gegeben, sondern sogar Gründe dafür."
Begreift man diese Geschichte als Gleichnis und ersetzt das Wort Hühner
durch Juden, so erhält man die vielleicht wahrhaftigste Antwort auf eine
der wichtigsten Fragen des 20. Jahrhunderts: Warum haben die Deutschen die
Juden ermordet? Kiefers unheimliches Geständnis lässt sich vielleicht nur
zufällig in diesem Sinne lesen, auch wenn der Künstler zweifellos ein
Meister kalkulierter Äußerungen ist. In jedem Fall lässt sich seine
Erinnerung als weiteres Echo der universellen menschlichen Hybris,
Verzweiflung und Schuld verstehen, die Kiefers in jeder Hinsicht enorme
künstlerische Produktion erklärtermaßen antreibt.
Bekannt wurde der Künstler 1968 mit der Arbeit "Besatzungen", einer Serie
von Fotos, die den Kompositionsregeln romantischer Gemälde folgen. Man kann
auf ihnen Kiefer sehen, wie er den "deutschen Gruß" entbietet.
## Anmutung eines Tempels
Am vergangenen Wochenende feierte das Kunstmuseum in Tel Aviv die Eröffnung
seines neuen Anbaus mit einer spektakulären Kiefer-Ausstellung. In Israel
hat man einen derartigen medialen Aufruhr anlässlich eines Kunstereignisses
noch nicht erlebt. Dutzende Journalisten, Sammler, Sponsoren und Kuratoren
aus der ganzen Welt waren vom israelischen Außenministerium eingeladen
worden. Bei der Eröffnung von Haus und Schau hielt Kiefer einen Vortrag,
der einer Bar-Mitzwah-Rede glich.
"Shvirat Ha-Kelim" ist der Titel der Ausstellung und bezeichnet zugleich
eine Installation in der Hauptgalerie des neuen Gebäudes, gebaut von
Harvard-Professor Preston Scott Cohen. Die unterirdisch gelegene
Hauptgalerie korrespondiert mit dem gegenüberliegenden Bunker der
israelischen Armee, der im Volksmund "die Grube" genannt wird.
Kiefer versteht es selbstbewusst, den 900 Quadratmeter großen Raum mit
seinen sieben Meter hohen Decken zu besetzen. Mit seinen Arbeiten erhält
der Neubau die Anmutung eines Tempels. Kiefer hat darin zwei "Häuser"
aufgestellt. In einem der beiden wird "Shvirat Ha-Kelim" gezeigt. Die
Arbeit besteht aus einem Regal voller grauer Bücher aus Blei, auf dem Boden
liegt zerbrochenes Glas.
## Wiederaneignung der Romantik
Kiefer, im März 1945 geboren, stellt zum zweiten Mal in Israel aus. 1983
war er ins Jerusalemer Israel Museum eingeladen worden. "Shvirat Ha-Kelim"
ist Kiefers zentrale Arbeit in seiner Auseinandersetzung mit der jüdischen
Kabbala, die bereits seit drei Jahrzehnten andauert. "Shvirat Ha-Kelim"
bedeutet "Bruch der Gefäße". Gemäß der Kabbala enthielten zehn Gefäße das
göttliche Licht, das nach der Erschaffung der Welt übrig geblieben war.
Doch sie konnten es nicht halten und zerbrachen, die Welt ist seither vom
Chaos bedroht. Die kaputte Welt kann nur durch "Tikkun" repariert und
geheilt werden: Die Aufgabe des Menschen besteht darin, Gutes zu tun.
Von Anfang an galt Anselm Kiefer als einer der herausragendsten Schüler von
Joseph Beuys. Dieser hatte nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes beinahe
allein die deutsche Kunstszene wiederbelebt und seine Kunst als Akt der
Therapie verstanden. Bei der Documenta 7 im Jahr 1982, in deren Verlauf
Beuys seine klassische Ökoarbeit verwirklichte, als er in Kassel 7.000
Eichen pflanzte, hatte Kiefer einen seiner ersten internationalen
Auftritte. Er stellte großformatige Bilder aus, die christliche Symbole,
mythologische Figuren der deutschen Geschichte und monumentale
Architekturen in ruinösem Zustand zeigten.
Kiefers monumentale Landschaftsmalereien in Braun, Grau und Schwarz und
ihren Zwischentönen bestanden aus Schichten von Erde, Stroh, Sand, Blei,
Glas, Kinderkleidung, Haaren, Bohnen, Erbsen, Zähnen, Möbeln. Es schien,
als wolle er die Romantik wiederbeleben, die von den Nationalsozialisten
besetzt und missbraucht worden war.
Zeitgenössische Kritiker sahen ihn zusammen mit Georg Baselitz und Hans
Jürgen Syberberg anknüpfen an Traditionen, die über den deutschen
Expressionismus, das Wagnersche Pathos, die Ästhetik der Romantik bis zum
Begriff des Erhabenen in der Natur zurückreichten.
## Kein Liebling der Kritiker
Im März 1991 schrieb Eduard Beaucamp, der damalige Kunstkritiker der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung, einen heftigen Verriss über die
Kiefer-Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Was als
triumphaler Empfang im Herzen des neuen, alten Berlin gedacht war, endete
als Fiasko. Beaucamp warf Kiefer vor, der Symbolismus des 19. Jahrhunderts
vergewaltige in seinem Werk die Bildwelt der Moderne. "Er ist kein
Mystiker, sondern ein Mystagoge, kein Fundamentalist, auch kein Hermetiker,
sondern ein ausschweifender Romantiker."
Beaucamp lobte die ästhetische Schlüssigkeit mancher Arbeiten Kiefers, die
allerdings durch "Orgien des Kitschs" wieder infrage gestellt würden.
Kiefer schaffe "das perfekte Bühnenbild, die totale Raumkulisse". Beaucamps
Artikel "Der Prophet und sein Bildertheater" bezog sich unter anderem auf
die israelische Kuratorin Doreet LeVitte-Harten, die Kiefer zum Künstler
krönte, der zum (jüdischen) Propheten und (christlichen) Erlöser zugleich
wird. Kiefers Übervater Joseph Beuys hatte sich mit Letzterem zufrieden
gegeben.
Der zweite monumentale Raum in Kiefers aktueller Ausstellung ist Goethes
Gedichten aus dem "West-Östlichen Diwan" gewidmet. Es besteht aus 54 großen
Panelen, die auf zwei gegenüberliegenden Wänden in jeweils drei Reihen
angebracht sind. Sie folgen der typischen Herangehensweise Kiefers,
poetische Verfahren wie die Metapher auf Bilder und Skulpturen anzuwenden.
Die Panele geben sich als rostige Landschaftsmalerei und bestehen aus dem
bekannten Vokabular: getrocknete Blumen, Dornen, Farne voller Harz,
getrocknete Erde, Öl und Blei. Auf die Stirnwand hat Kiefer die Namen
muslimischer und jüdischer Philosophen geschrieben. Auch die anderen Werke
hat Kiefer mit lateinischer Schreibschrift dekoriert und betitelt. Da gibt
es etwa einen Berg voller Bücher, an der Wand steht: "Ararat".
Der Verriss Beaucamps kam zu einem Zeitpunkt, als Kiefers Erfolg bei
Publikum, Sammlern und Museen am größten war. Bald darauf verließ Kiefer
Deutschland und ging nach Frankreich. Beaucamp war in seiner Kritik an
Kiefer nicht allein. Der deutsch-amerikanische Kritiker Benjamin Buchloh
favorisierte Anselm Kiefers Gegenpol: Gerhard Richter. Buchloh bekämpfte
Kiefer von Anfang an als billigen Repräsentanten einer neokonservativen
Bewegung, die nach der Krise der Avantgarde um die Gunst von Publikum und
Markt buhlte.
Buchloh sah Kiefers Kunst beinahe als faschistisch an, weil sie absolute
Behauptungen aufstelle und dabei gänzlich unironisch sei. Während die linke
Nachkriegsintelligenz von ihrer Angst vor dem künstlerischen Genius, dem
Mystischen und dem poetischen Intellekt paralysiert war, insistierte Kiefer
darauf, die Dämonen auszutreiben und den deutschen Genius wiederzufinden.
## Kiefer bekräftigt Aura der Kunst
##
Er habe sich nie dafür interessiert, einen neuen Stil oder eine neue
Sprache der Kunst zu finden, sagte Kiefer kürzlich anlässlich einer
Ausstellung in London. "Ich male, um etwas über mich herauszufinden". Im
Unterschied zu den amerikanischen Malereikünstlern oder einem Gerhard
Richter, dem wichtigsten Künstler der letzten Dekaden, zweifelt Kiefer
nicht an der Authentizität von Bildern. Er bekräftigt die Existenz einer
Aura, die dem originalen Kunstobjekt zugeschrieben wurde.
In Tel Aviv bevölkern fünf Skulpturen von hohlen, lebensgroßen
Frauenkleidern den Raum zwischen den Kieferschen "Häusern". Jede der Frauen
hat einen symbolischen Kopfersatz: ein Planetensystem, eine geometrische
Form, ein weißer Bücherstapel, übereinandergeschichtete Ziegelsteine, und
die unvermeidliche Repräsentation des kabbalistischen Lebensbaums. Diese
Arbeit, die im Raum überzeugender ist als auf den Fotos, die derzeit von
ihr zirkulieren, treffen sich Kiefers schöpferische Ambition, dem Material
Leben einzuhauchen, mit überdeutlichen, illustrativ eingesetzten Symbolen.
Diese Frauen scheinen einem Theaterfundus zu entstammen
Die Verwirrung, die Kiefers Ausstellung beim Betrachter auslöst, gründet
sich in der Unmöglichkeit, diese Kunst einfach von sich zu weisen, in
Distanz zu bringen. Wer vor einem Gemälde wie "Noah" steht, 280 mal 560
Zentimeter groß, sieht sich einer monumental-nebligen romantischen
Landschaft aus Blei, Schellack, Ölfarbe und Acryl gegenüber. Dem Bild
gelingt es, seinen Betrachter zu überwältigen in einer Art und Weise, wie
sie einem Gemälde von Caspar David Friedrich oder einem Film von Steven
Spielberg eigen ist.
Zwei Jahrzehnte nach seiner Umsiedlung nach Frankreich findet Kiefer mit
spektakulären Ideen auch den Weg in die deutsche Öffentlichkeit. In einem
Werkstattgespräch für den Spiegel unterhält er sich mit seinem Freund, dem
Springer-Manager Mathias Döpfner. Er erklärt, dass er den Kühlturm des
stillgelegten Atomkraftwerks Mülheim-Kärlich am Rhein kaufen möchte. Wenn
es ginge, sogar das ganze Kraftwerk inklusive Kuppel. Kiefers zweite
israelische Ausstellung scheint seine Rückkehr nach Deutschland zu
markieren.
6 Nov 2011
## AUTOREN
Tal Sterngast
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Anselm-Kiefer-Retrospektive in London: Lebenslang Nachkriegskünstler
Die Ästhetik der Zerstörung hat Anselm Kiefer nie losgelassen. Die Royal
Academy of Art in London widmet ihm eine große Retrospektive.
Film zum Werk Anselm Kiefers: In Tiefe schwelgen
In ihrem Film "Over Your Cities Grass Will Grow" besucht Sophie Fiennes den
Künstler Anselm Kiefer in Südfrankreich und verfällt seinem Wahnwitz.
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