# taz.de -- Angriffe auf Kopftuchträgerinnen: Gefährliche Sichtbarkeit | |
> Die tätlichen Angriffe auf Muslimas mit Kopftuch in Deutschland häufen | |
> sich. Das ist nicht nur eine Folge des gesellschaftlichen Rechtsrucks. | |
Bild: Macht sie zum Ziel: Durch das Kopftuch wird die Religion der Frauen sicht… | |
Fatima M. steht an einer Bushaltestelle in einer 50.000-Einwohner-Stadt in | |
der Nähe von Freiburg, als ein Mann auf sie zukommt und ihr direkt ins | |
Gesicht schlägt. „Ich war so perplex, dass ich nicht reagieren konnte. Er | |
hat nichts gesagt. Ich weiß nicht, wieso er es getan hat.“ Seit die | |
26-Jährige (Name von der Redaktion geändert) vor vier Jahren für den Beruf | |
hierher zog, sei sie fast täglich mit Diskriminierung und Rassismus | |
konfrontiert. Fatima M. ist mit diesen Erfahrungen nicht allein. Die | |
verbalen und physischen Angriffe auf Kopftuchträgerinnen in Deutschland | |
häufen sich. | |
[1][21. August 2019. Schwerin.] Ein 13-jähriges syrisches Mädchen läuft die | |
Robert-Havemann-Straße entlang. Sie trägt ein helles Kopftuch und einen | |
Schulranzen. Eine bislang unbekannte männliche Person greift das Mädchen | |
an. Sie erleidet mehrere schwere Verletzungen und muss im Krankenhaus | |
ärztlich versorgt werden. Ihr mutmaßlicher Angreifer ist ein erwachsener | |
Mann. | |
[2][28. Juni 2019. Eine Bushaltestelle in Moabit, Berlin.] Eine 51-jährige | |
Frau wird von einem 38-jährigen Mann angegriffen. Er versucht ihr das | |
Kopftuch vom Kopf zu reißen. Eine der üblichsten Übergriffe auf Muslimas, | |
wie das Berliner Register zur Erfassung rechtsextremer und | |
diskriminierender Vorfälle feststellt. Die Frau setzt sich zu Wehr. Als der | |
Angreifer zum Schlag ausholt, stellt sich eine Zeugin schützend vor die | |
Frau und verhindert so Schlimmeres. | |
Es sind nur drei Vorfälle von vielen. Das Bundesministerium des Inneren | |
zählt in seinem Jahresbericht 2018 zu [3][„Politisch Motivierter | |
Kriminalität“ (PMK)] 910 Straftaten mit islamfeindlichem Hintergrund, 92,3 | |
Prozent davon fielen in den Bereich PMK-rechts. In einem Großteil der Fälle | |
wird eine Frau Opfer des Übergriffs sein. | |
## Hohe Dunkelziffer | |
Gabriele Boos-Niazy, Vorstandsvorsitzende des [4][Aktionsbündnis | |
muslimischer Frauen e. V.] spricht von einer Verschärfung der Situation. | |
„Die derzeitige Zunahme von Übergriffen hängt für uns ganz klar mit einer | |
breiten Erosion des Rechtsverständnisses zusammen. Wichtige | |
gesellschaftliche Akteure machen es vor, weite Teile der Bevölkerung werden | |
davon beeinflusst. So werden selbst von den Betroffenen manche | |
Diskriminierungen als so normal empfunden, dass sie sich nicht mehr | |
thematisieren.“ Das Kopftuch sei nun mal nicht zu übersehen, sagt | |
Boos-Niazy. Dadurch würden Frauen schneller in die Schusslinie rechter | |
Übergriffe geraten als Männer. „Viele Frauen bemühen sich bereits, | |
Bindearten zu finden, die man nicht auf Anhieb als religiös motiviert | |
erkennt.“ | |
Antimuslimischer Rassismus ist in der Bundesrepublik zunehmend | |
gesellschaftsfähig, wie die Leipziger Autoritarismus-Studie der | |
Heinrich-Böll-Stiftung nahelegt. Im Osten Deutschlands überschritt im Jahr | |
2018 die Zustimmung zu ausländerfeindlichen Aussagen die 30-Prozent-Marke. | |
Im Westen waren es über 20 Prozent. Im Jahr 2014 stimmten 36,5 Prozent der | |
Befragten dafür, Muslimas und Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland zu | |
untersagen. | |
Laut Studie stieg diese Zahl im vergangenen Jahr auf 44,1 Prozent an. Der | |
Rechtsruck schlägt sich auch in der aktuellen Mitte-Studie der | |
Friedrich-Ebert-Stiftung nieder oder einer in diesem Jahr durchgeführten | |
Befragung des Ipos-Instituts. Die befragten Deutschen schätzten den Anteil | |
von Muslimas und Muslimen in der Bevölkerung im Schnitt auf 21 Prozent. In | |
Wahrheit liegt dieser bei 6 Prozent. | |
Die Statistiken zur antimuslimischen Gewalt beschreiben das Problem | |
womöglich noch nicht mal in seinem vollen Umfang. Experten von [5][Claim, | |
der Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit], schätzen die | |
Dunkelziffer auf ein Zwölffaches der bekannten Fälle. Auch der Verband der | |
Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer | |
Gewalt e. V. kritisiert eine Untererfassung rechter Gewalt durch die | |
Polizei. [6][Die staatlich erfassten Zahlen in der PMK seien kein Abbild | |
der Realität.] Sie sind niedriger als die Zahlen der unabhängigen Verbände | |
und zeigen einen weniger deutlichen Anstieg in den vergangenen Jahren. | |
## Volksverhetzung und rassistische Drohungen | |
24. August 2019. Eine Demonstration der rechten Partei Alternative für | |
Deutschland in Hannover. Henryk Stöckl, ein 25-jähriger rechtsextremer | |
Mann, der sich selbst einen „Patrioten und Youtuber“ nennt, streamt die | |
Demonstration via Smartphone. [7][Im Video beleidigt und bedroht er | |
rassistisch] eine junge Frau, die einen Tschador trägt. Die Frau bewegt | |
sich auf ihn zu, will sich vermutlich zu Wehr setzen, ihre Worte im Video | |
gehen unter dem rechtsextremen Gebrüll des Filmers unter. | |
Die anwesenden Beamten intervenieren – und kesseln die junge Frau ein. Als | |
diese sich nicht beruhigt, drücken zwei Beamte die Muslima zu Boden. Die | |
zierliche Frau wird unter den Körpern der uniformierten Beamten förmlich | |
begraben. Stöckl filmt das Geschehen, während er die Frau weiter beleidigt | |
und ihr mit Gewalt droht. Die Polizei scheint das nicht zu Kenntnis zu | |
nehmen oder sich schlichtweg nicht dafür zu interessieren. Zumindest lässt | |
sie den Mann unbeschwert weiter seiner Wege gehen. | |
Die junge Frau muss sich nun wegen des Verdachts des Widerstandes gegen | |
Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung verantworten. Die rassistischen | |
Rufe wollen die Beamten nicht gehört haben. Von Seiten der Pressestelle | |
heißt es: „Die Aussagen des Filmenden sind erst mit der Veröffentlichung | |
des Videos bekannt geworden. Der 25-Jährige sprach bei der Aufnahme in ein | |
externes Mikrofon seines Mobiltelefons, sodass es den Einsatzkräften vor | |
Ort – auch aufgrund der Umgehungslautstärke und der Entfernung zu ihm – mit | |
sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht möglich war, die Aussagen akustisch | |
wahrzunehmen.“ Nach Bekanntwerden hat die Kriminalpolizei gegen ihn | |
Ermittlungen wegen des Verdachts der Beleidigung und der Volksverhetzung | |
aufgenommen. | |
Christine Buchholz, Politikerin der Linken und Mitglied des Bundestags, | |
sieht bei der Polizei fehlende Sensibilisierung für antimuslimische und | |
islamfeindliche Straftaten. Auch der Politik fehle es hier an | |
Problembewusstsein. Sie hat am 27. Juni 2019 im Bundestag eine | |
[8][19-seitige Anfrage] mit dem Titel „Antimuslimischer Rassismus und | |
Diskriminierung von Muslimen in Deutschland“ eingereicht. | |
## Islamfeindliche Straftaten erst seit 2017 separat erfasst | |
Mit der Anfrage verfolgt die religionspolitische Sprecherin der Linken ein | |
konkretes Ziel. „Es gibt einen Antisemitismusbeauftragten und den | |
unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus. Das ist sehr wichtig, es ist | |
höchste Zeit den Phänomenbereich antimuslimischer Rassismus ebenfalls | |
ernsthaft zu behandeln. Da herrscht ein großes Schweigen“, sagt sie im | |
Gespräch mit der taz. | |
„Islamfeindliche Straftaten werden in der PMK erst seit dem Jahr 2017, und | |
auch nur nach erheblichem politischen Drängen, separat aufgeführt“, bemerkt | |
Buchholz. Das sei zu spät und ein weiterer Beweis dafür, dass das Problem | |
gesellschaftlich, wie politisch nicht ausreichend anerkannt ist. | |
Im Aktionsbündnis muslimischer Frauen bemerke man Strukturen hinter der | |
Gewalt: Insbesondere im öffentlichen Raum würden sich die Übergriffe häufen | |
– dabei eher in großen als in kleineren Städten. „Auffällig ist, dass se… | |
junge Mädchen häufiger betroffen sind und in der Regel immer von | |
erwachsenen Männern angegangen werden – kann man sich ein feigeres | |
Verhalten vorstellen?“, sagt Boos-Niazy. | |
Die Frauen würden ihr Verhalten der Angst vor Übergriffen anpassen. „Die | |
Maßnahmen, die Frauen ergreifen, sind: sich eher in der Gruppe bewegen, | |
statt allein. Bestimmte Stadtteile vermeiden, sich in öffentlichen | |
Verkehrsmitteln vorsichtig verhalten. Keine Schuhe mit Absatz tragen, | |
überlegen, ob man wirklich einen langen Rock trägt – all das ist | |
hinderlich, wenn man davonlaufen muss.“ | |
Auch Fatima M. versucht ihren Weg zu finden, mit dem Hass auf der Straße | |
umzugehen: „Manchmal suche ich das Gespräch, versuche Vorurteile | |
aufzuklären und stigmatisierte Denkmuster aufzubrechen. In anderen | |
Situationen, und das sind die meisten, ist es jedoch besser, die verbalen | |
Angriffe einfach zu ignorieren.“ Bei physischen Übergriffen sei sie, wie | |
andere auch, auf die Hilfe anderer angewiesen. Als ihr der fremde Mann an | |
der Bushaltestelle ins Gesicht schlug, schritten Passanten ein und standen | |
ihr zur Seite. Sich ruhig halten und auf Zivilcourage hoffen. Das kann | |
nicht die Lösung sein. | |
5 Sep 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/108746/4354675 | |
[2] https://www.reachoutberlin.de/de/chronik | |
[3] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2019/pm… | |
[4] https://www.muslimische-frauen.de/ | |
[5] https://www.claim-allianz.de/ | |
[6] https://www.verband-brg.de/ankundigung-jahresstatistik-rechte-gewalt-2018-2… | |
[7] https://twitter.com/Tino_Hahn/status/1165631432234086401 | |
[8] https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/112/1911240.pdf | |
## AUTOREN | |
Charlotte Köhler | |
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