# taz.de -- 50 Jahre Putsch in Chile: Der Himmel ist leer | |
> Der schwärmerische Blick auf die Revolutionsbewegungen in Lateinamerika | |
> ist spätestens mit dem Mauerfall 1989 abhandengekommen. | |
Bild: Der brennende Moneda-Palast in Santiago de Chile am 11. September 1973 | |
Der 11. September wird für mich immer mit dem Militärputsch General | |
Pinochets gegen die demokratisch gewählte sozialistische Regierung Salvador | |
Allendes verbunden sein. Sozialismus und Demokratie – alles schien möglich. | |
In Chile – bis zum 11. September 1973. In unserer Ohnmacht angesichts des | |
brutalen Putsches mit tausenden Gefolterten und Ermordeten analysierten | |
wir, ein paar versprengte Spontis in Westberlin, damals mit einem | |
„Autorenkollektiv“ akribisch die Berichterstattung der bundesdeutschen | |
Presse. | |
Von der politisch am rechten Rand angesiedelten Deutschen Zeitung über die | |
Deutsche National- und Soldatenzeitung bis hin zu FAZ, Welt und | |
Süddeutscher Zeitung prägte das Verständnis für den Putsch die | |
Öffentlichkeit. Lediglich Spiegel, Stern und Frankfurter Rundschau bildeten | |
da eine Ausnahme. Wie unsere Eltern Briefmarken, so sammelten wir in den | |
Zeitungen Belege, um „die bürgerliche Presse der BRD als Sprachrohr des | |
westdeutschen Kapitals“ zu entlarven. Auch den Zynismus, mit dem sie über | |
Allende herzog. | |
Während in Bonn zum ersten Mal in der Nachkriegszeit ein | |
sozialdemokratischer Kanzler regierte, fühlten wir uns überflüssig. | |
Achtundsechzig war Geschichte und die Überreste davon atomisierten sich | |
gerade in irgendwelchen maoistischen Sekten oder gingen auf Weltreise. Ich | |
war zwanzig. | |
Auf dem Deckblatt des Buches, in dem die Analyse neben anderen Beiträgen | |
erschien – in einem „bürgerlichen“ Verlag übrigens (Sammlung Luchterhan… | |
–, findet sich eine verfremdete amerikanische Flagge, in der die Sterne zu | |
Hakenkreuzen werden. Davor fahnenschwenkende Demonstranten. Befremdlich. | |
Heute. | |
## Die Linke schien vom Diskurs ausgeschlossen | |
Damals ist mir das gar nicht aufgefallen. Die Linke schien vom öffentlichen | |
Diskurs ausgeschlossen, obwohl in Bonn Willy Brandt regierte, dessen Credo | |
„mehr Demokratie“ zu „wagen“ im Fall des Chile-Putsches jedenfalls nicht | |
dazu führte, dass über Sozialismus und Demokratie in der Öffentlichkeit | |
heftig diskutiert wurde. Die Rechtfertigungen des Militärputsches in den | |
deutschen Zeitungen von FAZ bis – ja auch – Zeit machten sprachlos. | |
Der zweite 11. September, 28 Jahre später, war vor allem ein Bildersturm. | |
Live brannten sich die Filmsequenzen mit den Flugzeugen, die wie Raketen in | |
die Twin Towers flogen, auf unsere Netzhaut, genauso, wie die Menschen, die | |
aus den Fenstern der beiden Wolkenkratzer in den Tod sprangen. Diese Art | |
islamistischer Terror erzeugte „höhere Einschaltquoten als jede | |
Fußballweltmeisterschaft“, sei „inszeniert wie ein Hollywood-Thriller“, … | |
Hans Magnus Enzensberger in seinem Traktat über den radikalen Verlierer. | |
Und wir? Sind wir nicht ähnlich ohnmächtige Zuschauer gewesen wie nach dem | |
Chile-Putsch? Ja und Nein. Immerhin ist das Entsetzen über die | |
Terroranschläge anders als beim Putsch in Chile in der Zivilgesellschaft | |
Konsens gewesen. | |
Auch hat die Linke – und damit ist nicht die Partei gemeint, die diesen | |
Begriff heute okkupiert – von Revolutionen generell Abschied genommen. Sie | |
ist dabei ganz ohne wirkliche theoretische Diskussionen ausgekommen. | |
Spätestens mit dem Mauerfall 1989 verlor der Sozialismus seine Aura einer | |
irgendwie realen Utopie – auch wenn einige Altgenossen aus Ost und Grüne | |
Fundis aus West noch ein paar Jahre brauchten, um sich damit abzufinden. | |
## In El Salvador massakrierte die Guerilla „Abweichler“ | |
Der schwärmerische Blick auf die Revolutionsbewegungen in Lateinamerika war | |
übrigens schon vor 1989 abhandengekommen – auch wenn die linke | |
Öffentlichkeit darüber weitgehend beredt schwieg. So stellte etwa die taz | |
[1][ihre „Waffen für El Salvador“-Geldsammlung“] irgendwann ein, ohne si… | |
über die Gründe in einer öffentlichen Debatte groß zu verbreiten. | |
Wer es wissen wollte, konnte es schon lange zugeben: Im Rückblick sind die | |
lateinamerikanischen Revolutionserfahrungen so finster, dass sie immer noch | |
einer Aufarbeitung harren. In El Salvador hat die Guerilla zunächst eigene | |
„Abweichler“ massakriert, um dann später doch einen historischen Kompromiss | |
mit der Zivilgesellschaft und bürgerlichen politischen Parteien zu | |
versuchen. Einer aus der Guerilla wurde gar Präsident. | |
Doch damals, 1983, als Commandante Ana Maria mit Eispickel – Stalin ließ | |
grüßen –, Schusswaffe und Dutzenden von Stichen in Nicaragua hinterrücks | |
von der eigenen el-salvadorianischen Guerilla gemeuchelt wurde, war es, | |
wenn ich mich recht erinnere, zunächst nur per „Seitenkidnapping“ möglich, | |
an der Auslandsredaktion vorbei, darüber in der taz zu berichten. | |
Damals war die Digitalisierung noch nicht so weit fortgeschritten. Die | |
Vorlagen der Zeitungsseiten mussten noch mit Texten und Bildern beklebt | |
werden, bevor sie in die Druckerei gingen. Auf dem Weg dahin konnte man sie | |
austauschen. Heute wäre das wohl nicht mehr möglich. | |
[2][El Salvador] wird heute weitgehend von kriminellen Banden beherrscht, | |
lebt seit Jahren im Ausnahmezustand. Vom „leuchtenden Pfad“ in Peru, einer | |
anderen Guerillatruppe, wurden ganze Dörfer ausradiert. Lehrer, Pfarrer, | |
Arzt – vor den Augen der Dorfgemeinschaft erschossen. Ihr einstiger, | |
inzwischen verstorbene Anführer Abimael Guzmán hat übrigens über Kant | |
promoviert. | |
## Daniel Ortega klebt an der Macht | |
Und Nicaragua? [3][Revolutionsführer Daniel Ortega] klebt seit 1979 an der | |
Macht. Er ist längst nur noch ein Diktator, der seit Jahren schon auf | |
Studenten schießen lässt, wenn sie für mehr Demokratie auf die Straße | |
gehen. Gerade erst hat der einstmalige Freiheitskämpfer eine Universität in | |
Managua schließen lassen. | |
Die einzigen Revolutionen, die in den letzten 50 Jahren wirklich mehr | |
Zivilgesellschaft gebracht haben und darum erfolgreich waren, sind die in | |
Ostmitteleuropa. In Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und im | |
Baltikum. Denen ging es nicht um Sozialismus. Ihnen ging es um Demokratie | |
und Freiheit. | |
Der Preis dafür war allerdings, dass allzu oft alte kommunistische Kader | |
den wilden Kapitalismus der Anfangsjahre dazu nutzten, sich selbst zu | |
bereichern und heute als Oligarchen – nicht nur in Russland – ihr Unwesen | |
treiben. Auch wenn uns manche politischen Ergebnisse dieser Entwicklung | |
heute nicht gefallen – die politische Rückkehr dieser Länder nach Europa | |
ist die Voraussetzung unseres friedlichen, zivilen und freiheitlichen | |
Zusammenlebens. | |
Putin will dieses Europa der Demokratie, der Zivilgesellschaften, der | |
Gewaltenteilung, der Kompromisse, der europäischen Integration nicht. | |
Deshalb führt er Krieg gegen die Ukraine. Er meint damit ganz Europa. Sein | |
Politikmodell ist das von Pinochet, erweitert um Großmachtträume. | |
Putin lobte Pinochet | |
Es ist mehr als ein Gerücht und eine billige Pointe, dass der russische | |
Diktator Anfang der 90er Jahre – damals war er noch irgendwas in St. | |
Petersburg – vor einer Delegation von Wirtschaftsvertretern und | |
Journalisten aus Deutschland Pinochets Putsch in höchsten Tönen lobte, ihn | |
gar als Fahrplan für einen Putsch Jelzins in den Raum stellte. Bei Google | |
finden sich genügend seriöse Belege dafür! [4][Sogar das Neue Deutschland | |
berichtete darüber.] | |
Dann gibt es da noch ein anderes Gerücht aus der Allende-Zeit in Chile, das | |
allerdings weniger belegbar ist. Danach hat Fidel Castro 1971 einen mehrere | |
Wochen dauernden Staatsbesuch in Chile absolviert. Reiste durchs Land und | |
hielt Revolutionsreden. Allende soll sich nach ein paar Tagen gefragt | |
haben, wie er ihn wieder loswird, da er – im Gegensatz zu Castro – immer | |
auf der Suche nach historischen Kompromissen mit den Christdemokraten war. | |
Gleichwohl stellte er ihm für seinen Aufenthalt einen Sicherheitsmann. | |
Dieser Personenschützer soll niemand anderes gewesen sein als Pinochet. | |
Kubas „Maximo Leader“ und sein Leibwächter sollen sich sehr gut verstanden | |
haben. Was das Gerücht glaubwürdig macht: Damals galt Pinochet noch als | |
loyal gegenüber Allende, zum Putschisten-General wurde er erst später. | |
## Die Demokratie braucht ein Bürgertum | |
Der 11. September in diesem Jahr lässt mich angesichts Putins Krieg gegen | |
die Ukraine schon wieder auf ähnliche Weise zum ohnmächtigen Zaungast | |
werden wie 1973 Pinochets Putsch. Die Öffentlichkeit war, ähnlich wie beim | |
Anschlag auf das World Trade Center, schnell einig in ihrer Ablehnung von | |
Putins Krieg. | |
Doch Öffentlichkeit scheint in ihrer kakofonischen, immer mehr durch | |
sogenannte soziale Medien geprägten Form den Hang zu haben, sich selbst zu | |
zerstören und sich ihrer Wirkung zu berauben. Dabei wird sie in | |
organisierter Form genauso gebraucht wie gesellschaftliche Organisationen | |
und Parteien, die möglichst viele gesellschaftliche Kräfte einbinden. | |
Es braucht in gewisser Weise auch ein selbstbewusstes Bürgertum, damit die | |
Demokratie funktioniert. Die Öffentlichkeit und damit die Gesellschaft | |
zerfällt aber schon seit Jahren in sich gegenseitig abschottende digitale | |
Blasen. So wurden die politischen Ränder immer stärker, so lehnen immer | |
größere Gruppen den öffentlichen Diskurs als Plattform der Demokratie ab. | |
Manch einer an den Rändern träumt davon, das mühsame Aushandeln politischer | |
Kompromisse gegen ein autoritäres Regime auszutauschen – vielleicht sogar | |
gegen Generäle, Guerilleros, Putschisten, Autokraten, Diktatoren. Der | |
Himmel ist leer. | |
Max Thomas Mehr, Jahrgang 1953, ist Autor und Journalist. 1978 hat er die | |
taz mitgegründet. Heute hält er die Revolutionen Ostmitteleuropas nach dem | |
Mauerfall für die einzigen erfolgreichen der letzten Jahrzehnte. | |
11 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /taz-sammelte-Kohle-fuer-Knarren/!5032854 | |
[2] /El-Salvador/!t5007554 | |
[3] /Daniel-Ortega/!t5328888 | |
[4] https://www.nd-aktuell.de/artikel/461493.pinochet-als-vorbild.html | |
## AUTOREN | |
Max Thomas Mehr | |
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