| # taz.de -- 440. Todestag von „Don Quijote“-Autor: Was von Miguel de Cervan… | |
| > Vor 400 Jahren verstarb Miguel de Cervantes. Ist der Dichter des „Don | |
| > Quijote“ noch kurz vor seinem Tod zum katholischen Reaktionär geworden? | |
| Bild: Cervantes hinterließ seine Romane – und wohl diese Überreste. Erst 20… | |
| Anseinem Lebensabend – er sollte am 23. April 1616 sterben – war Miguel de | |
| Cervantes nach einem abenteuerlichen Leben einer geistlichen Bruderschaft | |
| beigetreten und hatte mit Mühe sein letztes Werk, den Roman „Die Mühen und | |
| Leiden von Persiles und Segismunda“, abschließen können. Das Buch | |
| beschreibt die Reise eines Paars aus dem äußersten Norden nach Rom, dem | |
| Sitz des Vatikans. | |
| Dieses letzte, ein Jahr nach seinem Tod gedruckte Buch ist als Bekenntnis | |
| zum katholischen Glauben und zum Zeitalter der Gegenreformation gelesen | |
| worden. Sollte der große Dichter am Ende tatsächlich den Humanismus seiner | |
| früheren Jahre hinter sich gelassen und seinen Frieden mit einem | |
| monolithischen Denken gemacht haben, das alles Fremde ausgrenzen wollte und | |
| die Menschen sich von der Welt abkehren und am Jenseits ausrichten hieß? | |
| Cervantes muss wohl anders erinnert, und er muss neu gelesen werden, damit | |
| er als Gestalt begriffen werden kann, die für Offenheit gegenüber dem | |
| Anderen steht, am Diesseits orientiert ist und eine berührende | |
| Menschlichkeit vermittelt. Eine der eindrücklichsten Szenen im „Don | |
| Quijote“, seinem Hauptwerk, setzt die Begegnung zwischen Sancho Panza, dem | |
| Knappen des Ritters von der traurigen Gestalt, und dem Morisken Ricote in | |
| Szene. | |
| Ricote gehört zu jenen maurischen Mitbürgern, die 1609 aus Spanien | |
| vertrieben wurden. Nun ist er mit anderen Pilgern verkleidet in die alte | |
| Heimat zurückgekehrt, um Almosen zu erbetteln. Auf offenem Feld kreuzen | |
| sich ihre Wege, und Sancho und Ricote erkennen sich nach einem Zögern | |
| wieder: Sie waren einst gute Nachbarn gewesen. | |
| ## Utopie der Verständigung | |
| Die Wiederbegegnung ist bewegend, weil Ricote nach wie vor an Spanien hängt | |
| und das ehemalige Zusammenleben der verschiedenen Kulturen dem Leser nun | |
| wie ein fernes Glück erscheint. Die Pilger laden Sancho zu einem Mahl unter | |
| freiem Himmel ein, der Einheimische und die Fremden verbrüdern sich; sie | |
| sind compañeros im etymologischen Wortsinn: Sie teilen untereinander das | |
| Brot. Zum Schluss brechen sie in unterschiedliche Richtungen auf, aber der | |
| Dichter hat noch einmal die Utopie einer Völkerverständigung aufblitzen | |
| lassen. Thomas Mann hat in seinem Essay „Meerfahrt mit Don Quijote“ diese | |
| Szene wortreich bewundert. | |
| Cervantes’Roman ist insbesondere darum von epochalem Rang, weil er die | |
| unweigerliche Heraufkunft der Neuzeit ins Bild setzt. Es ist ein durch | |
| Handel und Wandel bestimmtes, wissenschaftliches, auf Empirie bedachtes | |
| Zeitalter. Don Quijote begegnet unterwegs auch einer Gruppe von Händlern, | |
| die in Murcia Seide kaufen wollen, und fordert die Verdutzten auf, ein | |
| Bekenntnis abzulegen, dass seine Herzenskönigin, Dulcinea del Toboso, die | |
| anmutigste Schönheit sei. Die Händler begehren ein Bild von ihr zu sehen, | |
| aber Don Quijote, in seiner Verranntheit in die Idee, besteht darauf, dass | |
| sie glauben, ohne zu sehen. Cervantes – und das wurde vielleicht erst viel | |
| später deutlich – zeigt auf, dass der alte Glaube, die alte Metaphysik | |
| einen Riss erhalten hat. Er registriert die neue, säkular gewordene Zeit, | |
| setzt ihr gleichwohl doch auch Wehmut entgegen. Es schmerzt, dass die | |
| nüchterne Wirklichkeit dabei ist, die Ideen des Guten und Wahren zu | |
| verdrängen. Mit dieser Zerrissenheit schuf der Dichter ein die Jahrhunderte | |
| überdauerndes Symbol für das Menschsein. | |
| Cervantes behauptet, einen Großteil seines Manuskripts aus der Schrift des | |
| arabischen Historikers Cide Hamete Benengeli übernommen zu haben. Obwohl | |
| dieser einer feindlichen Kultur angehört, gewährt der Spanier dem Fremden | |
| die zeitweilige Federführung. Dabei kommt es zu der für den Dichter so | |
| zentralen Figur der Reflexion, die später Friedrich Schlegel am „Quijote“ | |
| insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses des zweiten Teils des Romans | |
| zum ersten hervorheben sollte. Der Name Cide Hamete Benengeli bedeutet auf | |
| Arabisch einen Hinweis auf den Hirschen, der auch im Namen Cervantes | |
| steckt; der Dichter spiegelt sich im Anderen, in der Transgression bewahrt | |
| sich sein Ich. Schon am Ursprung ist Reflexion, wie ja der Roman insgesamt | |
| dadurch ausgezeichnet ist, dass er als Gespräch zwischen den beiden | |
| Hauptfiguren angelegt ist. Cervantes will das Monolithische sprengen; er | |
| respektiert den Anderen und setzt das Individuum in eine intersubjektive | |
| Struktur. Das macht seine tiefe Humanität aus. | |
| In diesem Werk sind die Menschen oftmals unterwegs, übernachten unter | |
| freiem Himmel oder treffen sich mit anderen in einer Schenke an der | |
| Wegekreuzung; so zum Teil auch in den ebenfalls klassischen „Exemplarischen | |
| Novellen“. Leichtes Gepäck und Reisegefühl. | |
| ## Gegen die eigene Epoche | |
| Beim ersten Ausritt als frischgebackener Caballero lässt Don Quijote sich | |
| treiben, sein Pferd Rocinante wählt den Weg. Er setzt kein Ziel mehr, | |
| steuert nicht mehr, und dieses kleine Detail zeigt, wie der Autor sich | |
| gegen die eigene Epoche sperrt, in welcher der Run auf das Gold der Neuen | |
| Welt eingesetzt hat und die bürgerliche Gesellschaft sich – vor allem im | |
| nördlichen Europa – immer entfesselter an der Vermehrung von Tauschmittel | |
| und Kapital orientiert. Was später die kapitalistische Gesellschaft in | |
| ihrer Gier und Jagd nach Expansion stets konterkarieren und ihr die nötige | |
| Luft zum Atemholen verschaffen wird, der Raum der Kunst – das eröffnet und | |
| behauptet Cervantes in seinem noch einmal nostalgisch auf das Goldene | |
| Zeitalter zurückblickenden Meisterwerk. | |
| Auch in seinem letzten Roman, den „Mühen und Leiden von Persiles und | |
| Segismunda“, setzt der Dichter noch einmal der verloren gegangenen | |
| intellektuellen Offenheit und Multikulturalität ein Denkmal. Mitten in die | |
| fromme Pilgerfahrt nach Rom bricht irrlichterndes erotisches Begehren, das | |
| auch bestehende Paare bedroht, und die säkulare Verstrickung der Individuen | |
| ein. | |
| Die Gesetze des menschlichen Geschmacks, heißt es einmal, sind am Ende | |
| stärker als diejenigen der Religion. Die aus dem Norden stammende | |
| Reisegruppe trifft auf ihrer Fahrt in Lissabon ein. Unter den Portugiesen | |
| bietet sie ein pittoreskes Schauspiel. Mit den Pelzen wilder Tiere | |
| bekleidet, blenden die Frauen und Töchter mit ihren weiblichen Reizen. Der | |
| zum Christentum bekehrte Barbar Antonio trägt Wolfsfälle und ist an Armen | |
| und Beinen nackt. Die unter falschem Namen und als Geschwister reisenden | |
| beiden Liebenden entstammen einem protestantischen Gebiet, können aber auch | |
| von Katholiken ob ihrer unvergleichlichen Schönheit und Wohlgestalt | |
| angestaunt werden. „Alle zusammen und jeder einzelne für sich riefen | |
| Erschrecken und Verwunderung bei denen hervor, die sie sahen.“ | |
| In seinem Abschiedswerk hat der Dichter noch einmal eine Weite erstehen | |
| lassen, die längst im Begriffe stand verloren zu gehen. Er wendet sich | |
| gleichsam noch einmal um zur vergangenen Epoche des Humanismus, in der er | |
| aufgewachsen war, bevor deren Ideen auf unabsehbare Zeit der Restauration | |
| zum Opfer fallen würden. | |
| Cervantes etabliert die Priorität des Menschlichen. Friedrich Schlegel hat | |
| notiert, man könne ihn, wie Shakespeare, nie zu Ende denken. So spricht er | |
| zu unserer Gegenwart, wie er auch noch zu kommenden Generationen sprechen | |
| wird. | |
| 23 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Eberhard Geisler | |
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