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# taz.de -- KI und menschliches Denken: Illusion der Lösungsfreude
> KI suggeriert uns, dass es auf komplexe Fragen einfache Antworten gibt.
> Doch ihre Funktionslogik klammert die übergeordneten Zusammenhänge aus.
Bild: In der Lösungsmanie der künstlichen Intelligenz steckt ganz schön viel…
Beginnt jetzt ein neues Zeitalter? Wer in diesen Tagen auf das neue Jahr
blickt, mag sich bei der Sorge ertappen, dass die Welt ziemlich kompliziert
geworden ist. Komplizierter als früher zumindest, die Erinnerung
vereinfacht ja vieles. Angesichts dieser Komplexität hat der Kolumnist
[1][Thomas L. Friedman] vor Kurzem in der New York Times ein neues
Zeitalter ausgerufen: das „Polycene“, wie er es nennt, oder Polizän auf
Deutsch, „poli“ wie viel – viel auf einmal eben.
Er versteht darunter eine neue Epoche, in der binäre Kategorien in fast
allen Lebensbereichen abgeschafft worden seien. Stattdessen sei unsere Welt
von vielen verschiedenen, einander bedingenden Faktoren geprägt. Als
Beispiele nennt er die Weltpolitik, die sich nicht mehr zwischen den beiden
Polen USA und Russland – früher Sowjetunion – aufspannt, sondern mit China
und Indien gleich mehrere neue Machtzentren kennt. Oder die Wirtschaft, die
nicht mehr nach dem Prinzip von Käufer und Verkäufer funktioniere, sondern
in der jedes einzelne Produkt eine Lieferkette mit zahlreichen
Zwischenhändlern durchläuft.
Vor allem aber nennt Friedman die digitale Technologie, die es ermöglicht,
viele hochkomplexe Rechnungen auf einmal anzustellen, quasi in alle
Richtungen gleichzeitig zu denken. So wie die künstliche Intelligenz denkt,
so müssten auch die Menschen denken lernen. Das ist sein zentrales
Argument. Er liegt damit am Ende falsch, aber es lohnt sich, sich mit
Friedmans Text zu beschäftigen, denn er wirft zwei grundlegende Fragen
unserer Gegenwart auf. Die eine: Was passiert hier eigentlich, in der
Politik, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft? Und die andere, vielleicht
wichtigere Frage: Wie können wir überhaupt verstehen, was passiert?
Friedman führt das Polizän als einen Schlüsselbegriff ein, der uns die
Gegenwart mit ihren Fragen erschließen soll. Dabei ist schon seine
historische Herleitung etwas schief. Dass die Wirtschaft komplexer geworden
ist, ist keine Entwicklung der vergangenen fünf Jahre. Bei jeder
Kartenzahlung im Café ist ein Zwischenhändler beteiligt, und
Kartenzahlungen gibt es seit den 1980er Jahren. Und die Kategorien, die er
in der Gesellschaft abgelöst sieht, „entweder weiß oder Schwarz, Mann oder
Frau, hetero- oder homosexuell“, sie waren auch in der Vergangenheit nie
binär, das haben Jahrzehnte sozialwissenschaftlicher Forschung gezeigt.
Warum sollte ausgerechnet jetzt ein neues Zeitalter beginnen? Und warum
sollte uns das helfen, das Geschehen besser zu verstehen?
Ein Zeitalter, das die Gegenwart auf einen Begriff festlegt, ist an sich
eine konservative Idee. Es ist der Versuch, einen Teilaspekt als Maßstab
für das Ganze einzusetzen, die Dinge in einer Traditionslinie zu sehen.
Dabei war auch das Zeitalter des Kalten Krieges nicht nur das des
Ost-West-Konflikts, sondern auch des Rock ’n’ Roll, des Feminismus, des
Fernsehens und des Umweltaktivismus. Jeder Zeitalterbegriff negiert seine
Auswüchse und Nebenstränge. Mit dem „Poli“ im Polizän will Friedman diese
Auswüchse zwar abbilden, aber es führt ihn zum gleichen Problem zurück: Die
Wirklichkeit lässt sich nun mal nicht als ganze begreifen, auch nicht, wenn
man den Begriffsschirm etwas weiter spannt.
Was bleibt, ist die Frage, wie umzugehen ist mit der komplizierten Welt,
wenn man sie schon nicht fassen kann. Für Friedman ist das Polizän nicht
nur eine Beschreibung, sondern auch eine Art Zukunftsphilosophie. Wir
Menschen müssten uns an die Komplexität anpassen, anstatt sie vereinfachen
zu wollen. Nur so sei die Bedrohung in eine zu bewältigende Aufgabe zu
verwandeln.
Aber was heißt das, sich an die Komplexität der Welt anzupassen? Auf
Ratschlag seines selbsternannten Tutoren Craig Mundie hin, eines früheren
Microsoft-Funktionärs, bedient sich Friedman der Funktionslogik von KI.
Ähnlich wie moderne Computer müssten die Menschen in der Lage dazu sein,
ein Problem auf mehreren Ebenen und aus mehreren Perspektiven gleichzeitig
zu betrachten. Sie müssten Widersprüche abbilden können, aber eben auch die
perfekte Lösung finden. Auf den Menschen bezogen hieße das, wie Friedman
schreibt: „Die anpassungsfähigsten, widerstandsfähigsten und produktivsten
Gemeinschaften im Polizän werden die sein, die durch alle Themengebiete
hindurch dynamische Koalitionen bilden können.“
Natürlich ist es sinnvoll, den Blick zu öffnen und ein Problem
differenzierter zu betrachten. Aber was Friedman hier vorschlägt, würde
bedeuten, opportunistisch alles mit allem zu verrechnen, ohne die
Zusammenhänge zu beachten. Dabei sind sie entscheidend, wenn wir die
Wirklichkeit interpretieren. Kritisches Denken muss nicht immer eine
Antwort im Stil von ChatGPT zum Ziel haben, im Gegenteil, man kommt schon
ganz schön weit, wenn man sich an den kleinen Widersprüchen und
Zusammenhängen entlanghangelt.
Um das einmal am Beispiel der [2][russischen Invasion in die Ukraine]
durchzugehen: Der Krieg sollte so schnell wie möglich durch ein starkes
Abkommen beendet werden. Utilitaristisch, also nützlichkeitsmäßig
betrachtet mag der sogenannte Friedensplan der USA dafür eine Option sein.
Doch dass Trump den Krieg darin als einen Konflikt zweier gleich schuldiger
Länder strategisch fehldeutet, um sich als Friedensstifter und Dealmaker zu
inszenieren, das zeigt sich erst, wenn man das Offensichtliche hinterfragt
und die Zusammenhänge genauer untersucht.
Solche Zusammenhänge gehen unter, wenn wir uns zum Maßstab für menschliches
Handeln eine lösungsfreudige KI nehmen, deren Quellcodes, ihre eigenen
inneren Zusammenhänge wir in den meisten Fällen nicht einmal kennen. Vor
allem aber führt es zu einer gewissen Hybris, die komplizierte,
angsteinflößende, widersprüchliche Wirklichkeit am Ende doch auf einen
Begriff, zumindest aber auf eine Rechenlösung bringen zu wollen.
Anzuerkennen, dass das unmöglich ist, ist nicht nur aus Misstrauen
gegenüber einfachen Lösungen angebracht. Sondern auch, weil es helfen kann,
die Unsicherheit umzuwandeln in eine grundsätzliche Offenheit gegenüber
dem, was kommt.
21 Dec 2025
## LINKS
[1] https://www.nytimes.com/column/thomas-l-friedman
[2] /-Nachrichten-im-Ukrainekrieg-/!6140386
## AUTOREN
Jette Wiese
## TAGS
Schwerpunkt Künstliche Intelligenz
Weltgeschichte
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