| # taz.de -- „East Side Story“ am Gorki-Theater: Jüdische Wut und Verzweifl… | |
| > Drei jüdische Frauen kehren nach Deutschland zurück. Kann man hier noch | |
| > leben?, fragen Lena Brasch und Juri Sternburg in ihrem „Jewsical“ am | |
| > Berliner Maxim-Gorki-Theater. | |
| Bild: Drei Schwestern, gespielt von Nairi Hadodo, Jasna Fritzi Bauer und Sesede… | |
| Drei Frauen stehen am Bühnenrand, eine Schlüsselszene aus „East Side Story | |
| – A German Jewsical“, das vergangenen Donnerstag am Maxim-Gorki-Theater | |
| Premiere feierte. Ihre Gesichter verbergen sich hinter Trauerschleiern, es | |
| ist die Beerdigung des Vaters. Zwei Schwestern und ihre Mutter stehen am | |
| Rand eines Grabes – und verkörpern drei jüdische Lebensentwürfe in | |
| Deutschland nach 1945. | |
| Auf Gerdas (Nairi Hadodo) Kleid prangt in plastischen Lettern der Buchtitel | |
| „The Fountainhead“ von Ayn Rand, ein Bekenntnis zum radikalen | |
| Individualismus. Ihre Schwester Renate (Sesede Terziyan) zeigt auf ihrem | |
| Kleid das Schwarz-Weiß-Porträt einer sozialistischen Ikone, Sinnbild ihres | |
| Engagements für den Aufbau der DDR. Das Kleid der Mutter (Lindy Larsson) | |
| ziert eine afrikanische Maske mit dekonstruierten Zügen, ein Zitat der | |
| klassischen Moderne: großbürgerliche Bildung und ästhetischer | |
| Kosmopolitismus, für die im Sozialismus kein Platz vorgesehen ist. | |
| Schon der Titel des Stücks, „East Side Story – A German Jewsical“, deutet | |
| das Paradox des Abends an. Jüdisches Leben in Deutschland als Musical: | |
| schweres, historisch aufgeladenes Material trifft auf ein Genre, das | |
| Leichtigkeit, Überzeichnung und Show verspricht. Entstanden ist ein | |
| mitreißender und kluger Abend über jüdisches Leben – nicht nur im | |
| Nachkriegsdeutschland. Überzeugend gespielt und gesungen von einem | |
| Ensemble, das auch in den Überzeichnungen die Figuren ernst nimmt. | |
| Juri Sternburg (Text) und Lena Brasch (Regie) haben das Stück erdacht. | |
| Beide tragen Theatergeschichte in ihren Namen: Lena Brasch ist Enkelin des | |
| DDR-Vizekulturministers Horst Brasch und Nichte des Dichters Thomas Brasch, | |
| Juri Sternburg Urenkel des ehemaligen DT-Intendanten Wolfgang Langhoff. | |
| Beide stammen aus jüdischen Familien, deren Biografien in das Stück | |
| eingeflossen sind. | |
| ## Zurück in eine zerstörte Stadt | |
| Die Geschichte folgt einer jüdischen Berliner Familie vom Ende des Zweiten | |
| Weltkriegs bis zur deutschen Wiedervereinigung. Acht Jahre lang haben sich | |
| die Familienmitglieder in Brandenburger Kellern und auf Feldern vor den | |
| Nazis versteckt. Nun kehren sie zurück in ein zerstörtes Berlin, in | |
| Wohnungen, die andere sich angeeignet haben, und in eine Gesellschaft, die | |
| ihre Schuld gern relativiert. | |
| Im Mittelpunkt stehen die Schwestern Gerda und Renate und ihre | |
| gegensätzlichen Reaktionen auf die neue Ordnung: Renate setzt auf den | |
| Sozialismus, Gerda auf das eigene Überleben und später auf New York. | |
| Glücklich wird niemand. Die dritte Schwester, Dora (Jasna Fritzi Bauer), | |
| nimmt eine Sonderrolle ein. Sie kommentiert, strukturiert, deutet und | |
| ordnet das Geschehen in drei große Erzählungen: Mensch gegen Mensch, Mensch | |
| gegen System, Mensch gegen sich selbst. | |
| Das Musicalformat schafft eine eigenwillige Distanz: Es erlaubt | |
| Überzeichnungen, rhythmische Präzision und musikalische Verdichtung, ohne | |
| die Tragik der Inhalte zu schmälern. Verzweiflung lässt sich darstellen, | |
| ohne ins Sentimentale zu kippen. Humor blitzt auf, ohne die Ernsthaftigkeit | |
| zu unterlaufen. | |
| Besonders eindrücklich gelingt das in einer Szene im ersten Drittel des | |
| Abends. An einem festlich gedeckten Tisch versammelt sich ein Querschnitt | |
| der neuen alten Gesellschaft: die sozialistische Kulturfunktionärin | |
| (Anastasia Gubareva), eine ehemalige Filmdiva aus der NS-Zeit (Klara | |
| Deutschmann), ein der Naziideologie noch verhafteter Fleischerjunge | |
| (Fridolin Sandmeyer), die großbürgerliche jüdische Mutter, der | |
| nichtjüdische antifaschistische Vater (Edgar Eckert) und die beiden | |
| ungleichen Schwestern. Bevor die Szene eskaliert, verschränken sich Sprache | |
| und Gesang zu einem Chor aus Gesagtem und Gedachten, die Spannungen dieser | |
| Gesellschaft werden spürbar. | |
| ## Der Abend zeigt, was auf dem Spiel steht | |
| Musikalisch verzichtet das Stück auf bombastische Revuegesten. Der Musiker | |
| Paul Eisenach hat stattdessen melancholische Popstücke mit Jazz-Anklängen, | |
| Schlagersongs, Rap- und Punkeinlagen komponiert. Das Bühnenbild von Studio | |
| Dietrich & Winter verbindet die Ruine eines bürgerlichen Altbaus auf der | |
| einen Seite der Drehbühne, mit einer sachlich-neuen Architektur auf der | |
| anderen. Oben auf dem Dach sitzt die vierköpfige Band in Beatles-Kostümen, | |
| sichtbar, kommentierend, Teil des Spiels. | |
| Am Ende wird klar: Dora, die dritte Schwester, hat als Einzige ihrer | |
| Familie überlebt und die Nachkriegsgeschichte ihrer Verwandten als | |
| Imagination entworfen. Das Stück endet mit einem Lied, das so gar nicht in | |
| ein fröhliches Musicalformat passen will: dem berühmtesten jüdischen | |
| Partisanenlied, geschrieben 1943 im Ghetto von Vilnius. Selten wurde | |
| jüdische Wut und Verzweiflung so präzise auf die Bühne gebracht. | |
| Dass diese Produktion zu den letzten Premieren mit einem Ensemble gehört, | |
| das von der neuen Gorki-Leitung weitgehend entlassen wurde, verleiht dem | |
| Abend zusätzliche Schärfe. „East Side Story – A German Jewsical“ steht | |
| exemplarisch für ein Theater, das diverse Perspektiven nicht als Zusatz, | |
| sondern als Zentrum begreift. Ob dieses erfolgreiche Modell am | |
| Maxim-Gorki-Theater fortgeführt wird, ist offen. Der Abend selbst zeigt, | |
| was auf dem Spiel steht. | |
| 22 Dec 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Verena Harzer | |
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