| # taz.de -- #MeToo-Komödie „Sorry, Baby“: Und dann hat sie eine Katze | |
| > Eva Victors Regiedebüt „Sorry, Baby“ erzählt aus Opfersicht von | |
| > sexualisierter Gewalt. Eine stille Screwball-Komödie würde man da eher | |
| > nicht erwarten. | |
| Bild: Zwei, die sich verstehen: Agnes (Eva Victor) und die Katze in „Sorry, B… | |
| Agnes hat etwas Steifes. Ihr Gesicht wirkt maskenhaft, man muss genau | |
| hinschauen, um die gelegentlichen feinen Zuckungen darin zu sehen. Auch der | |
| Körper wirkt, als leiste er bei allen Bewegungen aktiv Widerstand, | |
| geschmeidig fließen will er anscheinend nicht. Und die Stimme verschließt | |
| sich ihrem Gegenüber eher, als dass sie sich öffnet. Selbst ein „Hello“ | |
| kommt ihr nicht direkt und frei über die Lippen, sondern klingt gequält, | |
| verunsichert und fragend zugleich. | |
| Agnes ist die Hauptfigur von [1][Eva Victors Regiedebüt „Sorry, Baby“]. | |
| Victor selbst spielt Agnes und hat auch das Drehbuch geschrieben. Was | |
| theoretisch Anlass zur Sorge geben könnte. Manchen Filmen, in denen | |
| Schauspieler selbst die Regie übernehmen, tut dieser Wechsel hinter die | |
| Kamera nicht so gut. | |
| Bei Victor hingegen fragt man sich, ob jemand anderes das auch so | |
| hinbekommen hätte. Denn „Sorry, Baby“ ist eine der schönsten Komödien des | |
| Jahres, auch wenn sie von sexualisierter Gewalt erzählt – und dem Leid, das | |
| diese auslöst. Der Film tut dies jedoch so, dass das Opfer nicht bloß als | |
| Opfer erscheint, sondern teils sogar mit Witz das eigene Schicksal annimmt, | |
| gegen alle Widrigkeiten, die das mit sich bringt. | |
| Eva Victor wirft einen nicht direkt ins Geschehen, sondern beginnt after | |
| the fact. Ihre Freundin Lydie (Naomie Ackie) kommt am Anfang des Films aus | |
| New York angereist, um Agnes auf dem Land zu besuchen. Im Haus, in dem | |
| Agnes lebt, wohnten sie früher zusammen, als beide an einem College in New | |
| England studierten. Agnes ist dort inzwischen Professorin geworden, Lydie | |
| versucht sich mittlerweile als Schriftstellerin. | |
| Lydie ist glücklich verliebt und schwanger. Agnes freut sich für sie, zeigt | |
| selbst diese Gefühle aber nur verhalten. „Stirb nicht“, fordert Lydie sie | |
| irgendwann auf, und Agnes beruhigt sie, dass sie das nicht zu tun gedenke. | |
| Über allem liegt eine durch Agnes’ Scherze nur unvollständig kaschierte | |
| Schwere, bei der man zunächst nicht so recht weiß, woher sie rührt. | |
| ## Ein nerdiger Akademiker-Typ | |
| Victor hat den Film in mehrere Kapitel mit Überschriften unterteilt. So | |
| gibt es „The Year With the Cat“, „The Year with the Baby“ heißt der er… | |
| Abschnitt, gefolgt von „The Year with the Bad Thing“, in dem sich das | |
| ereignet, was dazu führt, dass Agnes so wirkt, wie sie wirkt. Wobei sie | |
| auch in den Minuten, die einen auf das „schlechte Ding“ vorbereiten, als | |
| nerdiger Akademiker-Typ in Erscheinung tritt, nicht gerade locker, doch mit | |
| messerscharf schneidendem trockenen Witz, den sie so entlarvend wie | |
| befreiend einsetzt. Ihre Steifheit „vorher“ und „nachher“ ist dennoch, … | |
| auch graduell, verschieden. | |
| Agnes promoviert in diesem „Jahr mit dem schlechten Ding“ noch in | |
| Literaturwissenschaften, sie ist die Favoritin ihres Professors Preston | |
| Decker (Louis Cancelmi). Das registriert insbesondere eine Kommilitonin, | |
| Natasha (Kelly McCormack), mit unverhohlenem Neid. Als eine Besprechung von | |
| Agnes’ Dissertation in Deckers Büro durch eine dringende | |
| Familienangelegenheit des Professors unterbrochen wird – er lebt getrennt | |
| von der Mutter der Kinder und muss einen Sohn irgendwo abholen –, schlägt | |
| er vor, das Treffen später bei ihm zu Hause fortzusetzen. | |
| Eva Victor inszeniert die folgende Szene mit äußerster Zurückhaltung. Man | |
| sieht eine Außenaufnahme von Deckers Haus, an dessen Tür Agnes klingelt. | |
| Decker öffnet, bittet sie, die Schuhe auszuziehen, dann schließt sich die | |
| Tür. Draußen ist Tageslicht. Beim nächsten Schnitt setzt die Dämmerung ein, | |
| nach einem weiteren ist es dunkel. Dann öffnet sich die Tür, Agnes springt | |
| in ihre Schuhe, geht davon, ohne sich umzusehen, im Hausflur steht Decker. | |
| ## Die richtigen Worte finden | |
| Die Suche nach dem richtigen Abstand zum Geschehen oder Geschehenen bleibt | |
| für den Rest des Films bestimmend. So in der Szene, als Agnes in der | |
| Badewanne sitzt und Lydie berichtet, was in Deckers Haus geschah. Die | |
| Kamera bleibt während dieses Dialogs nah bei den Figuren, erst am Ende des | |
| Gesprächs wechselt sie nach draußen in den Flur, wo die Freundinnen, Agnes | |
| im Arm von Lydie, durch die Türöffnung gerahmt sind. | |
| Neben der räumlichen Distanz geht es Victor zugleich um verbale Distanz | |
| oder überhaupt die Fähigkeit, die richtigen Worte für ein Ereignis zu | |
| finden, das Leid hervorruft. Als sich Agnes in der Klinik untersuchen | |
| lässt, folgt der Arzt streng dem Protokoll, fragt sie, ob sie vergewaltigt | |
| wurde. Agnes reagiert sarkastisch mit der Antwort: „Das ist treffend | |
| formuliert.“ Wenig später bitten sie zwei Mitarbeiterinnen der | |
| Hochschulverwaltung zum vertraulichen Gespräch. Sie nähmen die Sache „sehr | |
| ernst“, denn sie seien Frauen und wüssten, wie es ihr gehe. Worauf Agnes | |
| sich höflich befremdet zeigt. | |
| Lydie andererseits fasst Agnes’ Beschreibung der Ereignisse in Deckers Haus | |
| mit „That sounds like that“ zusammen. Ohne die Vergewaltigung zu benennen, | |
| hat Lydie in der Szene so alles gesagt und kein Wort zu viel. | |
| ## Ein Film über Freundschaft | |
| „Sorry, Baby“ zeichnet mit sehr genauem Blick nach, wie Opfer von | |
| sexualisierter Gewalt ihr Leben danach in den Griff kriegen müssen und wie | |
| sich die Personen um sie herum dazu verhalten. Zudem ist der Film eine | |
| Milieustudie des akademischen Betriebs mit seinen Konkurrenzkämpfen. Diese | |
| lassen sich nicht völlig losgelöst von Agnes’ Leid betrachten, spielen sich | |
| aber eher am Rande ab. | |
| Damit wählt Eva Victor eine entschieden andere Perspektive als [2][Luca | |
| Guadagnino, der in seinem Hochschuldrama „After the Hunt“] genüsslich das | |
| betriebsinterne Hickhack ausstellt. Von Agnes’ Arbeit als Professorin | |
| erfährt man jedenfalls nur in einer knappen Szene etwas. | |
| Vor allem ist „Sorry, Baby“ jedoch auch ein Film über Freundschaft. Denn | |
| die einzige Person, die Agnes in ihrem Leid wirklich nah ist und damit | |
| umzugehen versteht, ist Lydie. Auch als sie nach New York zieht und Agnes | |
| „allein“ zurücklässt, nachdem sie zuvor im selben Bett geschlafen hatten. | |
| Lydie ist in vielem ein gegensätzlicher Charakter. Sie ist emotionaler, | |
| euphorischer und weniger entschlossen in ihrem akademischen Fortkommen als | |
| Agnes. Man fragt sich zwischendurch, ob die zwei ein Paar waren oder nicht. | |
| ## Nie mehr in einer Szene als nötig | |
| Dass der Film das nicht bis zur Eindeutigkeit ausbuchstabiert, gehört zu | |
| seinen Vorzügen. Was ebenso für die Genderfragen gilt, die Victor beiläufig | |
| stellt: Lydies neue Liebe in New York ist eine nonbinäre Person, Fran (E. | |
| R. Fightmaster), und Agnes sieht sich anscheinend ebenfalls so. Victor, | |
| selbst nonbinär, deutet das lediglich an einer Stelle kurz und ohne Worte | |
| an. | |
| Überhaupt sorgt gerade diese Diskretion dafür, dass „Sorry, Baby“ auf | |
| stille Art begeistert. Victor stopft nie mehr in eine Szene als nötig, geht | |
| äußerst sparsam mit Musik um und packt nie allzu viele Personen | |
| gleichzeitig ins Bild. Dass es eine Komödie ist, heißt schon gar nicht, | |
| dass die Gags einander die Hände reichen müssen. Sie sind behutsam als | |
| Pointen gesetzt, und zu viele davon würden womöglich schaden. | |
| Einen Höhepunkt in komödiantischer Hinsicht liefert die Begegnung mit | |
| Agnes’ Nachbar Gavin ([3][Lucas Hedges]), den man guten Gewissens als | |
| schrulligen Typen beschreiben kann. Gavin verkörpert neben einer leichten | |
| Unbeholfenheit im Umgang mit anderen einige der Nöte, die Männer dieser | |
| Tage umtreiben. Vieles davon hat mit traditionellen Bildern von | |
| Männlichkeit zu tun und wie man diesen im Einzelnen entspricht. Ganz | |
| physisch. Für diese findet Victor einen Ton, der offenlegt, ohne | |
| bloßzustellen. Und die Katze? Ist auch wichtig für das Ganze. | |
| 16 Dec 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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