| # taz.de -- Debatte um die Rente: Mit 69 noch Pakete schleppen? | |
| > Die Rentenkommission spricht über ein höheres Renteneintrittsalter. | |
| > Berufe in „schwerer“ und „leichter“ einzuteilen, wie manche wünschen… | |
| > heikel. | |
| Bild: Den Paketboten zu fragen, wie lange er den Job durchhalten kann – das w… | |
| Jetzt zur Weihnachtszeit spürt man als Kundin ein diffuses Schuldgefühl. | |
| Wenn der Zusteller kommt, hat er sich schon durch den Stadtverkehr | |
| gekämpft, auf dem Weg zu den 150 Haushalten pro Schicht, er ist schwer | |
| beladen. Paketboten gehören zu den Jobs, von denen sich niemand vorstellen | |
| kann, ihn noch mit 69 zu machen. In der Rentenkommission der | |
| Bundesregierung, die demnächst über Reformen in der Alterssicherung berät, | |
| wird indes darüber gesprochen, mittelfristig das Renteneintrittsalter zu | |
| erhöhen. Aber wer könnte überhaupt bis 69 arbeiten? Die | |
| [1][Ungerechtigkeiten] liegen doch jetzt schon auf der Hand: Wer in | |
| verschleißenden Jobs ackert, verdient schlechter, lebt kürzer, hat also | |
| weniger Rentenjahre vor sich. | |
| Der Arbeitswissenschaftler Hans Martin Hasselhorn von der Universität | |
| Wuppertal berichtet, dass Menschen in armutsgefährdeten Haushalten mit | |
| weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens im Alter von 65 Jahren eine | |
| niedrigere Lebenserwartung haben als wohlhabende Menschen, die über 150 | |
| Prozent des mittleren Einkommens verfügen: bei den Frauen sind es 3,7 Jahre | |
| weniger, bei den Männern sogar 6,6 Jahre. Würde man die Regelaltersgrenze | |
| für alle auf das 70. Lebensjahr anheben, würden sich diese Unterschiede | |
| weiter vergrößern, sagt Hasselhorn im Gespräch mit der taz. | |
| Leute, die in körperlich belastenden Jobs arbeiten, bauen im höheren | |
| Erwerbsalter eher gesundheitlich ab, während dies bei Menschen in geistiger | |
| Tätigkeit weniger der Fall ist, hat der Arbeitswissenschaftler | |
| festgestellt. Aber wie kann man politisch mit diesen Ungerechtigkeiten | |
| umgehen, die sich verschärfen werden, wenn die Ausweitung der Erwerbsphase | |
| auf der politischen Agenda steht? | |
| Theoretisch denkbar wäre, nach „schwerer“ und „leichter“ Arbeit zu | |
| differenzieren und entsprechend frühere Renteneintritte zu gewähren. „Es | |
| wäre nach arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen möglich, eine Liste | |
| besonders belastender Tätigkeiten zu erstellen“, sagt Hasselhorn, der auch | |
| lange als Betriebsarzt gearbeitet hat. [2][In vielen Ländern] gibt es | |
| solche Differenzierungen. So gilt beispielsweise Nachtarbeit in Kombination | |
| mit körperlich fordernder Tätigkeit und hoher Lärm-, Kälte- oder | |
| Hitzeexposition als sehr belastend. | |
| Auch der „psychische Stress“ spiele bei der Belastungsbeurteilung laut | |
| Hasselhorn eine Rolle. Der Lehrerberuf beispielsweise sei deswegen so | |
| aufreibend, weil die Pädagog:innen immer volle Präsenz zeigen müssten | |
| vor einer oft unwilligen Klasse und sich nicht wegducken könnten. In der | |
| Pflege komme schließlich alles zusammen: körperlich schwere Arbeit, zu | |
| viele Patient:innen, Schichtbetrieb, bei vielen ständige berufliche | |
| Erreichbarkeit in der Freizeit. | |
| Aber es ist heikel, eine Liste der sehr belastenden Jobs zusammenzustellen | |
| und daraus einen Anspruch auf einen frühen Renteneintritt abzuleiten. Was, | |
| wenn jemand im Laufe seines Berufslebens die Tätigkeiten wechselt? Wenn er | |
| oder sie in Teilzeit arbeitet? Wenn die Pflegefachkraft als | |
| Pflegedienstleiterin vor allem mit Verwaltungskram beschäftigt ist? Und | |
| überhaupt: Hängen die Belastbarkeiten nicht von vielen individuellen | |
| gesundheitlichen Faktoren der Arbeitnehmer:innen ab und können gar | |
| nicht pauschaliert werden? | |
| In Österreich gibt es seit vielen Jahren die „[3][Schwerarbeitspension,] | |
| bei der unter anderem auf den Kalorienverbrauch durch die Tätigkeit | |
| geschaut wird, um belastende Berufe zu bestimmen. Erst seit 2026 wurde dort | |
| die Pflege in den Katalog der Schwerarbeiter:innen aufgenommen. Wer | |
| die Schwerarbeitspension, also einen früheren Renteneintritt, haben will, | |
| muss allerdings vorher 45 Jahre in die Sozialversicherung eingezahlt haben | |
| und mindestens 10 Jahre davon „Schwerarbeit“ geleistet haben. Das schaffen | |
| die meisten nicht, die Zugangszahlen sind relativ gering. | |
| Der Sozialwissenschaftler Martin Brussig vom Institut Arbeit und | |
| Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen beschäftigt sich seit | |
| Jahren mit den Übergängen in die Rente. Er hält es für „sehr schwer“, d… | |
| besonders belastenden Berufe zu bestimmen. Nicht, weil das | |
| arbeitswissenschaftlich nicht möglich wäre. Sondern „weil es politisch und | |
| nicht arbeitswissenschaftlich entschieden würde“, sagt Brussig im Gespräch | |
| mit der taz. „Da kommen dann sofort Interessen ins Spiel, die | |
| Gewerkschaften werden für ihre Beschäftigtengruppen argumentieren, da wird | |
| man sich kaum einigen können.“ | |
| ## Frühere Berufsunfähigkeit | |
| Eine Lösung des Problems sieht Brussig darin, den Menschen aus belastenden | |
| Tätigkeiten, die das 60. Lebensjahr überschritten haben und ihre bisherige | |
| Arbeit nicht mehr machen können, künftig eine Berufsunfähigkeit mit | |
| vorzeitigem Renteneintritt zuzugestehen. Das wäre anders als die geltende | |
| Erwerbsminderungsrente, die man nur bekommt, wenn man nicht mehr in der | |
| Lage ist, überhaupt noch zu arbeiten. | |
| Die Berufsunfähigkeit für den bisherigen Job „müsste durch | |
| arbeitsmedizinische Gutachten individuell festgestellt werden,“ sagt | |
| Brussig. Das Vorhaben erinnert an [4][Rentenvorschläge] der Grünen, die | |
| jetzige Rente mit 63 zu reformieren, und zwar so, dass „Menschen, die | |
| tatsächlich krank sind oder nicht mehr arbeiten können, ohne Abschläge | |
| früher in Rente gehen können“, erklärte der stellvertretende | |
| Fraktionsvorsitzende Andreas Audretsch der taz. | |
| Es gäbe weitere Alternativen. Hochbelastete Arbeitnehmer:innen könnten | |
| ihre Wochenstunden in den Jahren vor der Rente reduzieren und der Staat | |
| kann die Rentenbeiträge so aufstocken, als hätten sie bis zum | |
| Renteneintritt zu 100 Prozent gearbeitet. Ähnliche Modelle gibt es im | |
| „Generatiepact“ der Metallindustrie in den Niederlanden. | |
| Ob sich die Politik an eine Debatte über die Ungerechtigkeiten in | |
| Arbeitsbelastung und Rentenanspruch überhaupt heranwagt, ist die | |
| entscheidende Frage. Den Paketboten zu fragen, wie lange er den Job | |
| durchhalten kann – das wagt man derzeit nicht. Während man selbst | |
| vermutlich kaum eine einzige Schicht schaffen würde. | |
| 12 Dec 2025 | |
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| [1] https://difis.org/publikationen/publikation/95 | |
| [2] https://www.oecd.org/content/dam/oecd/en/publications/reports/2023/12/pensi… | |
| [3] https://www.pv.at/web/pension/pensionsarten/schwerarbeitspension | |
| [4] https://www.gruene-bundestag.de/fileadmin/dateien/downloads/autor_innenpapi… | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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