| # taz.de -- Folgen des Kriegs in Syrien: Die versteckte Gefahr | |
| > In Syrien sind die Spuren des Konflikts in den Städten noch sichtbar. | |
| > Doch gefährlicher sind seine unsichtbaren Hinterlassenschaften. | |
| Bild: Kampfmittelbeseitiger im nördlichen Syrien | |
| Wenn Hassan sich bereit macht, auf das Minenfeld zu gehen, denkt er nicht | |
| an das, was passieren könnte, falls sein Auge das metallische Glimmern des | |
| hervortretenden Zünders einer nicht detonierten Streubombe übersieht. Er | |
| denkt nicht an die Blindgänger, die sich unter seinen Füßen verstecken. | |
| Wenn Hassan sich die blaue, vier Kilogramm schwere Weste überstreift, sein | |
| Teammitglied die Gurte hinter seinem Rücken überkreuzt und die Schnallen | |
| verschließt, hat er keine Angst. Er denkt an seine fünf Kinder. Wie sie | |
| rennen, straucheln könnten über einen jener Zünder, beim Wandern, beim | |
| Spielen. Wie sie Gliedmaßen verlieren könnten, einen Fuß, ein Bein. Ihr | |
| Leben. Und daran, dass er lebend zu ihnen zurückkehren will. | |
| Wenn Hassan und die anderen vier Mitglieder seines Minenräumungsteams sich | |
| in einer Reihe aufstellen und das ihnen zugeteilte Rechteck durchkämmen, | |
| denken sie nicht an die Gefahr. | |
| Doch die Gefahr lauert unter der Erde. „Du kannst diesen Job nicht machen, | |
| wenn du Angst hast“, sagt Hassan in dem Zelt, gut 200 Meter von der | |
| Suchstelle entfernt, das als Erholungsoase zwischen den Schichten gilt, den | |
| weißen Helm gelassen unter die Achsel geklemmt. | |
| ## Ein riskanter Job | |
| Wenn er auf das Minenfeld geht und dort mit langsamen Schritten, die Augen | |
| fest auf den Boden gerichtet, nach Minen sucht, unter dem Visier, das die | |
| Augen schützt, doch die Sicht erschwert, ist Hassan dann nur eines: | |
| konzentriert. | |
| Hassan, ein robuster Mann mit schwarzem Haar, markanten Augenbrauen und | |
| nachdenklichem Blick, der nicht will, dass sein ganzer Name in der Zeitung | |
| steht, sucht seit Oktober 2019 Blindgänger im Boden Rojavas. „Ich will | |
| meinen Leuten helfen“, sagt der 48-Jährige. Früher war er Bauer, also | |
| jemand, der einem hohen Risiko durch nicht detonierte Minen ausgesetzt ist. | |
| Jetzt ist er Kampfmittelbeseitiger, auch ein riskanter Job, aber ein gut | |
| entlohnter. 800 Dollar im Monat. Und er ist erfolgreich: 38 Sprengkörper | |
| hat er allein auf diesem Feld gefunden. | |
| Hassan spricht langsam, er sieht müde aus vom Einsatz. Die erste Schicht | |
| dauert etwa 45 Minuten, heute bei 28 Grad und einer gnadenlosen Sonne. Das | |
| Feld, ein ehemaliger Fliegerhorst für Helikopter, 8 Kilometer südlich von | |
| Tabqa in Nordsyrien, der 2014 zum Schauplatz einer brutalen Schlacht | |
| zwischen Kämpfern des Islamischen Staats und syrischen Streitkräften wurde, | |
| ist reine Erde und Schotter und ausgedorrtes Gestrüpp, kein Baum in Sicht. | |
| Schon nach 15 Minuten klebt der Schweiß unter dem Helm und dem hellblauen | |
| Overall, unter dem Visier sehen die Objekte etwas verzerrt aus. | |
| Auf dem Feld liegen Steine, weiße und rote. Die weißen bedeuten Sicherheit, | |
| die roten Gefahr. Der Mann mit dem Metalldetektor hebt die Arme in die | |
| Luft, er hat etwas gefunden. Diesmal ist es nur eine leere Patrone, | |
| Entwarnung. | |
| Hassan und sein Team laufen jetzt das Feld auf und ab, suchen nach | |
| Anomalien, Abweichungen von der Norm, von dem, was auf einem | |
| ausgetrockneten Feld zu erwarten wäre. Ihre einzige Waffe im Kampf gegen | |
| die Waffen ist das Auge. | |
| Hassan und sein Team gehören einer internationalen NGO an, [1][Handicap | |
| International] (HI), die sich der Minenräumung und Hilfe für Minenopfer | |
| widmet. In Syrien arbeiten sie an verschiedenen Orten, die während des | |
| [2][14-jährigen Bürgerkriegs] besonders heftig unter Beschuss kamen. Von | |
| diesen Bomben und Minen, die Russland, Israel, Assad und die Rebellen | |
| abfeuerten oder unter die Erde legten, stellen die nicht explodierten noch | |
| eine große Gefahr dar. Kaum eine Woche vergeht ohne Meldung, dass ein Kind | |
| oder ein Erwachsener versehentlich darauf getreten und verletzt oder gar | |
| tot ist. | |
| Hassan und sein Team sind Einheimische, einige ziehen seit Jahren Minen, | |
| Bomben und Patronen aus dem Boden. Von Hand. Maschinen sind teuer, | |
| besonders deren Instandhaltung. Meistens finden sie Streubomben und | |
| Streumunition, die in 112 Ländern verboten sind, teilweise | |
| Antipersonenminen, die aus 165 Ländern verbannt sind, weil sie beim | |
| Menschen solche Schäden anrichten, dass sie sogar für den Krieg zu grausam | |
| sind. | |
| „Der Wichtigste ist der Mann hinten, der Geschwindigkeit und Aufstellung | |
| kontrolliert“, sagt David Francis, der in seinem Leben Sprengkörper auf | |
| vier Kontinenten entschärft hat. Francis, Ex-Militär, Khakihose, | |
| Baseballcap und britischer Akzent, überwacht die Arbeit. Er könnte jetzt | |
| überall sein, und doch ist er hier. Auf einem verminten Feld in Syrien. | |
| „Ich weiß, dass es ein riskanter Job ist. Aber es ist auch ein sehr | |
| befriedigender. Ich wollte schon immer helfen“, sagt er. | |
| Er warnt: Diese Dinger seien mit einem einzigen Ziel gebaut worden – dich | |
| zu töten. Zeit mache sie nicht weniger gefährlich. Während ein Teammitglied | |
| mir die Weste zuschließt, horcht Francis auf. „Oh, warte!“, sagt er und | |
| legt eine Aderpresse in meine Vordertasche. Eine Binde, die bei Verlust von | |
| Gliedmaßen die Blutung stoppen kann. Das nächste Krankenhaus liegt 20 | |
| Minuten Autofahrt entfernt. | |
| Nachdem das Team, das jetzt etwa 50 bis 100 Meter von uns entfernt läuft, | |
| die Inspektion beendet hat, ist es an der Zeit, die Funde zu entschärfen. | |
| Nicht die kleine Patrone, die ist harmlos, doch die russische Bombe von | |
| gestern. Eingegraben in der Erde liegt der ovale, silberne Sprengkörper. | |
| AO-2.5 RT/RTM, 15 Zentimeter lang, teilt sich beim Fall in zwei Hälften und | |
| detoniert in hunderte Bruchstücke, die Menschen in einem Umkreis von 20 | |
| Metern töten können. | |
| Die Blindgänger werden vor Ort gesprengt, wenn es zu riskant ist, sie aus | |
| dem Boden zu heben. Eine falsche Bewegung, eine falsche Berührung könnte | |
| eine Detonation auslösen, die im besten Fall Gliedmaßen und im schlimmsten | |
| Fall Leben mit sich reißt. So liegen jetzt weiße Sandsäcke um die russische | |
| Bombe herum. Ein einzelner Mann steht mitten auf dem Feld, verschränkt die | |
| Hände hoch in der Luft, das bedeutet: Kreuzt die Drähte, hier ist alles | |
| bereit. Der Kollege neben der Fernbedienung checkt die Schaltung. | |
| Eigentlich wird der Sprengkörper nicht gesprengt, sondern von innen heraus | |
| verbrannt. Ein heißer Strahl bohrt ein Loch 60 Millimeter tief in die | |
| äußere Hülle und verbrennt den Sprengstoff. Eine kleine, kontrollierte | |
| Explosion. Und diese soll ich jetzt einleiten. | |
| Der Kontrollkasten, eine schwarze Plastikbox, aus der zwei Stromkabel | |
| herausragen, die dann in der Lanze münden, hat zwei Kontrollleuchter und | |
| zwei graue Knöpfe. Zuerst drückt man den unteren, dann wartet man auf das | |
| rote Licht. Dann drückt man den oberen. Grünes Licht blinkt, los. | |
| Alle Männer haben sich in sichere Entfernung zurückgezogen. | |
| Drücken, warten. Rot. | |
| Drücken, warten. Grün. | |
| Nichts. | |
| Mist! | |
| Spannung auf den Gesichtern. Wenn die Sprengung versagt, müssen sich die | |
| Männer der nicht explodierten Bombe nähern, das will keiner. Die Gefahr | |
| einer Verletzung ist dann sehr hoch. | |
| Warten. Jetzt hebt sich eine weiße Rauchwolke aus den Sandsäcken, | |
| orangefarbene Flammen flackern in der Entfernung. | |
| Bumm! | |
| Erde wird neben der Bombe in die Luft geschleudert. Jubelschreie, | |
| Erleichterung auf den Gesichtern. Wir warten noch, dann wird jemand die | |
| Reste aufsammeln. Unsere Arbeit hier ist zu Ende. | |
| In dem weißen Kombiwagen unterhalten sich nun Francis und die anderen über | |
| Räumungstechniken, Risiken und Möglichkeiten. Sie sprechen über ein virales | |
| Video des Beduinen, der mit einem Stock Landminen im Sand aufspürt und | |
| hochflippen lässt. Das sei ein riskantes Vorgehen, erklärt Francis. Es | |
| könnte sich eine andere Mine unter der ersten befinden. Francis ist Lehrer, | |
| bildet die Teams weiter aus. Schon denkt er darüber nach, wie er die leere | |
| Patrone, die das Team heute gefunden hat, beim nächsten Unterricht | |
| einsetzen kann. | |
| Der Wagen holpert auf dem Schotterweg, der Fahrer starrt konzentriert aufs | |
| Lenkrad, korrigiert den Kurs leicht nach links, dann nach rechts. | |
| Staubwolken wirbeln vor uns auf. „Wir finden gerade viel russische | |
| Streumunition, gerade außerhalb der Stadt. Oft sammeln Kinder sie auf“, | |
| sagt Francis. | |
| 155 Geschosse habe er einmal auf einem Schrottplatz entdeckt. Teilweise | |
| weigerten sich die Menschen, die Munition auf ihren Grundstücken sprengen | |
| zu lassen – wohl aus Angst, die Nachbarn dächten, sie seien Kämpfer. Oder | |
| aus Unwissenheit. | |
| Erst gestern wollte eine Frau Munition verbrennen, die ihre Kinder aus | |
| einer benachbarten Müllhalde nach Hause gebracht hatten. Ein Glück, dass | |
| der Ehemann die Gefahr rechtzeitig erkannte und das Beseitigungsteam | |
| alarmierte. | |
| ## Hinterm Haus die Mülldeponie | |
| Heute stehen Francis und sein Team wieder bei der Frau und ihrem Mann, der | |
| gerade das Treiben vor seinem Haus beobachtet. Das Haus ist bloß ein Raum | |
| aus Lehm und sticht doch aus den Baracken drumherum hervor, einem Ozean aus | |
| Stofffetzen, Schichtholz und am Boden befestigten Plastikplanen. | |
| Das Gelände ist ein inoffizielles Flüchtlingslager. Sahlet al-Banat Camp, | |
| östlich von Raqqa. Hier leben Hunderte geflüchtete Familien, etwa 6.000 | |
| Menschen nach jüngsten Schätzungen, viele davon Kinder. Nicht wenige kommen | |
| aus der Gegend um Deir al-Sor, Ex-IS-Gebiet im Osten. | |
| So wie der Ehemann der Frau, Abdallah Jasin. | |
| Jasin trägt die grauen Haare offen unter einem roten Turban, den | |
| ergrauenden Bart unrasiert über die Wangen. Er steht lächelnd in Jeans und | |
| Flip-Flops auf seinem Hof, hinter ihm trocknen Kinderklamotten an einem | |
| Seil unter der Sonne, das jemand an zwei abgemagerten Bäumen befestigt hat. | |
| Etwas weiter liegen kleine Berge von Schrott, meistens Metall und | |
| Autoreifen. Ein Hund, das Fell so grau wie der Müll, neben dem er liegt, | |
| döst in der Hitze. | |
| Hinter Jasins Haus beginnt die Mülldeponie, eine scheinbar endlose Weite | |
| von Abfallresten, die unter der Sonne rotten, zwischen Pfützen aus fauligem | |
| Wasser. Ein Geruch von langsam zerfallendem Müll und Benzin schwebt über | |
| dem öden Gelände, auf dem Kinder herumrennen. In Schwarz voll verschleierte | |
| Frauen wandern entlang der Hauptstraße. Plastikflaschen, Schrotthaufen, | |
| Matratzen und alte Kühlschränke liegen am Straßenrand. | |
| Jasin zog vor sechs Jahren mit der Familie hierher, aus einem Dorf mitten | |
| in der Wüste. Zurück will er nicht. Weil er in der Armee war und | |
| desertierte und jetzt eine Verhaftung fürchtet. Und weil er hier im Camp | |
| einen guten Job hat. „Gut“ ist aus westlicher Sicht übertrieben, aber | |
| zumindest ist es einer. Er verkauft wiederverwertbare Stoffe, die er auf | |
| der Deponie findet. | |
| Vor der Haustür stapeln sich Spielzeuge, ein verstaubtes Dreirad liegt in | |
| der Ecke. Es ist Dienstag, 12:50 Uhr, doch die Kinder sind nicht in der | |
| Schule, sondern sitzen im Halbkreis vor einem aufgehängten braunen Stoff, | |
| der als Zelt gilt. Vor ihnen steht eine junge Frau in pinkem Jackett und | |
| Jeans, die Sonnenbrille über dem weißen Kopftuch, und deutet auf die Folie, | |
| die von einem Flipchart hängt. „Wie heißen diese?“, fragt sie in die Rund… | |
| Alle Kinder heben die Hand, einer antwortet. Munition ist das, in Comics | |
| eingebettet und kindgerecht. „Und was machen wir dann?“ | |
| Es ist ein informeller Unterricht, direkt vor Jasins Haus. Die NGO Handicap | |
| International hat ihn organisiert, nachdem Jasins Kinder die Projektile mit | |
| nach Hause genommen haben und Jasins Frau sie beinahe angezündet hätte. Als | |
| Ex-Soldat hat er die Gefahr rechtzeitig erkannt, ein Glück. Es hätte | |
| schlimm ausgehen können. | |
| Laut der NGO Halo Trust, die sich weltweit mit Minenräumung beschäftigt, | |
| sind seit dem Fall des Regimes mehr als 1.000 Zivilist*innen in Syrien | |
| durch Blindgänger verletzt oder getötet worden, im Schnitt also 160 pro | |
| Monat. Ein Drittel davon Kinder. Daher der Unterricht heute. Damit die | |
| Jüngeren den Umgang lernen, wenn sie mal eine Landmine ausgraben. Denn dies | |
| ist keine Frage des Ob, sondern des Wann. | |
| ## Am Auge verletzt | |
| 15 Kinder sitzen auf dem Boden, drei weitere schauen neugierig hinter dem | |
| Vorhang hervor. Fliegen setzen sich auf die verschwitzte Haut. Jasin blickt | |
| zufrieden auf die Kleinen, die wie gebannt auf die junge Frau starren. | |
| Yeter, die Lehrerin, erläutert ihnen, wie sie sich zu verhalten haben, wenn | |
| sie auf alte Waffen stoßen – nicht anfassen, Erwachsene rufen. Ein Mädchen | |
| im Grundschulalter mit lockigen, strubbeligen Haaren erzählt mit heller | |
| Stimme, ihr Onkel sei durch eine Explosion am Auge verletzt worden. | |
| Viele Jugendliche streifen durch die Deponie und verkaufen das Metall und | |
| Plastik, das sie finden. Teilweise auch Munition. Die Deponie ist | |
| Haupteinnahmequelle für die Geflüchteten hier. Im Camp mangelt es an allem: | |
| sauberem Wasser, Strom. Einige Bewohner*innen haben sich Solarpanels | |
| gekauft, NGOs helfen mit Sanitäranlagen, doch die Grundinfrastruktur fehlt. | |
| Einige dieser Kinder sind hier geboren, von der Welt haben sie nur das | |
| Zeltlager und diese Müllhalde gesehen. | |
| „Manche Leute hier sagen, das Leben unter dem IS war schlecht, weil sie | |
| Menschen enthauptet haben. Aber sie haben fünf Kilo Fleisch gekauft, die | |
| Leute jetzt eins“, erzählt Francis mit einem bitteren Lächeln in dem | |
| Kombiwagen, auf der Rückfahrt vom Camp. | |
| Der Veteran blickt durch die Sonnenbrille aus dem Fenster, auf die öde, | |
| faul riechende Fläche, die braune Kefija um den Hals. Er deutet auf eine | |
| Gruppe verschleierter Frauen, die am Straßenrand wartet. Unklar ist, ob sie | |
| Tagelöhner*innen sind oder auf eine Fahrtmöglichkeit in die Stadt | |
| warten. Die Wirtschaft hat in der Region stark gelitten, nicht nur im | |
| Flüchtlingscamp sind die Lebensbedingungen harsch. | |
| Raqqa, die ehemalige Hauptstadt des IS-Kalifats, 220.000 | |
| Einwohner*innen bei der letzten Volkszählung vor 20 Jahren, hat die | |
| Narben des Konflikts inzwischen gut kaschiert. Neue, einigermaßen glänzende | |
| Gebäude entstehen gerade, ihre Säulen aus Zement ragen wie Skelette in den | |
| Himmel. Neonlichter erhellen die Nacht. | |
| Doch immer wieder sieht man hinter vergessenen Ecken Überbleibsel einer | |
| nicht zu fernen Vergangenheit. Trümmer, die zwischen dem Müll noch auf dem | |
| Boden liegen. Verstaubte, verrostete Rollläden, die seit Jahren niemand | |
| renoviert hat. Zerbombte Wände, durchlöcherte Mauern. Frauen, die | |
| vollverschleiert entlang der staubigen Gassen schlendern. Teenager, die | |
| neben Reihen von gelblich gefüllten Kanistern am Straßenrand auf | |
| Kund*innen warten. Tankstellen gibt es hier nicht. | |
| So wie die Stadt zeigt auch das staatliche Krankenhaus die Spuren des | |
| Kriegs. Die Klinik, ein runder Bau aus nackten Ziegeln und durchsiebten | |
| Mauern, wurde mindestens dreimal von Raketen getroffen. Drinnen reihen sich | |
| Tragen entlang der Wände, von denen der Putz teilweise abgeblättert ist. In | |
| der Luft hängt ein Geruch von Urin und Desinfektionsmittel. | |
| 24 Stufen sind es bis zum Rehabilitationszentrum im Untergeschoss. Für | |
| diejenigen, die sie hinuntergehen können. Für die anderen steht ein | |
| Fahrstuhl in der Ecke. Etwa für Ibrahim, der eigentlich anders heißt, und | |
| auf einer Trage im Behandlungsraum liegt. Er schaut weg, irgendwo auf die | |
| Wand, auf einen Punkt oder einen Ort, der sich ganz klar nicht in diesem | |
| Raum befindet. Er schweigt. | |
| ## Vor einer Woche trat er auf eine Landmine | |
| Ibrahims Bein endet kurz unter dem Knie und ist in einen weißen, sterilen | |
| Verband eingehüllt. Sein Bruder erzählt seine Geschichte, da Ibrahim nicht | |
| dazu in der Lage ist. | |
| Ibrahim, 22 Jahre alt, sportliche Figur in gelbem T-Shirt und hellblauen | |
| Shorts, eine Infusionsnadel an der Hand und eine OP-Maske auf dem Mund, ist | |
| vor einer Woche auf eine Landmine getreten. In Raqqas Umland, als er mit | |
| einem Freund dessen verlassenes Haus besuchen wollte. Er habe die Mine beim | |
| Betreten des Gebäudes nicht gesehen. Nach der Operation hat man ihn hier | |
| hergeschickt, um die Rehabilitation zu starten. Nur die erste Etappe eines | |
| langen Wegs. | |
| Ibrahim hat ab und zu noch Schmerzen, die seelischen sind noch stärker als | |
| die körperlichen. Vor dem Unfall spielte er gern Fußball, arbeitete als | |
| Bauer auf den Feldern. Jetzt ist alles auf Halt, er muss mit Physio- und | |
| Psychotherapie anfangen. Es geht nun darum, selbstständig aus dem Rollstuhl | |
| aufzustehen. Wie lange es bis dahin dauert, das weiß noch keiner. | |
| Jemand, der hingegen die 24 Stufen ins Rehazentrum schon hinabsteigen kann, | |
| wenn er will, ist Ahmed Haj Khalaf. Khalaf ist heute 18 Jahre alt. Als er | |
| zehn war, schlenderte er entlang der Straße. Jemand schrie, daran erinnert | |
| er sich noch. Doch er verstand die Worte nicht. Dann explodierte der Boden | |
| unter Khalafs Füßen. Unter seinem rechten Fuß, um genauer zu sein. | |
| Khalaf erinnert sich daran, dass ein Nachbar ihn vom Boden hob und ins | |
| Krankenhaus brachte. Schmerz verspürte er nicht, verlor aber seinen rechten | |
| Unterschenkel. Und damit auch vieles von dem, was er liebte. Tennis, | |
| Fußball, mit Freunden abhängen. Er verließ die Schule. | |
| Doch dann ändert sich etwas. Akzeptanz, vor allem. Dass nichts mehr so wie | |
| früher sein könnte, dafür anders. Er bekam eine Prothese, entwickelte eine | |
| Leidenschaft fürs Malen. Heute arbeitet Khalaf in einem Restaurant. Auf den | |
| Füßen fast den ganzen Tag, teilweise hat er Schmerzen. Die Arbeit im | |
| Restaurant, an den Tischen, ist hart auf der Prothese. Gern möchte er den | |
| Beruf wechseln, aber wer könnte ihn ohne Bein aufnehmen? Ein Bürojob | |
| vielleicht – ohne Schulabschluss? | |
| ## Die Behandlung ist kostenlos | |
| Inzwischen ist Khalaf fast jede Woche im Rehabilitationszentrum, er kennt | |
| die Namen aller, sogar der Putzfrau. Das sagt eine Mitarbeiterin und | |
| lächelt. Khalaf, in Trainingsschuhen und Hosen, die schwarzen Haare nach | |
| oben gegelt, stellt sich auf das Metallbein, steigt aufs graue Podest, | |
| stützt sich dann an die Parallelstangen und beginnt seine Übungen. | |
| Die Behandlungen sind hier kostenlos. Im Nebenraum misst gerade ein Mann in | |
| hellblauem Schutzanzug einen Beinstumpf aus Gips. Eine Frau mit Kopftuch | |
| und Schutzuniform schneidet einen Schaft aus Harz in Hautfarbe. Laminierung | |
| heißt der Prozess. Silikonfutter kommt auch noch dazu. Dann das Metallbein | |
| und der Fuß. Erst dann beginnt das Training. | |
| Zwei Jahre sollte eine Prothese halten, 600 US-Dollar kostet sie. Hinzu | |
| kommt die Physiotherapie. Ein Team von Therapeut*innen fährt für die | |
| Behandlungen täglich in vier Dörfer, in denen Amputierte leben. Und dann | |
| gibt es die Psychotherapie, nötig bei allen, die einen Arm oder Bein | |
| verloren haben, aber nur zögerlich in Anspruch genommen, weil sie noch | |
| immer stigmatisiert wird. | |
| Es sind hohe Kosten, die der Konflikt selbst Jahre nach seinem Ende | |
| fordert. Menschliche Kosten, finanzielle noch dazu. Wer keine NGO findet, | |
| der sie übernimmt, wer sie sich nicht leisten kann, muss ein Leben im | |
| Schatten führen. | |
| Jahrzehnte kann es dauern, bis alle nicht detonierten Sprengkörper | |
| beseitigt sind. In Deutschland finden Kampfmittelräumer*innen immer | |
| noch Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg, der nun 80 Jahre zurückliegt. | |
| Laut den Vereinten Nationen hat man zwischen Dezember und Februar 2025 im | |
| nördlichen Syrien mehr als 1.400 Blindgänger beseitigt. Die Finanzierung | |
| ihrer Entfernung sei wichtig, sagt Francis – aber auch die medizinische | |
| Ausstattung in den Kliniken. Und zügige Prozesse, weniger Bürokratie. | |
| Es ist Nachmittag. Hassan und sein Team werden schon längst fertig sein mit | |
| ihrer Arbeit, die schweren Schutzwesten und -helme abgestreift haben, | |
| zurück aus dem verminten Gefechtsfeld mitten im Nichts. Nach Hause, zu den | |
| Kindern, den Familien. Yeter und ihre Kolleg*innen werden den Unterricht | |
| bereits beendet haben, die Kinder werden zurückgekehrt sein in ihre Zelte | |
| und manche von ihnen auf die Müllhalde. Im Rehazentrum arbeiten die | |
| Therapeut*innen hingegen noch einigen Stunden mit den Patienten, um sie | |
| wieder auf die Beine zu kriegen. | |
| Der Kombiwagen mit Francis und seinen Kollegen steuert langsam in die | |
| engeren Gassen von Raqqa, biegt in einen Schotterweg ein, zwischen | |
| Bauschutt und einem verlassenen Bus, zurück in das von Mauern umgebene | |
| Gebäude, das als Zentrale und Gästehaus des Teams dient. Eine gut | |
| ausgestattete Küche und der Geruch von Kaffee warten auf die ausländischen | |
| Mitarbeiter*innen, die kein Zuhause und keine Familie in Syrien haben. | |
| Noch monatelang wird Veteran Francis in Syrien bleiben und Menschen wie | |
| Hassan ausbilden, die jeden Tag ihr Leben für ihr Land riskieren. Um es | |
| wieder bewohnbar zu machen, um die Spuren des Kriegs zu beseitigen. Für die | |
| Kinder der anderen. Für die eigenen. | |
| 13 Dec 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.handicap-international.de/de/homepage | |
| [2] /Jahrestag-von-Assads-Sturz-in-Syrien/!6135820 | |
| ## AUTOREN | |
| Serena Bilanceri | |
| ## TAGS | |
| Longread | |
| wochentaz | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| Landminen | |
| GNS | |
| Social-Auswahl | |
| Podcast „Fernverbindung“ | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ein Jahr nach dem Sturz von Assad: Wie hoffnungsvoll ist die Situation in Syrie… | |
| Ein Jahr nach dem Sturz von Assad feiern Hunderttausende im ganzen Land, | |
| und Leben kehrt zurück in das Land. Doch ganz ungetrübt ist die Freude | |
| nicht. |