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# taz.de -- Parteitag der Grünen: Neue emotionale Heimat für Stahlkocher und …
> Die Grünen fordern auf ihrem Parteitag sozialen Klimaschutz und eine
> Musterungspflicht. Und feiern vor den Wahlen im Südwesten Cem Özdemir.
Bild: Cem Özdemir wirbt in seiner Rede für pragmatische Politik
Die Delegierten applaudieren schon begeistert, bevor er ein einziges Wort
gesagt hat. Cem Özdemir kommt am Sonntagvormittag gut gelaunt auf die Bühne
des Parteitags der Grünen in Hannover. Er will bei den
baden-württembergischen Landtagswahlen im kommenden März Nachfolger des
bislang einzigen grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann werden.
Und zwar „mit Tatkraft, mit politischer Erfahrung und mit gesundem
Menschenverstand“, ruft er in den Saal.
Özdemir ist ein Hoffnungsträger für die Grünen, und er ist gleichzeitig ihr
Widersacher. Wie Kretschmann wendet er sich immer wieder gegen grüne
Programmatik, zuletzt gegen ein Festhalten am Zulassungsaus für neue
Verbrennerautos ab 2035 – eine Position, die er seinen
Parteifreund:innen an diesem Sonntagvormittag erspart.
In Hannover sucht Özdemir nicht den ganz offenen Konflikt mit der Partei.
Aber es wird ihm kaum gefallen, was die Delegierten am Vortag beschlossen
haben. Und sein Hadern mit der Partei verbirgt er auch nicht vollständig.
Manchmal ärgere er sich riesig über die Grünen, sagt er. „Weil wir nicht
die Debatten führen, die die Mehrheit führt.“ Mehrfach bezieht er sich
positiv auf den früheren grünen Außenminister Joschka Fischer, verteidigt
die grüne Haltung im Jugoslawienkrieg und die Einführung von Hartz IV.
Vor allem gibt sich Özdemir als Brückenbauer zur Wirtschaft: „Klimaschutz
gibt es nur mit der Wirtschaft zusammen, nicht gegen die Wirtschaft“. Er
will, dass das „Auto der Zukunft“ in Baden-Württemberg und den anderen
Standorten der deutschen Autoindustrie vom Band läuft. Wenn die Grünen so
einen Zukunftspakt schließen wollen, sei das nur gemeinsam mit den
Unternehmen möglich. Und nicht mit „radikalen Sprüchen“ und „Parolen aus
Wolkenkuckucksheim“. „Immer das Beste fürs Land, in diese Tradition will
ich mich einreihen“, schließt er seine Rede.
## Emotionale Heimat für Stahlkocher
Danach steht der Saal, das Publikum applaudiert minutenlang, nur einige aus
Berlin-Kreuzberg bleiben sitzen. Indem die Delegierten Özdemir derart
feiern, dementieren sie vieles von dem, was sie beschlossen haben. Die
Grünen sind am Wochenende [1][zu ihrem ersten Parteitag nach der verlorenen
Bundestagswahl] zusammengekommen. Das Wahlergebnis steckt vielen in
Hannover noch in den Knochen. Etliche haben sich die Kritik zu eigen
gemacht, die Grünen seien nicht nah genug bei den „normalen“ Menschen, zu
bevormundend und abgehoben – und eine Partei für die Wohlhabenden.
Solche Zuschreibungen wollen sie in Hannover hinter sich lassen. Die Grünen
sollten „emotionale Heimat“ sein für den Stahlkocher, die
Rossmann-Kassiererin, den Daimler-Arbeiter am Band und den Paketboten, sagt
Co-Parteichef Felix Banaszak in der Debatte über sozialen Klimaschutz am
Samstag. Flugscham war gestern. Heute haben die Grünen Empathie für die,
die von ihrem zusammengesparten Geld einmal im Jahr nach Mallorca fliegen
oder Angehörige in der Türkei besuchen. Das soziale Profil der Partei soll
geschärft werden. Von einem „Paradigmenwechsel“ spricht Banaszak – von
einer Neujustierung der grünen [2][Klimapolitik]. Er will fossile
Geschäftsmodelle stärker belasten. „Dieser wirkmächtige Lobbyismus hat sich
gezeigt auf der Weltklimakonferenz“, sagt Banaszak. Diesem fossilen
Lobbyismus würden die Grünen nun den Kampf ansagen. Das ist das Gegenteil
von Özdemirs Vorstellungen von einem Zukunftspakt mit der Autobranche.
Eine ganze Reihe von Punkten soll die neue grüne soziale Klimapolitik
untermauern. Dazu gehören die Einführung eines sozial gestaffelten
Klimageldes, die Wiedereinführung des 9-Euro-Tickets und Abgaben, die
fossile Konzerne auf Gewinne zahlen sollen. Privatjets sollen höhere
besteuert werden. Die Bundesländer sollen die Möglichkeit bekommen,
Mietendeckel zur Begrenzung der Wohnkosten einzuführen.
## Grüne für Zwangs-Musterung
Beim Parteitag in Hannover klären die Grünen auch ihre Haltung in der
Wehrdienst-Debatte. Die Einführung einer Dienstpflicht steht nicht zur
Abstimmung, das will die Partei in den kommenden Monaten klären. In der
Nacht zu Sonntag geht es um eine Musterungspflicht für junge Männer. Die
Grüne Jugend lehnt das ab. Bundessprecher Luis Bobga kritisiert: Über seine
Generation werde gesprochen, „als wären wir faul und verantwortungslos,
während wir täglich das Gegenteil beweisen“. Eine verpflichtende Musterung
sei „nichts anderes als ein erster Schritt hin zu einer Wehrpflicht durch
die Hintertür“.
Für die Pflicht zur Musterung macht sich Parteichef Banaszak stark. „Sind
wir bereit, das auszubuchstabieren, was wir seit Februar 2022 so konsequent
vertreten? Gehen wir auch dann ehrlich in die Frage, wenn es uns weh tut?“,
fragt er rhetorisch. Ein Auftritt mit Erfolg: Die Delegierten stimmen für
den Zwang zur Musterung – wie von den Fachpolitiker*innen der grünen
Bundestagsfraktion gewünscht.
Im Anschluss, es geht schon auf 1 Uhr zu, stimmt der Parteitag über eine
zweite Frage von Krieg und Frieden ab: über Waffengeschäfte mit Israel. Es
sei „unangemessen“, dass die Bundesregierung schon jetzt
Exportbeschränkungen aufgehoben habe, heißt es in einem Antrag, der vom
Bundesvorstand unterstützt wird. Waffen, die völkerrechtswidrig gegen Gaza
eingesetzt werden könnten, sollten weiterhin nicht geliefert werden – ein
generelles Waffenembargo sei aber falsch. Dem entgegen steht ein Antrag,
gar nichts mehr zu liefern. Bei der Abstimmung verliert er deutlich.
Auch in anderen Punkten klären die Grünen an diesem Wochenende, wie sie zum
Krieg in Gaza stehen – oder nähern sich einer Klärung zumindest an. Während
der Ampel-Zeit und im Bundestagswahlkampf gab es Hemmungen, Kontroversen
auszutragen. Nach der Wahlniederlage richtete Parteichefin Franziska
Brantner eine Kommission ein und brachte die verschiedenen Lager an einen
Tisch. Drei Punkte, so Brantner in Hannover, seien Grundlage für die
Debatte in der Partei: Nicht verhandelbar seien das Existenzrecht Israels,
das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser und „die Würde eines jeden
Menschen“. Sie sei stolz darauf, dass es die Partei geschafft habe, auf
dieser Basis miteinander zu sprechen.
30 Nov 2025
## LINKS
[1] /Die-Gruenen-vor-ihrem-Parteitag/!6131119
[2] /Klima/!t5011141
## AUTOREN
Anja Krüger
Tobias Schulze
## TAGS
Bündnis 90/Die Grünen
Parteitag
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