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# taz.de -- Die Wahrheit: Ausgegraben und verkrustet
> Nach dem jähen Erwachen aus einem grotesken Albtraum tritt im dunklen
> Garten der Gedanken ein Klangkörper der Hoffnungslosigkeit auf.
Mit aller Kraft wusste ich nicht, was ich erleben sollte. An diesem Punkt
hätte das Ende eintreten können, doch stattdessen waren es ein paar,
genauer: vier Gestalten, die aussahen, als hätte sie jemand im Garten
ausgegraben.
Weil es meine Art war, weder optisch noch akustisch richtig wahrzunehmen,
dachte ich, sie stellten sich vor mit den Worten: „Wir sind Ihre
Streichquartette.“ Es zeigte sich dann aber, dass die vier nicht
behaupteten, die von mir komponierten Streichquartette zu sein, sondern
vielmehr das Quartett-Ensemble, das angeblich meine Streichquartette
uraufgeführt hatte.
Sich selbst bezeichneten sie als „Klangkörper der Hoffnungslosigkeit“. Mir
war indessen nicht erinnerlich, jemals auch nur ein einziges
Streichquartett komponiert zu haben. Ich konnte nicht einmal Noten lesen.
Offenbar wussten meine Besucher mehr als ich.
„Führen Sie mich bitte behutsam an diesen Sachverhalt heran“, sagte ich zu
ihnen, wobei ich Wert darauf legte, erlebnisfähig zu wirken. Meine Hoffnung
war, das würde mir helfen herauszufinden, was ich erleben sollte. Die irden
Verkrusteten forderten mich auf, ihnen zu folgen. Zweifellos wollten sie
hinaus auf die Straße, doch da war ich schon gewesen und wollte denselben
Fehler kein zweites Mal machen. Ohne sich zu rechtfertigen, versetzten sie
mich über den Hüftschalter in Schlaf. Es war schrecklich.
Schrecklich war auch mein Erwachen in einer völlig fremden Umgebung. Ich
fand mich in einer kargen, unbewohnten Gegend wieder. Als einzige Zeugnisse
menschlicher Anwesenheit ragten im Abstand weniger Meter zwei große Tafeln
aus der leeren Landschaft. Beide waren jeweils an den oberen Enden eines
Paars hoher Holzpfosten befestigt. Auf der linken stand in etwas ungelenken
Großbuchstaben „WAGEN“, auf der rechten „ABWAGEN“.
Was sind Abwagen?, rätselte ich. Der Begriff schien hierzulande
gebräuchlich zu sein, denn dass jemand die Tafeln nur zum Scherz
aufgestellt haben könnte, hielt ich für unwahrscheinlich. In Lagen wie
meiner augenblicklichen versuchte ich stets instinktiv, den nächsten
Bahnhof zu finden, um – wenn möglich – nach Hause zu fahren.
Allerdings war ich nie zuvor in einer derart verlassenen Gegend zu mir
gekommen wie diesmal. Einen Bahnhof zu finden, schien hier gänzlich
ausgeschlossen. Nächst dem Bedürfnis, nach Hause zu fahren, war mir der
Gedanke „Ich muss Geld verdienen“ so natürlich wie das Atmen bei lebendigem
Leibe.
Da, wo ich mich jetzt befand, war aber kein Geld zu verdienen. Also
beschloss ich, so lange zu gehen, bis mir eine Verdienstmöglichkeit
begegnete. Die Himmelsrichtung spielte beim Gehen keine Rolle, weil es
ringsum bis zum Horizont gleich öde und leer aussah.
So erreichte ich den Ort Oberabwagen, wo ich nach einer schlechten Nacht
überrraschend der Uraufführung und Rehabilitation meiner vier posthum
komponierten Streichquartette beiwohnte.
30 Oct 2025
## AUTOREN
Eugen Egner
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Albtraum
Groteske
Musik
Fantasy
Kolumne Die Wahrheit
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