| # taz.de -- Pankower Senior*innen-Widerstand: Ein Ort gegen die Einsamkeit | |
| > Eine Begegnungsstätte in Pankow wurde 2012 von Senior*innen besetzt, | |
| > um den Fortbestand zu sichern. Jetzt ist sie wieder von Schließung | |
| > bedroht. | |
| Bild: Die Vereinsmitglieder der Stillen Straße 10 kämpfen um ihren Fortbestand | |
| taz | Sie erinnert sich gerne zurück an die Besetzung, während sie in der | |
| Küche steht und Kamillentee kocht. „Oma macht jetzt Occupy, hat die taz | |
| damals geschrieben“, erzählt Eveline Lämmer amüsiert. [1][Das Medienecho | |
| sei riesig gewesen], als die Senior*innen aus Pankow damals kurzerhand | |
| beschlossen, ihren Begegnungsort zu besetzen. | |
| Vor der alten, braunen Villa in einer ruhigen Wohngegend sind einige Banner | |
| aufgespannt, die schon vermuten lassen, dass es sich hier um keinen | |
| gewöhnlichen Senior*innentreff handelt. „Für Solidarität ist's nie zu | |
| spät“ ist da zu lesen, „Stille 10 wird laut“ und „Das ist unser Haus�… | |
| Im großzügigen Garten hinter dem Haus finden sich nach und nach Menschen | |
| ein. Vor allem ältere Menschen treffen sich hier, aber auch einige junge | |
| Aktivist*innen haben sich an diesem kalten, aber sonnigen | |
| Samstagnachmittag auf den Weg gemacht, um sich mit der Stillen Straße 10 in | |
| Pankow solidarisch zu zeigen. Die Senior*innentreff wollen an diesem | |
| Tag [2][auf ihre Lage aufmerksam machen und zu Spenden aufrufen.] Die Leute | |
| essen Bratwürste und Kuchen, trinken Glühwein und Kaffee und warten auf die | |
| erste Rednerin. | |
| ## Rebellische Vergangenheit | |
| Das alte Gebäude dient schon lange als Treffpunkt und Veranstaltungsort für | |
| Senior*innen. Hier treffen sich jeden Tag Menschen für Sportkurse, | |
| Fremdsprachunterricht, Mal- und Chorgruppen. Als das Bezirksamt Pankow im | |
| Jahr 2012 mit Schließung drohte, entschieden die Rentner*innen, sich zu | |
| widersetzen. Entschlossen, aber in Besetzungen unerfahren, [3][zogen damals | |
| sechs Rentner*innen mit Matratzen und Schlafsäcken ins Haus ein.] | |
| Das Interesse an den aufständischen Alten war groß: Medien aus aller Welt | |
| kamen zur Stillen Straße 10, um von der Besetzung zu berichten, | |
| Nachbar*innen halfen mit Reparaturen und Verpflegung aus, junge | |
| Aktivist*innen waren beeindruckt und halfen, Demonstrationen zu | |
| organisieren. Auf einmal kamen die Senior*innen also, anfangs noch mit | |
| Berührungsängsten, in Kontakt mit jungen Leuten aus Kreuzberg – „alle in | |
| Schwarz gekleidet, mit Piercings im Gesicht und überall Tätowierungen“, wie | |
| in dem Buch [4][„Die unbeugsamen Alten der Stillen Straße 10“] nachzulesen | |
| ist. | |
| Darin wird beschrieben, dass selbst prominente Politiker*innen wie | |
| Gregor Gysi und Hans-Christian Ströbele vorbeikamen, um sich einen Eindruck | |
| zu verschaffen. „Wenn sie geräumt werden sollten, rufen Sie mich vorher | |
| an“, soll Gysi wohl gesagt und den Besetzer*innen seine Unterstützung | |
| zugesichert haben. Am Ende verbrachten die Besetzer*innen 112 Nächte in | |
| der Villa. Eveline Lämmer, die damals nicht mit besetzt, aber aktiv | |
| unterstützt hat, erzählt heute noch gerührt von der Solidarität, die sie | |
| damals erfahren haben. | |
| ## Erneute Sorgen | |
| Nachdem die Senior*innen sich den Fortbestand des Hauses 2012 schon | |
| einmal erkämpfen mussten, droht nun wieder die Schließung. Bisher duldete | |
| das Bezirksamt Pankow die Weiterführung der Begegnungsstätte unter der | |
| Bedingung, dass es selbst keine finanzielle Hilfe leisten müsse. Das | |
| übernahm bis jetzt der Wohlfahrtsverband Volkssolidarität Berlin, doch auch | |
| der kann dafür nicht mehr aufkommen. Wenn sich also nicht genügend | |
| finanzielle Mittel finden sollten, könnte das Projekt bald scheitern. Der | |
| Nutzungsvertrag läuft zum Ende des Jahres aus. | |
| Nachdem sich inzwischen dutzende Menschen im Garten zusammengefunden haben, | |
| geht Eveline Lämmer nach vorne und begrüßt Mitglieder und | |
| Unterstützer*innen. „Wir wollen nicht wie so viele andere Begegnungsstätten | |
| dem aktuellen Sparhaushalt zum Opfer fallen“, sagt sie. Sie ist aber | |
| zuversichtlich, dass sie ihren Treff weiter erhalten können: „Die Kraft | |
| dafür haben wir, wir sind unerbittlich.“ | |
| Sie erzählt stolz von den Strukturen ihres Vereins. Alle im Vorstand seien | |
| gleichberechtigt, es gebe keine Hierarchien. Der Verein sei bereit, den Ort | |
| ab Januar selbst zu verwalten. Es klingt so, als gebe es für sie auch gar | |
| keine andere Option: So wie man Essen und Schlaf brauche, „brauchen wir | |
| auch Orte, um uns zu begegnen“, sagt Eveline Lämmer. | |
| Nach ihr kommt Dominique Krössin zu Wort, Bezirksstadträtin für Soziales | |
| von den Linken. Sie will ihre Unterstützung ausdrücken, ist aber auch | |
| vorsichtig: Sie wolle keine so „feurigen Reden schwingen“ wie ihre | |
| Vorrednerin. Das Haus habe eben erheblichen Sanierungsbedarf und auch die | |
| Betriebskosten müssten langfristig sichergestellt werden. | |
| ## Solidarität von Unterstützer*innen | |
| Elke Breitenbach, die für die Linken im Abgeordnetenhaus sitzt, ist weniger | |
| zurückhaltend. Sie findet es „erbärmlich, dass wir jetzt wieder hier | |
| stehen“. Immer wieder wären die Senior*innen mit befristeten Verträgen | |
| vertröstet worden. Sie überreicht dem Verein eine 2.000-Euro-Spende von der | |
| Linksfraktion im Abgeordnetenhaus und verspricht: „Falls es wieder dazu | |
| kommen sollte, besetze ich mit.“ | |
| Im Laufe des Nachmittags tritt dann noch der Sänger Frank Viehweg auf, der | |
| mit der Gitarre Stücke im Stil alter linker Liedermacher spielt. Auch | |
| einige andere, alte wie junge Unterstützer*innen und Mitglieder des | |
| Vereins kommen noch vor ans Mikrophon, um von ihren Erfahrungen mit der | |
| Begegnungsstätte zu erzählen und den Rentner*innen Mut zu machen. | |
| Sie sind sich einig: Dem Sparkurs der Politik muss klar entgegengetreten | |
| werden. Es wäre ein Zeichen fehlender Wertschätzung gegenüber den Alten in | |
| unserer Gesellschaft, dass kein Geld für Orte wie diesen in die Hand | |
| genommen wird. | |
| Die Einsamkeit in unserer Gesellschaft nehme spürbar zu, und die Stille | |
| Straße 10 sei eine „Waffe gegen die Einsamkeit“, sagt eine Rednerin und | |
| zeigt auf das Gebäude. Rentner*innen „sind keine Randgruppe, die man | |
| einfach so verdrängen kann“, man müsse ihnen „wirkliche Anerkennung und | |
| Liebe zeigen“, so die Unterstützerin. | |
| Zwei junge Aktivist*innen, die aus Weißensee gekommen sind, berichten der | |
| versammelten Menge von der Besetzung des Bierpinsels in Steglitz, die am | |
| Morgen dieses Tages stattgefunden hat. Eveline übermittelt den | |
| Aktivist*innen daraufhin solidarische Grüße von den „ältesten Besetzern | |
| der Welt“. | |
| ## Erneute Besetzung nicht ausgeschlossen | |
| Während es langsam dunkel wird und das Lagerfeuer beginnt, beschreibt | |
| Stephan Quitta im Gespräch mit der taz die Probleme noch etwas genauer. Als | |
| Vorstandsmitglied des Vereins hat er seit langem die Verhandlungen zwischen | |
| ihnen und dem Bezirksamt miterlebt. Eines scheint klar: Vom Bezirk Pankow | |
| könne man wohl weiterhin keine finanzielle Hilfe erwarten. Durch die | |
| Spenden könne man sich wohl noch ein Jahr über Wasser halten, aber | |
| langfristig könne es so nicht funktionieren. | |
| Eveline Lämmer sagt zur taz, der Bezirk wolle keinen unbefristeten | |
| Nutzungsvertrag eingehen, solange die Fördergelder nicht langfristig | |
| gesichert sind. Gerade den unbefristeten Vertrag bräuchten sie aber | |
| erstmal, um bei Stiftungen und Verbänden Fördermittel zu beantragen und | |
| Veranstaltungen planen zu können. | |
| Bei allen Schwierigkeiten ist an diesem Samstag dennoch spürbar, wie | |
| wichtig diese Begegnungsstätte den Senior*innen ist. Es gibt hier | |
| einige, die zur Not auch bereit wären, das Haus wieder zu besetzen: „Wer | |
| sich nicht wehrt, der lebt verkehrt“, zitiert eine der | |
| Unterstützer*innen aus der Außerparlamentarischen Opposition. | |
| 20 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /BesetzerInnen-der-Stillen-Strasse/!118797/ | |
| [2] https://stillestrasse.de/schliessung-der-begegnungsstaette-fuer-jung-und-al… | |
| [3] /Interview-mit-einer-Senioren-Besetzerin/!5089407 | |
| [4] https://www.rohnstock-biografien.de/veroffentlichugen/buch-stille-strasse-1… | |
| ## AUTOREN | |
| Anselm Mathieu | |
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