Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Sprachreform in Estland: Russisch nur noch in der Pause
> Estland lehrt Estnisch verpflichtend als Unterrichtssprache. Wie kommt
> das bei der russischsprachigen Minderheit an?
Bild: Estnische Schüler:innen feiern 30 Jahre Unabhängigkeit von der Sowjetun…
taz | Tallin Als im September in Estland das neue Schuljahr begann, hörten
einige Schüler*innen morgens zur Begrüßung plötzlich eine andere Sprache
als noch vor den Sommerferien. Statt wie gewohnt mit dem russischen Gruß
„Zdravstvujte“ wurden die Zweit- und Fünftklässler*innen an den 50
russischsprachigen Schulen im Land mit den estnischen Worten „Tere
tulemast“ begrüßt, die in großen Kreidelettern auf die Tafeln geschrieben
standen.
Estland, im Süden an Lettland, im Osten an Russland grenzend, steht aktuell
vor einer der größten Bildungsreformen, seit die Sowjetunion 1991 zerfiel
und das Land unabhängig wurde: Das Land stellt das komplette öffentliche
Schulsystem auf die Unterrichtssprache Estnisch um. Denn bislang
unterrichteten gut zehn Prozent der Schulen nahezu vollständig auf
Russisch. Bis 2030 soll die im vergangenen Jahr begonnene Maßnahme
abgeschlossen sein. Erklärtes Ziel der Reform: den Teil der Bevölkerung,
der Russisch als Muttersprache spricht, besser zu integrieren.
Rund ein Viertel der knapp 1,4 Millionen Einwohner:innen Estlands
gehört zur russischen Minderheit im Land, ein Erbe aus Sowjetzeiten. Der
Anteil der russischsprachigen Bevölkerung – weil sie ukrainische oder
belarussische Wurzeln hat – [1][liegt mit rund 30 Prozent sogar noch
höher.] Der Umfang ihrer Estnischkenntnisse ist meist sehr begrenzt.
Während einige im Land die Sprachreform als längst überfällig sehen, um die
gesellschaftliche Spaltung des Landes zu überwinden, üben andere Kritik.
Die Reform erfolge mit der Brechstange, nehme die russischsprachige
Bevölkerung nicht wirklich mit. Denn hinter der vermeintlichen
Integrationsmaßnahme steht natürlich auch der Versuch der Abgrenzung vom
russischen Nachbarn: Viele der russischen Muttersprachler*innen im
Land informieren sich weiterhin über Medien, die die Propaganda des Kremls
verbreiten. Die Sprachreform an den Schulen ist auch ein Kampf gegen
russische Einflussnahme im Land
Kristina Kallas ist seit zwei Jahren estnische Bildungsministerin. Die
49-Jährige ist selbst estnisch-russisch. Minderheitenrechte und Integration
hat sie zu ihren politischen Schwerpunkten erklärt – und nun hat sie die
Aufgabe, Estland von seinem sowjetischen Erbe in der Bildungspolitik zu
trennen. Dafür reist sie kreuz und quer durchs Land, besucht Schulen, wirbt
für Akzeptanz und gibt zwischendurch Interviews per Zoom von der Rückbank
ihres Dienstwagens.
„Die russischen Schulen stammen aus den 1950ern, nachdem die Sowjetunion
die heutigen baltischen Staaten besetzt hatte“, erklärt Kallas auf einer
dieser Fahrten. Russland brachte Immigrant:innen aus allen Teilen der
UdSSR als Arbeitskräfte in das kleine Land. Für sie wurden separate Schulen
nach russischem System aufgebaut. „Als die Sowjetunion 1991 zerfiel, hatten
wir auf einmal etwa 100 Schulen im Land, die nicht zu uns gehörten“, sagt
die Ministerin. Also überführte der Staat sie ins estnische System. Was man
jedoch nicht anfasste, waren die Unterrichtssprache und das Lehrpersonal:
„Auf einmal sollten sowjetische Lehrkräfte estnische Geschichte
unterrichten, das funktionierte einfach nicht.“
Bemühungen, diese Schulen von Russisch auf Estnisch umzustellen, gab es
immer wieder. Etwa, als die Regierung 2011 beschloss, ab der 10. Klasse
mindestens 60 Prozent des Unterrichts auf Estnisch abzuhalten. „Russland
skandalisierte das damals als Assimilation und Apartheid“, sagt Kallas.
Also ruderte die Politik zurück. Doch seit Russlands Überfall auf die
Ukraine im Februar 2022 habe sich die Situation grundlegend geändert.
„Russland hat sein Recht verwirkt, für die russischen Communitys zu
sprechen“, sagt Kallas.
Spätestens seit 2022 geht in Estland ein immer größerer Teil der
Russ:innen auf Distanz zu Putin. Eine Umfrage der
Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Mai 2023 stellte fest, dass [2][zwei
Drittel der russischsprachigen Befragten in Estland unzufrieden mit seiner
Politik sind] – auch wenn die Gruppe den Krieg deutlich ambivalenter
betrachtet als die estnischstämmige Bevölkerung. Kallas sieht eine Chance,
die Reform endlich umzusetzen. „Für uns hieß das: Jetzt oder nie.“
Tatsächlich ist Estland sowohl geografisch als auch sozioökonomisch stark
nach Sprache getrennt. Die russische Minderheit lebt vor allem im Nordosten
des Landes, nahe der Grenze zu Russland, und in der Hauptstadt Tallinn. Im
bevölkerungsreichsten Tallinner Stadtteil Lasnamäe, der in den 70ern als
Plattenbausiedlung für die Zuwanderer:innen angelegt wurde, sind bis
heute mehr als die Hälfte der Einwohner Russ:innen. In der Grenzstadt
[3][Narva, der drittgrößten des Landes, sind es sogar fast 90 Prozent.]
## Die russischsprachige Szene ist sehr isoliert
Vielen der russischen Muttersprachler:innen verschließen sich
Karriere- und Aufstiegschancen, da sie nicht die nötigen Sprachkenntnisse
haben. Denn um an einer Universität zu studieren, braucht es gute
Estnischkenntnisse. Auch in vielen Berufen ist Estnisch eine
Grundvoraussetzung. Und während immer mehr Est:innen Englisch und andere
Fremdsprachen lernen, beherrschen 40 Prozent der Russ:innen in Estland
nur ihre Muttersprache. Die Statistiken setzen sich fort: Russischstämmige
Est:innen haben höhere Arbeitslosenquoten, geringere Einkommen und
schätzen ihren Gesundheitszustand als generell schlechter ein. Und auch
kulturell sind Russ:innen in Estland im Vergleich zu ihrem
Bevölkerungsanteil eher unterrepräsentiert.
Inmitten des hippen Tallinner Stadtviertels Kalamaja, in dem sich bunt
bemalte Holzhäuser adrett aneinanderreihen, liegt die Bar Heldeke. Der
Eingang befindet sich die Treppe hinunter im Kellergeschoss und führt in
einen Barraum mit einer Bühne, die von einem roten Samtvorhang
abgeschlossen wird. Wer in den Backstage-Bereich tritt, den grüßen eine
eingebaute Holzsauna sowie direkt daneben ein mit Kacheln gefliester Raum
samt Dusche und Kaltwasserpool.
Heldeke war früher ein Bordell, bis der Australier Dan Renwick das Gebäude
vor neun Jahren übernahm und es zu einem Hotspot der lokalen Kulturszene
umbaute. Heute ist die Bar einer der Hauptspielorte des alljährlichen von
ihm ausgerichteten Theater- und Performancefestivals „Tallinn Fringe“, das
überall in der Stadt Kleinkunst darbietet. Das reicht von Straßentheater,
Konzerten und Stand-up-Comedy bis hin zu Cabaret und Burlesque.
Eine der Künstlerinnen, die eng mit der Tallinn Fringe verbunden ist, ist
Jana Levitina. Sie kommt aus der russischen Minderheit im Osten des Landes,
hat aber auch jüdische und ukrainische Wurzeln. In Erscheinung tritt sie
einerseits als Stand-up-Comedienne und Co-Gründerin des FLINTA-Kollektivs
„Pussy Jam Comedy“. Auf der Bühne thematisiert sie ihre slawische Herkunft
und ihr Verhältnis zu Estland, arbeitet sich aber auch an Themen wie
Sexismus und Kapitalismus ab.
Gelegentlich schlüpft Levitina noch in ein ganz anderes Outfit. Dann trägt
sie dick aufgetragenes Make-up mit asymmetrischem Lippenstift, eine
rotbraune Perücke, von der ein Stoffhase baumelt, und ein buntes Kleid, das
aus allerlei pastellfarbenen Tüllfetzen besteht. Als Drag Princess lebt sie
eine performative Weiblichkeit aus, die ihr das Patriarchat im Alltag nicht
zugestehe, wie sie sagt. Gespickt sind ihre Shows dabei mit reichlich
Selbstironie und einer atemberaubenden Fülle an Wortwitzen.
Im vergangenen Jahr hat Levitina ein zweiwöchiges Mini-Comedy-Festival im
Rahmen der Fringe organisiert: Die Hälfte des Programms war auf Englisch,
die andere auf Russisch. Für Letzteres traten vor allem Komiker auf, die
Russland, Belarus oder die Ukraine wegen des Krieges oder aus politischen
Gründen verlassen mussten. „Wir haben damit ein neues Publikum erschlossen,
aber die Resonanz war trotzdem leider eher gering“, sagt sie.
„Das Problem ist, dass die russischsprachige Szene sehr isoliert ist und
dadurch stark durch russische Expats und Comedians geprägt wird, die immer
noch in Russland auftreten.“ Obwohl Levitinas Muttersprache Russisch ist,
performt sie deshalb fast ausschließlich auf Englisch. Dennoch sei es
wichtig, das russischsprachige Publikum bei Kulturveranstaltungen nicht zu
vernachlässigen. Doch dafür brauche es Geld, das derzeit selbst für
russlandkritische Projekte immer knapper werde.
Seit dem Haushalt 2024 werden die Ausgaben für Kultur kontinuierlich
gekürzt, bis 2027 sollen es 7 Prozent weniger sein. Während der Kunstszene
zweistellige Millionenbeträge gestrichen werden, plant Estland im Rahmen
des Fünf-Prozent-Ziels der Nato bis 2029 mehr als 10 Milliarden Euro für
den Wehretat auszugeben. In der Bildung wiederum wird ebenfalls der
Rotstift angesetzt – ausgerechnet beim Sprachwechsel lassen sich laut
Bildungsministerium problemlos Gelder einsparen. Man habe zur Sicherheit
mehr Budget für die Reform eingeplant, das sich nun aber angeblich
[4][problemlos um 18 Millionen Euro kürzen ließe, ohne substanzielle
Einschnitte] bei der Umsetzung hinnehmen zu müssen. Wie genau das
funktionieren soll, das bleibt allerdings in den Erläuterungen des
Ministeriums vage.
Levitina besuchte eine russische Schule und fing erst in ihren 20ern an,
Estnisch wirklich zu benutzen. Ein Universitätsstudium schloss sie auch
nach mehreren Versuchen nicht erfolgreich ab. „Mir fiel es schwer, diese
ganzen Informationen in einer Fremdsprache zu verarbeiten“, sagt sie.
Dass Estland neben dem Estnischen auch das Russische zur Amtssprache machen
könnte, war politisch nie eine Option. Aber der alternativlose Umstieg auf
Estnisch birgt nun ebenfalls innenpolitisches Konfliktpotenzial: Die
estnische Zentrumspartei gilt seit Jahrzehnten als Sammelbecken für einen
großen Teil der russischen Wählerschaft. Im Jahr 2004 ging die Partei sogar
ein Kooperationsabkommen mit der russischen Regierungspartei Geeintes
Russland ein, das erst 2022 nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf
die Ukraine beendet wurde.
Zu diesem Zeitpunkt war die heutige EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas
Premierministerin. Schon vor der erneuten Invasion Russlands in der Ukraine
2022 führte sie Estland auf einen harten Anti-Russland-Kurs. Ihre resolute
Unterstützung Kyjiws brachte ihr politisch damals viel Anerkennung ein. Sie
war es auch, die die aktuelle Bildungsreform ins Rollen brachte. Als sich
die damals mitregierende Zentrumspartei weigerte, Estnischunterricht in
allen Kindergärten verpflichtend zu machen, entließ sie deren gesamte
Minister:innenriege und suchte sich neue Partner:innen.
## Angriffsfläche für den Kreml
Trotz dieses Polarisierungspotenzials fällt die generelle Einstellung zum
Sprachwechsel an den Schulen aber insgesamt positiv aus. Eine staatliche
Umfrage vor Reformbeginn ergab, dass 96 Prozent aller estnischstämmigen und
immerhin 70 Prozent der russischstämmigen Einwohner:innen im Land die
Maßnahmen unterstützen. Allerdings bietet die Reform dem Kreml so oder so
reichlich Angriffsfläche für seine Propaganda.
Einer, der dieser russischen Propaganda Einhalt gebieten will, ist Ilja
Dotšar. Der 36-Jährige arbeitet in Tallinn als Redakteur für den
russischsprachigen Teil des estnischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks ERR
und kümmert sich dort um die internationalen Radionachrichten. Er sitzt in
einem historischen Bau aus den 1940ern im Zentrum Tallinns mit brauner
Steinfassade und ausgiebigen Stuckverzierungen im Treppenhaus. In den
Innenräumen befinden sich helle Newsrooms mit moderner Technik.
Neben Onlineangeboten gibt es in Estland drei staatliche Fernseh- und fünf
Radiokanäle, von denen jeweils einer auf Russisch sendet. „Wir haben das
größte russische Mediensegment in der gesamten EU“, sagt der
Nachrichtenredakteur. Das russische Programm unterscheidet sich laut Dotšar
vor allem im Ton und im Fokus: „Wir senden beispielsweise viele Nachrichten
aus mehrheitlich russischsprachigen Regionen.“ Hinzu kommen zweisprachige
Formate. Etwa die Nachrichtensendung „Aktualnee kaamera“, dessen Name sich
tatsächlich von den Staatsnachrichten der DDR herleitet – ein weiteres
Relikt aus Sowjetzeiten. Doch am russischsprachigen Programm der
Öffentlich-Rechtlichen wird derzeit nicht gerüttelt. „Man muss die Menschen
im Land informiert halten“, plädiert auch der Redakteur. Dazu zählen neben
den Russ:innen eben auch viele Ukrainer:innen in Estland. Ein großer
Teil von ihnen sind Geflüchtete. Ihr Bevölkerungsanteil beläuft sich
mittlerweile auf mehr als 5 Prozent.
Für Estland ist ein breites russischsprachiges Medienangebot deshalb kein
Nice-to-have, sondern eine integrative Notwendigkeit. Als Russland die
Ukraine überfiel, ließ man in Estland den Zugang zu russischen
Fernsehsendern sperren. „Aber es gibt immer noch Telegram-Gruppen, Facebook
und Satellitenfernsehen“, sagt Dotšar. In manchen Regionen ist mittlerweile
ein regelrechter Kampf um die Informationshoheit ausgebrochen.
Einer dieser Orte ist Narva. Zum „Tag der Befreiung“ am 9. Mai ließ
Russland von der Nachbarstadt Iwanogorod aus die estnische Seite mit
Propagandamusik beschallen und animierte die Menschen zum Mitsingen. Die
estnische Regierung hält regelmäßig mit eigenen Konzerten dagegen, etwa
diesen Sommer mit dem Eurovision-Star Tommy Cash, der neben estnischen auch
russisch-ukrainische Wurzeln hat. Doch diese gegenseitigen Provokationen
sind harmlos im Vergleich zu dem, was Militärexperten das „Narva-Szenario“
nennen: einen russischen Angriff auf Estland oder sogar die gesamten
baltischen Staaten, der von der Grenzstadt ausgeht.
Zwar rechnet damit zumindest öffentlich derzeit niemand, doch Russlands
jüngste Vorstöße in den Luftraum der Nato vergrößern die Sorge vor einer
weiteren Eskalation. Zunächst waren es mehrere russische Drohnen, die
Anfang September über Polen abgeschossen wurden. Ebenfalls im September
drangen zudem drei russische Kampfjets für zwölf Minuten in den estnischen
Luftraum ein. EU-Außenbeauftragte Kallas sprach von einer „schweren
Provokation“. Der US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, Michael Waltz,
betonte, dass die USA mit ihren Verbündeten „jeden Zentimeter des
Nato-Territoriums“ verteidigen würden. Im Zuge dessen verstärkt das Bündnis
seine Ostflanke weiter. Deutschland will [5][eine bestehende Mission zur
Überwachung des polnischen Luftraums ausweiten].
Für Ilja Dotšar ist Moskaus Säbelrasseln erst einmal kein Grund zur Panik.
„Das ist nichts Neues. Russland war in der Vergangenheit sogar schon
deutlich aggressiver“, sagt er. Laut Daten der estnischen Luftwaffe gab es
seit 2014 mehr als 40 russische Luftraumverletzungen über Estland. Ganz
kalt lässt die aktuelle Lage aber auch den Radiomoderator nicht: „Die
Anspannung steigt.“
Dotšar wuchs in einer estnisch-russischen Familie auf und besuchte eine
russischsprachige Schule. „Der Estnischunterricht war damals schrecklich
und ich wollte die Sprache gar nicht lernen“, erinnert er sich. Erst fünf
Jahre nach seinem Abschluss nahm er einen zweiten Anlauf. „Ich lebe in
Estland und bin estnischer Staatsbürger – es wäre doch merkwürdig, wenn ich
kein Estnisch spreche“, sagt er. Ihm hätten sich durch diesen späten Start
keine Türen verschlossen, aber vielen seiner Freunde schon.
Die Schulreform sieht er gespalten. Er hält sie zwar grundsätzlich für
richtig, aber tut sich mit der Umsetzung schwer. „Ich habe Kristina Kallas’
Partei gewählt, und ich bin so enttäuscht worden“, sagt er. Vor ihrer
Ernennung habe sie ein integratives Schulmodell angestrebt, das estnische
und russische Kinder in Kontakt miteinander bringen sollte. „Als sie
Ministerin wurde, warf sie das komplett über den Haufen.“ Außerdem
schnitten die Schüler:innen der ersten auf Estnisch umgestiegenen
Schulklassen miserabel in Vergleichsarbeiten ab.
## Russische Sprache und Kultur im Land eindämmen
Dieses Jahr bestanden 70 Prozent der Tallinner Viertklässler:innen, deren
Muttersprache nicht Estnisch ist, entweder die estnischen Sprachtests oder
die Fachprüfungen nicht. Hinzu kommen andauernde Entlassungen von
Lehrkräften. Kristina Kallas geht davon aus, dass im Zuge der Reform jede
siebte Lehrkraft ersetzt werden muss. Das wären immerhin insgesamt rund
2.500 Lehrer:innen. Seit diesem Schuljahr müssen diese nämlich mindestens
über Estnischkenntnisse auf Sprachniveau B2 verfügen, also fast fließend
die Sprache beherrschen, um weiter unterrichten zu dürfen. In der Praxis
wird oft sogar ein noch höheres Niveau gefordert.
Viele der Lehrkräfte an den von der Reform betroffenen Schulen haben diese
Qualifikation jedoch nicht erreicht. Da sie in Estland nicht verbeamtet
sind, wurden ihre Verträge nicht verlängert. Einige waren dem Ruhestand
ohnehin nahe, während andere nun beruflich umsatteln müssen. Ersetzt werden
sie oft durch weniger erfahrenes Personal oder durch Quereinsteiger:innen.
Irene Käosaar ist Rektorin in Narva und betreut dort drei Schulen. Die
Pädagogin wuchs als Kind estnisch-russischer Eltern bilingual auf. Bisher
sieht sie die Reform positiv. „Ich dachte, es würde anfangs schwerer sein,
aber in Narva und Tallinn ließen sich genug Grundschullehrer finden“, sagt
sie. Wichtig sei dabei vor allem das Vertrauen der Eltern, das sie vor Ort
spüre. „Natürlich haben sie viele Fragen und machen sich Sorgen, aber
soweit läuft es gut“, versichert die Schulleiterin.
Um Lehrkräfte in die Region zu holen, wurden die Gehälter im Landkreis
deutlich angehoben. „Man verdient hier im Schnitt um die Hälfte mehr“, sagt
Käosaar. Bisher funktioniere dieses Anreizsystem. Doch die größte
Herausforderung stehe noch bevor: Ab dem kommenden Jahr würden insbesondere
an den weiterführenden Schulen mehr Lehrkräfte mit den nötigen
Sprachkenntnissen gebraucht. Trotzdem findet die Rektorin es wichtig, dass
die Reform zügig umgesetzt wird: „Es geht schnell, es wird hart und es
braucht Geld und Ressourcen, aber wir müssen es jetzt angehen.“
Von den schlechten Ergebnissen aus Tallinn zeigt sich Käosaar eher
unbeeindruckt. „Diese Tests gab es früher nicht, deswegen können wir sie
auch mit nichts vergleichen.“ Belastbare Analysen werde es erst mit der
Zeit geben. Doch auch sie hat Vorbehalte gegenüber dem neuen System. „Die
Reform dreht sich nur um die Sprache und nicht, wie man die Kinder besser
integriert“, stellt sie fest. Sie sieht deshalb nicht zuletzt ein
politisches Kalkül dahinter. Ein Kalkül, das auch darauf abziele, die
russische Sprache und Kultur im Land einzudämmen: „Zu Hause wird ja weiter
Russisch gesprochen – aber womöglich geht die kulturelle Identität dadurch
etwas verloren.“
Denn auch wenn das Bildungsministerium beteuert, dass den Menschen ihre
Sprache nicht genommen wird, sondern sie im Gegenteil eine weitere
dazubekommen: Überzeugen kann diese Argumentation längst nicht alle. Zumal
die Regierung im März beschloss, Nicht-EU-Staatsbürger*innen das
Kommunalwahlrecht zu entziehen. Die am stärksten davon betroffene Gruppe
sind die etwa 83.000 russischen Passinhaber:innen im Land, die nicht
zugleich die estnische Staatsbürgerschaft haben.
An die Möglichkeit, dass Moskau die Sprachreform als Anlass gebrauchen
könnte, um Estland zum verstärkten Ziel einer hybriden Kriegsführung zu
machen, glaubt man in der Regierung zumindest offiziell nicht. „Russland
ist zu beschäftigt mit der Ukraine, als dass es noch Raum hätte,
irgendetwas in Estland anzustacheln“, glaubt Kristina Kallas. Die jüngsten
Drohgebärden des Kremls sprechen jedoch zumindest symbolisch eine etwas
andere Sprache.
Eine gewisse Grundanspannung gehört in Estland mittlerweile sowieso zum
Dauerzustand. Man weiß nur zu gut, dass Estland einen der verwundbarsten
Punkte der EU und der Nato ist.
Im „Narva-Szenario“ wären es maximal 60 Stunden, bis russische Truppen
Tallinn und Riga erreichen würden. Der Zweckoptimismus mit dem die
Regierung die Schulreform angeht, lässt sich vielleicht ganz gut übertragen
auf die Grundanspannung, mit der man auf die russische Bedrohung blickt: Es
wird schon alles, denn es muss ja.
8 Oct 2025
## LINKS
[1] https://www.stat.ee/en/news/population-census-76-estonias-population-speak-…
[2] https://library.fes.de/pdf-files/bueros/baltikum/20566-20230915.pdf
[3] https://andmed.stat.ee/en/stat/rahvaloendus__rel2021__rahvastiku-demograafi…
[4] https://news.err.ee/1609808847/education-ministry-trims-18-million-in-budge…
[5] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/russland-ukraine-krieg-deutschla…
## AUTOREN
Alexander Kloß
## TAGS
Estland
Tallinn
russische Minderheit
Lesestück Recherche und Reportage
GNS
Istanbul-Konvention
Schwerpunkt LGBTQIA
Drohnen
Russland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Lettland beendet Frauenschutzabkommen: Der Flurschaden ist angerichtet
Das lettische Parlament will den Austritt aus der Istanbul-Konvention. Die
Argumentation für die Entscheidung ist so unschlüssig wie abwegig.
Trans Personen in Europa: Eingriff in die Menschenwürde
Trans Personen mussten sich lange Zeit sterilisieren lassen, wenn sie ihr
Geschlecht offiziell ändern wollten. Die emotionalen Folgen sind
verheerend.
Bedrohung des Luftraums: Drohnen fliegen, Sterne funkeln, Politiker zittern
Nach Drohnen über Dänemark gibt es Kritik an der Regierung. Auch andere
Länder sind betroffen. Was plant Deutschland zum Schutz des Luftraums?
Kriegsgefahr in Europa: Begrabt den letzten Sommer in Frieden
Die Angriffe auf den Nato-Luftraum fühlen sich an, als würden wir nicht nur
die warmen Sonnenstrahlen verabschieden. Provokationen werden Alltag.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.