| # taz.de -- Sprachreform in Estland: Russisch nur noch in der Pause | |
| > Estland lehrt Estnisch verpflichtend als Unterrichtssprache. Wie kommt | |
| > das bei der russischsprachigen Minderheit an? | |
| Bild: Estnische Schüler:innen feiern 30 Jahre Unabhängigkeit von der Sowjetun… | |
| taz | Tallin Als im September in Estland das neue Schuljahr begann, hörten | |
| einige Schüler*innen morgens zur Begrüßung plötzlich eine andere Sprache | |
| als noch vor den Sommerferien. Statt wie gewohnt mit dem russischen Gruß | |
| „Zdravstvujte“ wurden die Zweit- und Fünftklässler*innen an den 50 | |
| russischsprachigen Schulen im Land mit den estnischen Worten „Tere | |
| tulemast“ begrüßt, die in großen Kreidelettern auf die Tafeln geschrieben | |
| standen. | |
| Estland, im Süden an Lettland, im Osten an Russland grenzend, steht aktuell | |
| vor einer der größten Bildungsreformen, seit die Sowjetunion 1991 zerfiel | |
| und das Land unabhängig wurde: Das Land stellt das komplette öffentliche | |
| Schulsystem auf die Unterrichtssprache Estnisch um. Denn bislang | |
| unterrichteten gut zehn Prozent der Schulen nahezu vollständig auf | |
| Russisch. Bis 2030 soll die im vergangenen Jahr begonnene Maßnahme | |
| abgeschlossen sein. Erklärtes Ziel der Reform: den Teil der Bevölkerung, | |
| der Russisch als Muttersprache spricht, besser zu integrieren. | |
| Rund ein Viertel der knapp 1,4 Millionen Einwohner:innen Estlands | |
| gehört zur russischen Minderheit im Land, ein Erbe aus Sowjetzeiten. Der | |
| Anteil der russischsprachigen Bevölkerung – weil sie ukrainische oder | |
| belarussische Wurzeln hat – [1][liegt mit rund 30 Prozent sogar noch | |
| höher.] Der Umfang ihrer Estnischkenntnisse ist meist sehr begrenzt. | |
| Während einige im Land die Sprachreform als längst überfällig sehen, um die | |
| gesellschaftliche Spaltung des Landes zu überwinden, üben andere Kritik. | |
| Die Reform erfolge mit der Brechstange, nehme die russischsprachige | |
| Bevölkerung nicht wirklich mit. Denn hinter der vermeintlichen | |
| Integrationsmaßnahme steht natürlich auch der Versuch der Abgrenzung vom | |
| russischen Nachbarn: Viele der russischen Muttersprachler*innen im | |
| Land informieren sich weiterhin über Medien, die die Propaganda des Kremls | |
| verbreiten. Die Sprachreform an den Schulen ist auch ein Kampf gegen | |
| russische Einflussnahme im Land | |
| Kristina Kallas ist seit zwei Jahren estnische Bildungsministerin. Die | |
| 49-Jährige ist selbst estnisch-russisch. Minderheitenrechte und Integration | |
| hat sie zu ihren politischen Schwerpunkten erklärt – und nun hat sie die | |
| Aufgabe, Estland von seinem sowjetischen Erbe in der Bildungspolitik zu | |
| trennen. Dafür reist sie kreuz und quer durchs Land, besucht Schulen, wirbt | |
| für Akzeptanz und gibt zwischendurch Interviews per Zoom von der Rückbank | |
| ihres Dienstwagens. | |
| „Die russischen Schulen stammen aus den 1950ern, nachdem die Sowjetunion | |
| die heutigen baltischen Staaten besetzt hatte“, erklärt Kallas auf einer | |
| dieser Fahrten. Russland brachte Immigrant:innen aus allen Teilen der | |
| UdSSR als Arbeitskräfte in das kleine Land. Für sie wurden separate Schulen | |
| nach russischem System aufgebaut. „Als die Sowjetunion 1991 zerfiel, hatten | |
| wir auf einmal etwa 100 Schulen im Land, die nicht zu uns gehörten“, sagt | |
| die Ministerin. Also überführte der Staat sie ins estnische System. Was man | |
| jedoch nicht anfasste, waren die Unterrichtssprache und das Lehrpersonal: | |
| „Auf einmal sollten sowjetische Lehrkräfte estnische Geschichte | |
| unterrichten, das funktionierte einfach nicht.“ | |
| Bemühungen, diese Schulen von Russisch auf Estnisch umzustellen, gab es | |
| immer wieder. Etwa, als die Regierung 2011 beschloss, ab der 10. Klasse | |
| mindestens 60 Prozent des Unterrichts auf Estnisch abzuhalten. „Russland | |
| skandalisierte das damals als Assimilation und Apartheid“, sagt Kallas. | |
| Also ruderte die Politik zurück. Doch seit Russlands Überfall auf die | |
| Ukraine im Februar 2022 habe sich die Situation grundlegend geändert. | |
| „Russland hat sein Recht verwirkt, für die russischen Communitys zu | |
| sprechen“, sagt Kallas. | |
| Spätestens seit 2022 geht in Estland ein immer größerer Teil der | |
| Russ:innen auf Distanz zu Putin. Eine Umfrage der | |
| Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Mai 2023 stellte fest, dass [2][zwei | |
| Drittel der russischsprachigen Befragten in Estland unzufrieden mit seiner | |
| Politik sind] – auch wenn die Gruppe den Krieg deutlich ambivalenter | |
| betrachtet als die estnischstämmige Bevölkerung. Kallas sieht eine Chance, | |
| die Reform endlich umzusetzen. „Für uns hieß das: Jetzt oder nie.“ | |
| Tatsächlich ist Estland sowohl geografisch als auch sozioökonomisch stark | |
| nach Sprache getrennt. Die russische Minderheit lebt vor allem im Nordosten | |
| des Landes, nahe der Grenze zu Russland, und in der Hauptstadt Tallinn. Im | |
| bevölkerungsreichsten Tallinner Stadtteil Lasnamäe, der in den 70ern als | |
| Plattenbausiedlung für die Zuwanderer:innen angelegt wurde, sind bis | |
| heute mehr als die Hälfte der Einwohner Russ:innen. In der Grenzstadt | |
| [3][Narva, der drittgrößten des Landes, sind es sogar fast 90 Prozent.] | |
| ## Die russischsprachige Szene ist sehr isoliert | |
| Vielen der russischen Muttersprachler:innen verschließen sich | |
| Karriere- und Aufstiegschancen, da sie nicht die nötigen Sprachkenntnisse | |
| haben. Denn um an einer Universität zu studieren, braucht es gute | |
| Estnischkenntnisse. Auch in vielen Berufen ist Estnisch eine | |
| Grundvoraussetzung. Und während immer mehr Est:innen Englisch und andere | |
| Fremdsprachen lernen, beherrschen 40 Prozent der Russ:innen in Estland | |
| nur ihre Muttersprache. Die Statistiken setzen sich fort: Russischstämmige | |
| Est:innen haben höhere Arbeitslosenquoten, geringere Einkommen und | |
| schätzen ihren Gesundheitszustand als generell schlechter ein. Und auch | |
| kulturell sind Russ:innen in Estland im Vergleich zu ihrem | |
| Bevölkerungsanteil eher unterrepräsentiert. | |
| Inmitten des hippen Tallinner Stadtviertels Kalamaja, in dem sich bunt | |
| bemalte Holzhäuser adrett aneinanderreihen, liegt die Bar Heldeke. Der | |
| Eingang befindet sich die Treppe hinunter im Kellergeschoss und führt in | |
| einen Barraum mit einer Bühne, die von einem roten Samtvorhang | |
| abgeschlossen wird. Wer in den Backstage-Bereich tritt, den grüßen eine | |
| eingebaute Holzsauna sowie direkt daneben ein mit Kacheln gefliester Raum | |
| samt Dusche und Kaltwasserpool. | |
| Heldeke war früher ein Bordell, bis der Australier Dan Renwick das Gebäude | |
| vor neun Jahren übernahm und es zu einem Hotspot der lokalen Kulturszene | |
| umbaute. Heute ist die Bar einer der Hauptspielorte des alljährlichen von | |
| ihm ausgerichteten Theater- und Performancefestivals „Tallinn Fringe“, das | |
| überall in der Stadt Kleinkunst darbietet. Das reicht von Straßentheater, | |
| Konzerten und Stand-up-Comedy bis hin zu Cabaret und Burlesque. | |
| Eine der Künstlerinnen, die eng mit der Tallinn Fringe verbunden ist, ist | |
| Jana Levitina. Sie kommt aus der russischen Minderheit im Osten des Landes, | |
| hat aber auch jüdische und ukrainische Wurzeln. In Erscheinung tritt sie | |
| einerseits als Stand-up-Comedienne und Co-Gründerin des FLINTA-Kollektivs | |
| „Pussy Jam Comedy“. Auf der Bühne thematisiert sie ihre slawische Herkunft | |
| und ihr Verhältnis zu Estland, arbeitet sich aber auch an Themen wie | |
| Sexismus und Kapitalismus ab. | |
| Gelegentlich schlüpft Levitina noch in ein ganz anderes Outfit. Dann trägt | |
| sie dick aufgetragenes Make-up mit asymmetrischem Lippenstift, eine | |
| rotbraune Perücke, von der ein Stoffhase baumelt, und ein buntes Kleid, das | |
| aus allerlei pastellfarbenen Tüllfetzen besteht. Als Drag Princess lebt sie | |
| eine performative Weiblichkeit aus, die ihr das Patriarchat im Alltag nicht | |
| zugestehe, wie sie sagt. Gespickt sind ihre Shows dabei mit reichlich | |
| Selbstironie und einer atemberaubenden Fülle an Wortwitzen. | |
| Im vergangenen Jahr hat Levitina ein zweiwöchiges Mini-Comedy-Festival im | |
| Rahmen der Fringe organisiert: Die Hälfte des Programms war auf Englisch, | |
| die andere auf Russisch. Für Letzteres traten vor allem Komiker auf, die | |
| Russland, Belarus oder die Ukraine wegen des Krieges oder aus politischen | |
| Gründen verlassen mussten. „Wir haben damit ein neues Publikum erschlossen, | |
| aber die Resonanz war trotzdem leider eher gering“, sagt sie. | |
| „Das Problem ist, dass die russischsprachige Szene sehr isoliert ist und | |
| dadurch stark durch russische Expats und Comedians geprägt wird, die immer | |
| noch in Russland auftreten.“ Obwohl Levitinas Muttersprache Russisch ist, | |
| performt sie deshalb fast ausschließlich auf Englisch. Dennoch sei es | |
| wichtig, das russischsprachige Publikum bei Kulturveranstaltungen nicht zu | |
| vernachlässigen. Doch dafür brauche es Geld, das derzeit selbst für | |
| russlandkritische Projekte immer knapper werde. | |
| Seit dem Haushalt 2024 werden die Ausgaben für Kultur kontinuierlich | |
| gekürzt, bis 2027 sollen es 7 Prozent weniger sein. Während der Kunstszene | |
| zweistellige Millionenbeträge gestrichen werden, plant Estland im Rahmen | |
| des Fünf-Prozent-Ziels der Nato bis 2029 mehr als 10 Milliarden Euro für | |
| den Wehretat auszugeben. In der Bildung wiederum wird ebenfalls der | |
| Rotstift angesetzt – ausgerechnet beim Sprachwechsel lassen sich laut | |
| Bildungsministerium problemlos Gelder einsparen. Man habe zur Sicherheit | |
| mehr Budget für die Reform eingeplant, das sich nun aber angeblich | |
| [4][problemlos um 18 Millionen Euro kürzen ließe, ohne substanzielle | |
| Einschnitte] bei der Umsetzung hinnehmen zu müssen. Wie genau das | |
| funktionieren soll, das bleibt allerdings in den Erläuterungen des | |
| Ministeriums vage. | |
| Levitina besuchte eine russische Schule und fing erst in ihren 20ern an, | |
| Estnisch wirklich zu benutzen. Ein Universitätsstudium schloss sie auch | |
| nach mehreren Versuchen nicht erfolgreich ab. „Mir fiel es schwer, diese | |
| ganzen Informationen in einer Fremdsprache zu verarbeiten“, sagt sie. | |
| Dass Estland neben dem Estnischen auch das Russische zur Amtssprache machen | |
| könnte, war politisch nie eine Option. Aber der alternativlose Umstieg auf | |
| Estnisch birgt nun ebenfalls innenpolitisches Konfliktpotenzial: Die | |
| estnische Zentrumspartei gilt seit Jahrzehnten als Sammelbecken für einen | |
| großen Teil der russischen Wählerschaft. Im Jahr 2004 ging die Partei sogar | |
| ein Kooperationsabkommen mit der russischen Regierungspartei Geeintes | |
| Russland ein, das erst 2022 nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf | |
| die Ukraine beendet wurde. | |
| Zu diesem Zeitpunkt war die heutige EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas | |
| Premierministerin. Schon vor der erneuten Invasion Russlands in der Ukraine | |
| 2022 führte sie Estland auf einen harten Anti-Russland-Kurs. Ihre resolute | |
| Unterstützung Kyjiws brachte ihr politisch damals viel Anerkennung ein. Sie | |
| war es auch, die die aktuelle Bildungsreform ins Rollen brachte. Als sich | |
| die damals mitregierende Zentrumspartei weigerte, Estnischunterricht in | |
| allen Kindergärten verpflichtend zu machen, entließ sie deren gesamte | |
| Minister:innenriege und suchte sich neue Partner:innen. | |
| ## Angriffsfläche für den Kreml | |
| Trotz dieses Polarisierungspotenzials fällt die generelle Einstellung zum | |
| Sprachwechsel an den Schulen aber insgesamt positiv aus. Eine staatliche | |
| Umfrage vor Reformbeginn ergab, dass 96 Prozent aller estnischstämmigen und | |
| immerhin 70 Prozent der russischstämmigen Einwohner:innen im Land die | |
| Maßnahmen unterstützen. Allerdings bietet die Reform dem Kreml so oder so | |
| reichlich Angriffsfläche für seine Propaganda. | |
| Einer, der dieser russischen Propaganda Einhalt gebieten will, ist Ilja | |
| Dotšar. Der 36-Jährige arbeitet in Tallinn als Redakteur für den | |
| russischsprachigen Teil des estnischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks ERR | |
| und kümmert sich dort um die internationalen Radionachrichten. Er sitzt in | |
| einem historischen Bau aus den 1940ern im Zentrum Tallinns mit brauner | |
| Steinfassade und ausgiebigen Stuckverzierungen im Treppenhaus. In den | |
| Innenräumen befinden sich helle Newsrooms mit moderner Technik. | |
| Neben Onlineangeboten gibt es in Estland drei staatliche Fernseh- und fünf | |
| Radiokanäle, von denen jeweils einer auf Russisch sendet. „Wir haben das | |
| größte russische Mediensegment in der gesamten EU“, sagt der | |
| Nachrichtenredakteur. Das russische Programm unterscheidet sich laut Dotšar | |
| vor allem im Ton und im Fokus: „Wir senden beispielsweise viele Nachrichten | |
| aus mehrheitlich russischsprachigen Regionen.“ Hinzu kommen zweisprachige | |
| Formate. Etwa die Nachrichtensendung „Aktualnee kaamera“, dessen Name sich | |
| tatsächlich von den Staatsnachrichten der DDR herleitet – ein weiteres | |
| Relikt aus Sowjetzeiten. Doch am russischsprachigen Programm der | |
| Öffentlich-Rechtlichen wird derzeit nicht gerüttelt. „Man muss die Menschen | |
| im Land informiert halten“, plädiert auch der Redakteur. Dazu zählen neben | |
| den Russ:innen eben auch viele Ukrainer:innen in Estland. Ein großer | |
| Teil von ihnen sind Geflüchtete. Ihr Bevölkerungsanteil beläuft sich | |
| mittlerweile auf mehr als 5 Prozent. | |
| Für Estland ist ein breites russischsprachiges Medienangebot deshalb kein | |
| Nice-to-have, sondern eine integrative Notwendigkeit. Als Russland die | |
| Ukraine überfiel, ließ man in Estland den Zugang zu russischen | |
| Fernsehsendern sperren. „Aber es gibt immer noch Telegram-Gruppen, Facebook | |
| und Satellitenfernsehen“, sagt Dotšar. In manchen Regionen ist mittlerweile | |
| ein regelrechter Kampf um die Informationshoheit ausgebrochen. | |
| Einer dieser Orte ist Narva. Zum „Tag der Befreiung“ am 9. Mai ließ | |
| Russland von der Nachbarstadt Iwanogorod aus die estnische Seite mit | |
| Propagandamusik beschallen und animierte die Menschen zum Mitsingen. Die | |
| estnische Regierung hält regelmäßig mit eigenen Konzerten dagegen, etwa | |
| diesen Sommer mit dem Eurovision-Star Tommy Cash, der neben estnischen auch | |
| russisch-ukrainische Wurzeln hat. Doch diese gegenseitigen Provokationen | |
| sind harmlos im Vergleich zu dem, was Militärexperten das „Narva-Szenario“ | |
| nennen: einen russischen Angriff auf Estland oder sogar die gesamten | |
| baltischen Staaten, der von der Grenzstadt ausgeht. | |
| Zwar rechnet damit zumindest öffentlich derzeit niemand, doch Russlands | |
| jüngste Vorstöße in den Luftraum der Nato vergrößern die Sorge vor einer | |
| weiteren Eskalation. Zunächst waren es mehrere russische Drohnen, die | |
| Anfang September über Polen abgeschossen wurden. Ebenfalls im September | |
| drangen zudem drei russische Kampfjets für zwölf Minuten in den estnischen | |
| Luftraum ein. EU-Außenbeauftragte Kallas sprach von einer „schweren | |
| Provokation“. Der US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, Michael Waltz, | |
| betonte, dass die USA mit ihren Verbündeten „jeden Zentimeter des | |
| Nato-Territoriums“ verteidigen würden. Im Zuge dessen verstärkt das Bündnis | |
| seine Ostflanke weiter. Deutschland will [5][eine bestehende Mission zur | |
| Überwachung des polnischen Luftraums ausweiten]. | |
| Für Ilja Dotšar ist Moskaus Säbelrasseln erst einmal kein Grund zur Panik. | |
| „Das ist nichts Neues. Russland war in der Vergangenheit sogar schon | |
| deutlich aggressiver“, sagt er. Laut Daten der estnischen Luftwaffe gab es | |
| seit 2014 mehr als 40 russische Luftraumverletzungen über Estland. Ganz | |
| kalt lässt die aktuelle Lage aber auch den Radiomoderator nicht: „Die | |
| Anspannung steigt.“ | |
| Dotšar wuchs in einer estnisch-russischen Familie auf und besuchte eine | |
| russischsprachige Schule. „Der Estnischunterricht war damals schrecklich | |
| und ich wollte die Sprache gar nicht lernen“, erinnert er sich. Erst fünf | |
| Jahre nach seinem Abschluss nahm er einen zweiten Anlauf. „Ich lebe in | |
| Estland und bin estnischer Staatsbürger – es wäre doch merkwürdig, wenn ich | |
| kein Estnisch spreche“, sagt er. Ihm hätten sich durch diesen späten Start | |
| keine Türen verschlossen, aber vielen seiner Freunde schon. | |
| Die Schulreform sieht er gespalten. Er hält sie zwar grundsätzlich für | |
| richtig, aber tut sich mit der Umsetzung schwer. „Ich habe Kristina Kallas’ | |
| Partei gewählt, und ich bin so enttäuscht worden“, sagt er. Vor ihrer | |
| Ernennung habe sie ein integratives Schulmodell angestrebt, das estnische | |
| und russische Kinder in Kontakt miteinander bringen sollte. „Als sie | |
| Ministerin wurde, warf sie das komplett über den Haufen.“ Außerdem | |
| schnitten die Schüler:innen der ersten auf Estnisch umgestiegenen | |
| Schulklassen miserabel in Vergleichsarbeiten ab. | |
| ## Russische Sprache und Kultur im Land eindämmen | |
| Dieses Jahr bestanden 70 Prozent der Tallinner Viertklässler:innen, deren | |
| Muttersprache nicht Estnisch ist, entweder die estnischen Sprachtests oder | |
| die Fachprüfungen nicht. Hinzu kommen andauernde Entlassungen von | |
| Lehrkräften. Kristina Kallas geht davon aus, dass im Zuge der Reform jede | |
| siebte Lehrkraft ersetzt werden muss. Das wären immerhin insgesamt rund | |
| 2.500 Lehrer:innen. Seit diesem Schuljahr müssen diese nämlich mindestens | |
| über Estnischkenntnisse auf Sprachniveau B2 verfügen, also fast fließend | |
| die Sprache beherrschen, um weiter unterrichten zu dürfen. In der Praxis | |
| wird oft sogar ein noch höheres Niveau gefordert. | |
| Viele der Lehrkräfte an den von der Reform betroffenen Schulen haben diese | |
| Qualifikation jedoch nicht erreicht. Da sie in Estland nicht verbeamtet | |
| sind, wurden ihre Verträge nicht verlängert. Einige waren dem Ruhestand | |
| ohnehin nahe, während andere nun beruflich umsatteln müssen. Ersetzt werden | |
| sie oft durch weniger erfahrenes Personal oder durch Quereinsteiger:innen. | |
| Irene Käosaar ist Rektorin in Narva und betreut dort drei Schulen. Die | |
| Pädagogin wuchs als Kind estnisch-russischer Eltern bilingual auf. Bisher | |
| sieht sie die Reform positiv. „Ich dachte, es würde anfangs schwerer sein, | |
| aber in Narva und Tallinn ließen sich genug Grundschullehrer finden“, sagt | |
| sie. Wichtig sei dabei vor allem das Vertrauen der Eltern, das sie vor Ort | |
| spüre. „Natürlich haben sie viele Fragen und machen sich Sorgen, aber | |
| soweit läuft es gut“, versichert die Schulleiterin. | |
| Um Lehrkräfte in die Region zu holen, wurden die Gehälter im Landkreis | |
| deutlich angehoben. „Man verdient hier im Schnitt um die Hälfte mehr“, sagt | |
| Käosaar. Bisher funktioniere dieses Anreizsystem. Doch die größte | |
| Herausforderung stehe noch bevor: Ab dem kommenden Jahr würden insbesondere | |
| an den weiterführenden Schulen mehr Lehrkräfte mit den nötigen | |
| Sprachkenntnissen gebraucht. Trotzdem findet die Rektorin es wichtig, dass | |
| die Reform zügig umgesetzt wird: „Es geht schnell, es wird hart und es | |
| braucht Geld und Ressourcen, aber wir müssen es jetzt angehen.“ | |
| Von den schlechten Ergebnissen aus Tallinn zeigt sich Käosaar eher | |
| unbeeindruckt. „Diese Tests gab es früher nicht, deswegen können wir sie | |
| auch mit nichts vergleichen.“ Belastbare Analysen werde es erst mit der | |
| Zeit geben. Doch auch sie hat Vorbehalte gegenüber dem neuen System. „Die | |
| Reform dreht sich nur um die Sprache und nicht, wie man die Kinder besser | |
| integriert“, stellt sie fest. Sie sieht deshalb nicht zuletzt ein | |
| politisches Kalkül dahinter. Ein Kalkül, das auch darauf abziele, die | |
| russische Sprache und Kultur im Land einzudämmen: „Zu Hause wird ja weiter | |
| Russisch gesprochen – aber womöglich geht die kulturelle Identität dadurch | |
| etwas verloren.“ | |
| Denn auch wenn das Bildungsministerium beteuert, dass den Menschen ihre | |
| Sprache nicht genommen wird, sondern sie im Gegenteil eine weitere | |
| dazubekommen: Überzeugen kann diese Argumentation längst nicht alle. Zumal | |
| die Regierung im März beschloss, Nicht-EU-Staatsbürger*innen das | |
| Kommunalwahlrecht zu entziehen. Die am stärksten davon betroffene Gruppe | |
| sind die etwa 83.000 russischen Passinhaber:innen im Land, die nicht | |
| zugleich die estnische Staatsbürgerschaft haben. | |
| An die Möglichkeit, dass Moskau die Sprachreform als Anlass gebrauchen | |
| könnte, um Estland zum verstärkten Ziel einer hybriden Kriegsführung zu | |
| machen, glaubt man in der Regierung zumindest offiziell nicht. „Russland | |
| ist zu beschäftigt mit der Ukraine, als dass es noch Raum hätte, | |
| irgendetwas in Estland anzustacheln“, glaubt Kristina Kallas. Die jüngsten | |
| Drohgebärden des Kremls sprechen jedoch zumindest symbolisch eine etwas | |
| andere Sprache. | |
| Eine gewisse Grundanspannung gehört in Estland mittlerweile sowieso zum | |
| Dauerzustand. Man weiß nur zu gut, dass Estland einen der verwundbarsten | |
| Punkte der EU und der Nato ist. | |
| Im „Narva-Szenario“ wären es maximal 60 Stunden, bis russische Truppen | |
| Tallinn und Riga erreichen würden. Der Zweckoptimismus mit dem die | |
| Regierung die Schulreform angeht, lässt sich vielleicht ganz gut übertragen | |
| auf die Grundanspannung, mit der man auf die russische Bedrohung blickt: Es | |
| wird schon alles, denn es muss ja. | |
| 8 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.stat.ee/en/news/population-census-76-estonias-population-speak-… | |
| [2] https://library.fes.de/pdf-files/bueros/baltikum/20566-20230915.pdf | |
| [3] https://andmed.stat.ee/en/stat/rahvaloendus__rel2021__rahvastiku-demograafi… | |
| [4] https://news.err.ee/1609808847/education-ministry-trims-18-million-in-budge… | |
| [5] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/russland-ukraine-krieg-deutschla… | |
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| Alexander Kloß | |
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