| # taz.de -- Aufarbeitung der Verbrechen in Gaza: Wer verfolgt die Komplizen? | |
| > Europa und die USA sind für Menschenrechtsverletzungen in Gaza | |
| > mitverantwortlich. Der Krieg ruft Assoziationen zu den Nürnberger | |
| > Prozessen wach. | |
| Bild: Wie sollen die Verbrechen in Gaza aufgearbeitet werden? | |
| Wie lässt sich die Untätigkeit der führenden westlichen Mächte in Bezug auf | |
| den Gazastreifen erklären, derselben Mächte, die entweder die | |
| internationale Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg begründet haben oder | |
| später zu ihren Säulen wurden? Die Nürnberger Prozesse bieten eine | |
| überraschende Erklärung. | |
| Die Prozesse zu Aufklärung und Bestrafung des Holocaust bildeten den | |
| Grundstein der rechtlichen Bewältigung von Verbrechen an der | |
| Menschlichkeit, von Völkermord. Seither wurden auch in Ruanda und Bosnien | |
| Verbrechen begangen, die Genozid genannt wurden, mit Versuchen von | |
| Aufarbeitung und Bestrafung im Anschluss. Was aber immer unbeantwortet | |
| blieb, war die Frage, wie mit Komplizenschaft umzugehen sei, mit dem | |
| billigenden, auch unterstützenden, oftmals profitierenden Umfeld, ohne das | |
| es kein Massenmorden hätte geben können. | |
| Das Geschehen in Gaza soll hier nicht mit dem Holocaust gleichgesetzt | |
| werden, das verbietet sich aufgrund der unterschiedlichen Dimensionen, aber | |
| auch deshalb, weil die übergroße Aggression Israels in Gaza seit dem 7. | |
| Oktober 2023 die Folge des abscheulichen Massakers der Hamas ist. Doch | |
| liefern die Nürnberger Prozesse einen Ansatz, zu erkennen, was sich jetzt | |
| bereits als Schwachstelle einer notwendigen völkerrechtlichen Aufarbeitung | |
| der israelischen Kriegsführung abzeichnet. | |
| Die Prozesse, insbesondere die zweite Verhandlungsreihe, die als | |
| „Nürnberger Nachfolgeprozesse“ bekannt ist, weisen auf ein Phänomen hin, | |
| das weder Politiker noch Richter in den vergangenen 80 Jahren anerkennen | |
| wollten: Die direkten Täter sind eine kleine Minderheit in ihrer | |
| Gesellschaft. Sie können ohne weitreichende Komplizenschaft weder | |
| innenpolitisch noch international erfolgreich sein. Um das Töten | |
| fortzusetzen, benötigen sie Zeit und viel Unterstützung. | |
| In der zweiten Phase der Nürnberger Prozesse bereiteten die Amerikaner | |
| unter der Leitung des Militärjuristen und Historikers Telford Taylor, der | |
| bereits bei den ersten Nürnberger Prozessen bei der Anklage assistiert | |
| hatte, zwölf Prozesse vor und klagten 180 Menschen aus wichtigen Bereichen | |
| des NS-Staates an: Industrieführer, Militärkommandanten, hochrangige | |
| Verwaltungsbeamte, Ärzte, Leiter der Einsatzgruppen und deren | |
| Stellvertreter. Darunter Personen, die von den Nazis finanziert wurden, die | |
| mit Munition, Zwangsarbeitern oder Häftlingen aus Konzentrationslagern für | |
| Experimente versorgt wurden, oder die einfach „befehlsgehorsam“ den Abzug | |
| drückten. | |
| Ein Beweggrund für diese Anstrengungen der Amerikaner lag darin, dass sie | |
| selbst Komplizen waren. Jahrelang hatten sie tatenlos zugesehen, wie | |
| Rassifizierung, Deportation und systematische Ermordung unter den Nazis | |
| betrieben wurden – ohne aktiv einzugreifen. Selbst nach ihrem | |
| Kriegseintritt 1941 unternahmen sie keine gezielten Versuche, die | |
| Vernichtungsmaschinerie zu stören. | |
| 80 Jahre nach Kriegsende schreibt die UN-Sonderberichterstatterin für die | |
| besetzten palästinensischen Gebiete, die italienische | |
| Rechtswissenschaftlerin Francesca Albanese, einen erschütternden Bericht | |
| über die Mitschuld internationaler Firmen an den Menschenrechtsverletzungen | |
| im Westjordanland und im Gazastreifen: [1][„Von der Wirtschaft der | |
| Besatzung zur Wirtschaft des Völkermords“.] | |
| Darin thematisiert sie „die Unternehmensmaschinerie, die das israelische | |
| Siedlungsprojekt aufrecht erhält“. Albanese führt aus, dass die durch den | |
| Bericht aufgedeckte Komplizenschaft nur die „Spitze des Eisbergs“ sei. In | |
| einem Appell an die internationale Rechtsgemeinschaft verweist sie auf | |
| „wichtige Präzedenzfälle“ und schlägt den Bogen zu den Nachkriegsprozess… | |
| gegen deutsche Industrielle, die aus dem Holocaust Profite schlagen | |
| konnten. | |
| ## Freisprüche bei den Nürnberger Nachfolgeverfahren | |
| Zu Taylors großer Enttäuschung wurden damals die meisten Angeklagten in den | |
| Nürnberger Nachfolgerechtsverfahren freigesprochen, bald darauf begnadigt | |
| oder ihre Strafen umgewandelt. Der Prozess gegen die Einsatzgruppen, in dem | |
| die Männer standen, die direkt für den Mord an Millionen Menschen | |
| verantwortlich waren, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Die meisten | |
| der ursprünglich 24 Angeklagten, darunter sogar ein zum Tode Verurteilter, | |
| wurden vorzeitig aus der Haft entlassen. | |
| Der letzte verurteilte Angeklagte dieses Prozesses kam 1958 auf freien Fuß. | |
| Auch die Prozesse gegen Manager der I.G. Farben, die auf Zwangsarbeit | |
| angewiesen waren und ohne die die Kriegsmaschinerie der Nazis nicht hätte | |
| funktionieren können, endeten entweder mit Freisprüchen oder mit | |
| Strafmilderungen, sodass nahezu alle Verurteilten zwischen 1949 und 1952 | |
| freigelassen wurden. Die kombinierte Wirkung der beiden Amnestiegesetze, | |
| die 1949 und 1952 im neuen Bundestag verabschiedet wurden, und der | |
| Verjährung der Strafverfolgung führte dazu, dass bis 1958 fast alle wegen | |
| Naziverbrechen Verurteilten begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen | |
| wurden. | |
| Während der erste Teil der Nürnberger Prozesse als Schauplatz | |
| demokratischer Justiz in Erinnerung geblieben ist, hinterließen die | |
| Folgeprozesse ein bitteres Erbe des Scheiterns, in dem Amerikaner und von | |
| Schuldgefühlen geplagte Deutsche zusammenarbeiteten, um eine große Zahl von | |
| Kriegsverbrechern freizusprechen. Die Besatzungsmächte, die kurz zuvor noch | |
| versucht hatten, Deutschland zu demokratisieren, machten sich nun | |
| mitschuldig, indem sie Kriegsverbrechen ignorierten, um die | |
| Verwaltungskosten zu senken und sich einem neuen gemeinsamen Feind auf der | |
| anderen Seite des Eisernen Vorhangs in einem sich verschärfenden Kalten | |
| Krieg zu stellen. | |
| 80 Jahre sind seit den Nürnberger Prozessen vergangen. Die Zeit reichte | |
| nicht, um die historische und politische Tragweite der Komplizenschaft beim | |
| Völkermord zu klären. Obschon sie in Tribunalen, von Wahrheitskommissionen | |
| und in Sonderberichten häufig erwähnt wird, ist sie weder im Völkerrecht | |
| kodifiziert, noch führt sie zu Anklagen gegen lokale Akteure. | |
| Internationale Rechtsexperten wie [2][Helmut Philipp Aust], [3][Kevin Jon | |
| Heller] oder Miles Jackson haben in ihren detaillierten rechtlichen | |
| Analysen das Versagen der Vergangenheit eingeräumt und die Nichtverfolgung | |
| der Komplizen mit der Missachtung von Kriegsverbrechen und Apartheid in | |
| Verbindung gebracht. | |
| ## Albanese durfte zuerst nicht in Deutschland sprechen | |
| Doch zeigt sich das Unvermögen, Komplizenschaft rechtlich und politisch zu | |
| erfassen, auch aktuell schon in einem Diskussionsklima, das bereits die | |
| These nicht zulassen will, dass in Gaza mutmaßlich ein Völkermord | |
| stattfindet – beziehungsweise stattgefunden hat –, der von westlichen | |
| Staaten unterstützt wird. | |
| Es ist empörend, dass der UN-Sonderberichterstatterin Albanese wie auch dem | |
| israelisch-britischen Professor Eyal Weizman untersagt wurde, an der Freien | |
| Universität in Berlin öffentlich bei einer Veranstaltung zu sprechen. | |
| Begründung für die überraschende Absage war die Position der beiden, dass | |
| Komplizenschaft am Völkermord dort beginnt, wo Besatzung und Apartheid | |
| ignoriert werden. Später hatte Albanese an anderen Orten sprechen dürfen. | |
| Nach dem Massaker vom 7. Oktober änderte sich der öffentliche Diskurs in | |
| Deutschland massiv. Die Linke verfiel anfangs in tiefes Schweigen und | |
| reagierte kaum noch, als muslimische und jüdische Demonstranten in den | |
| Straßen Berlins angegriffen wurden. | |
| In den USA war die Lage nicht viel besser: Studenten, die gegen das brutale | |
| Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen protestierten, wurden vom | |
| damaligen Präsidenten Joe Biden scharf kritisiert und von ihren eigenen | |
| Universitäten unterdrückt. Die Biden-Regierung erstellte eine Liste von 60 | |
| Universitäten, die einer „Antisemitismus-Schulung“ bedürften, und | |
| demokratische Anwälte antworteten auf die Klage der NGO [4][„Defense for | |
| Children International-Palestine“] mit der Erklärung, dass die Demokraten | |
| unerschütterlich hinter Israel stünden. | |
| Zu dieser Zeit propagierten Mitglieder der israelischen Regierungskoalition | |
| offen Vertreibung und Tod der Palästinenser. Biden wies den Vorwurf, ein | |
| Komplize des Völkermords zu sein, ab und rechtfertigte stattdessen | |
| wiederholt die US-Außenpolitik. Zwar verurteilte er im Verlauf des Krieges | |
| immer deutlicher das Vorgehen des israelischen Militärs, ließ aber eine | |
| Fortsetzung der Waffenlieferungen an Israel, ungeachtet wiederholter | |
| Drohungen, nahezu ungebremst zu. | |
| In Deutschland hat sich die langjährige Weigerung, den Staat Israel im | |
| Einklang mit dem Völkerrecht zu behandeln, so fest in der politischen | |
| Mainstream-Kultur verankert, dass der von Israel über lange Monate | |
| vorangetriebene Völkermord im Gazastreifen heute noch immer von manchen | |
| geleugnet wird. Je deutlicher sich die wahrheitsgemäße Darstellung der | |
| Ereignisse durchsetzt, desto härter – so scheint es – werden kritische | |
| Stimmen und [5][Demonstrationen] nicht nur in Deutschland, sondern | |
| europaweit unterdrückt. | |
| ## Deutschland muss über seine Rolle nachdenken | |
| In seinem kürzlich erschienenen Buch [6]["One Day Everyone Will Have Always | |
| Been Against This"] beleuchtet der kanadisch-ägyptische Schriftsteller, | |
| Journalist und Kriegsberichterstatter Omar El Akkad einige der | |
| Hintergründe, die die Komplizenschaft des Westens bei den Kriegsverbrechen | |
| im Gazastreifen sowie das Unvermögen von Politikern und Intellektuellen | |
| erklären, die Realität des Krieges zu erkennen. Er zeigt sich erstaunt | |
| darüber, dass in den USA Demokraten verwirrt zu sein scheinen, weil so | |
| viele Menschen einen mutmaßlichen Völkermord einfach nicht akzeptieren | |
| können. | |
| El Akkad bringt diese Weigerung, die moralische Haltung und den gesunden | |
| Menschenverstand von großen Teilen der Bevölkerung als relevant für die | |
| hohe Politik anzuerkennen, in Zusammenhang mit dem Aufstieg der extremen | |
| Rechten. Während Politiker der Mitte bereit sind, ihre eigene vermeintlich | |
| radikale linke Basis zugunsten eines – man könnte sagen – | |
| nichtexistierenden Status quo zu opfern, verlieren sie eine Schlacht nach | |
| der anderen gegen die radikale Rechte, deren Erstarken die Grundlagen der | |
| Demokratie bedroht. | |
| Die deutsche Regierung wie auch die deutsche Öffentlichkeit sollten | |
| angesichts der begangenen Kriegsverbrechen im Gazastreifen dringend über | |
| ihre historische Rolle in der gegenwärtigen Lage nachdenken. | |
| Übersetzung von Roii Ball | |
| 24 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.un.org/unispal/document/a-hrc-59-23-from-economy-of-occupation-… | |
| [2] https://internationalepolitik.de/de/wird-das-voelkerrecht-instrumentalisiert | |
| [3] https://english.elpais.com/international/2024-05-24/kevin-heller-advisor-to… | |
| [4] https://www.dci-palestine.org/ | |
| [5] https://www.theguardian.com/world/2025/oct/14/right-to-protest-criminalisat… | |
| [6] https://www.youtube.com/watch?v=_acrzCmGyAE | |
| ## AUTOREN | |
| Nitzan Lebovic | |
| ## TAGS | |
| Genozid | |
| Kriegsverbrechen | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Benjamin Netanjahu | |
| Social-Auswahl | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt USA unter Trump | |
| Israel | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| US-Diplomatie in Israel: US-Vize Vance glaubt noch an Frieden | |
| Hofft auf „Gottes Hilfe“: US-Vizepräsident Vance ist mit einer Delegation | |
| in Israel. Ziel ist, Druck auf beide Kriegsparteien auszuüben. | |
| IGH-Gutachten zur Hilfe für Gaza: Der Maßstab, den wir brauchen | |
| Israel ist als Besatzungsmacht für die Bevölkerung in Gaza verantwortlich – | |
| urteilt der Gerichtshof. Aber das Land hat seine Pflicht nicht erfüllt. | |
| IGH-Urteil über Gaza: Israel darf „Aushungern der Zivilbevölkerung nicht al… | |
| Israel muss die volle Versorgung der Palästinenser:innen | |
| gewährleisten. Das hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag | |
| entschieden. |