| # taz.de -- Freiwilliger Verzicht auf Dating: Ganz praktisch ohne Sex | |
| > Im freiwilligen Zölibat wenden Menschen sich bewusst davon ab, Sex zu | |
| > haben oder Sex zu suchen. Für manche setzt das ganz neue Energien frei. | |
| Bild: Menschen wünschen sich Sex etwa aus Langweile, für Nähe, für Bestäti… | |
| Berlin taz | Wenn Katie Schneider* lacht, strahlt ihr ganzes Gesicht. | |
| Schneider trägt gern knalligen Lippenstift und lebt im Zölibat. Nicht im | |
| religiösen Sinne des Eheverzichts, sondern ganz praktisch: [1][Sie hat | |
| keine Sex und sucht auch keinen.] Katie Schneider ist Mitte 30, geboren im | |
| Südwesten Berlins und sie ist eine von vielen in der Stadt, die sich für | |
| Sexlosigkeit entscheidet. „Einige meiner Freundinnen machen das auch | |
| gerade“, sagt sie. Ihr Grund: keine Lust mehr auf Dating, zu viele | |
| schlechte Erfahrungen. | |
| Schneider steckt ihre Sonnenbrille ins Haar und sagt: „Immer dieses Auf und | |
| Ab mit den Typen und dann nur ein halber Orgasmus, nee, keinen Bock mehr | |
| darauf.“ Also verzichtet sie auf Sex, entscheidet sich dagegen, sich von | |
| Beziehung zu Beziehung zu hangeln, „wie Äffchen von einer Liane zur | |
| nächsten“, wie sie sagt. Und das ausgerechnet in Berlin, wo Menschen gern | |
| mal zwei oder drei „Lianen“ gleichzeitig umklammern, einfach weil es | |
| möglich ist. | |
| Nun also das Zölibat, für das sich immer mehr Berlinerinnen entscheiden. | |
| Muss die Singlehauptstadt um ihren Ruf als sexpositiver Hotspot fürchten? | |
| In Deutschland wohnen die meisten Singles in Ballungsräumen. In Berlin | |
| sollen es fast 30 Prozent der Erwachsenen sein. Laut Statistischem | |
| Landesamt gehen Geburten und Eheschließungen von Jahr zu Jahr zurück. | |
| Single oder unverheiratet heißt aber nicht automatisch sexlos. Im | |
| Gegenteil, [2][in Berlin werden die meisten Dating-Apps heruntergeladen]. | |
| Einige gibt es sogar nur hier, viele bieten direkt Funktionen an, bei denen | |
| man klar weiß: Dieses Treffen ist für Körperlichkeiten gedacht, nicht fürs | |
| Standesamt in Steglitz. | |
| Warum also zölibatär leben? Katie Schneider sagt, sie möchte auf ihre | |
| Energie aufpassen, Sex mit „irgendwem“ sei auch nicht schön und sie kenne | |
| viele Paare, bei denen auch nichts mehr laufe. | |
| ## Auch Paare leben sexlos | |
| „Für die Selbsterkundung kann ein Verzicht auf Sexualität heilsam sein“, | |
| sagt die Sexualtherapeutin Sonja Werner. Dadurch könne „emotional und | |
| energetisch Ruhe einkehren“. Kreativität und Selbstkontrolle steigen und | |
| man lerne sich selbst anders kennen. Manche Menschen verzichten aber auch | |
| zwangsweise auf sexuelle Begegnungen aufgrund von negativen Erfahrungen. In | |
| ihrer Praxis in Neukölln bietet Werner Tantra und Körperarbeit an. | |
| „Auch Paare kommen zu mir, die zum Teil seit Jahren sexlos leben“, sagt | |
| sie. Sei es aufgrund traumatischer Erfahrung, der Beziehungsdynamik oder | |
| weil es schlicht nicht mehr gewollt sei. „Ich schaffe einen Raum, wo über | |
| alles gesprochen werden kann. Mit sensibilisierenden und sanften Techniken | |
| können sich die Menschen wieder mit sich und dann mit anderen in Kontakt | |
| bringen.“ | |
| Es gibt viele gute Gründe, Sexualität auszuklammern und nicht zu wollen. Es | |
| gibt auch viele Ebenen, anders intim und verbunden mit sich und seinen | |
| Beziehungspersonen zu sein. In manchen Kulturen wird das Zölibat auch als | |
| „Superkraft“ bezeichnet, weil es angeblich die Fähigkeit verleiht, sich auf | |
| andere Dinge zu konzentrieren, Geduld zu üben. | |
| Schneider will nach Jahren des Datens, der Situationships, der On-Offs | |
| einfach keinen Stress mehr. Asexuell sei sie jedoch nicht. „Wenn immer | |
| wieder im sexuellen Kontext unsere Gefühle und Stimmungen nicht respektiert | |
| werden, ziehen sich viele zurück“, sagt die Sexologin Julia Henchen. Denn | |
| das Respektieren von Grenzen sei eine Voraussetzung für Lust. „Wenn Männer | |
| diese Grenzen wiederholt nicht einhalten, setzen Frauen die Grenzen selbst, | |
| oft dann kategorisch“, so die Paar- und Sexualtherapeutin. | |
| ## Kuchen statt KitKat | |
| Frauen sind mit vielen Anforderungen konfrontiert, um Männern zu gefallen: | |
| Körperlich sollen sie sein, aber bloß nicht zu laut, zu kompliziert, zu | |
| emotional. „Dagegen entscheiden sich Frauen immer wieder, zum Beispiel eben | |
| durch Sexlosigkeit. In der Partnerschaft oder besonders auf dem oft sehr | |
| verletzenden Dating-‚Markt‘“, sagt Julia Henchen. | |
| Doch nicht nur Frauen leben in Berlin ohne Sex. Schneider hat einen | |
| Nachbarn, er sei gutaussehend, immer zu Hause und lustig, sagt sie. Sie | |
| rufe ihn manchmal an, wenn es sonntags zu ruhig ist, dann gehen sie | |
| spazieren. Er hört gut zu, bringt sie zum Lachen – auch er lebt ohne Sex. | |
| Tom Hansen* wird bald 40, sitzt in seinem Lieblingscafé an seinem Laptop. | |
| Auf die Frage, ob er auch im Zölibat lebe, sagt er: „Äh nein, also nicht | |
| bewusst, es hat sich einfach so ergeben. Vielleicht ist es einfach so | |
| kompliziert mit Frauen.“ | |
| Ist Hansen also ein Incel, also einer jener unfreiwillig im Zölibat | |
| Lebenden – auf Englisch „involuntary celibates“ – Frauenhasser? „Nur … | |
| ich einen Computer habe und oft abends arbeite, heißt das noch lange nicht, | |
| dass ich Frauen im Netz hasse und denke, Alligatoren steuern unser Land“, | |
| sagt er genervt. „Warum muss ich mich rechtfertigen, wenn mir manchmal | |
| Kuchen lieber ist als das Kitkat?“ | |
| ## Aus welchen Gründen haben Menschen Sex? | |
| Eine große Auswahl an Kuchen gibt es bei den Treffen der „Charming Theys“, | |
| einem Stammtisch für Asexuelle, die sich regelmäßig in einem ruhigen Café | |
| in Prenzlauer Berg treffen. Dieses entspannte Zusammenkommen organisiert | |
| Momo. „Asexualität zu leben, bedeutet für mich, zu mir zu stehen und schon | |
| sehr früh im Dating Erwartungshaltungen anzusprechen“, sagt Momo. „Das ist | |
| nicht immer leicht. Denn es ja nicht die Norm, Sex keinen hohen Stellenwert | |
| in romantischen Beziehungen zu schenken“, insbesondere nicht in einer Stadt | |
| wie Berlin. | |
| Bei ihren Treffen fragt Momo ab, wo auf einem Spektrum die | |
| Teilnehmer*innen sich im Moment einordnen würden, bei dem Wunsch nach | |
| körperlicher Nähe oder regelmäßigem Sex. Momo versucht so, deutlich zu | |
| machen, dass Menschen nicht für immer und in jeder Lebenslage auf bestimmte | |
| Handlungen festgelegt sind, sondern sich beim Wunsch nach Nähe immer wieder | |
| in sich einfühlen und mit anderen in Kontakt kommen können. | |
| Also einfach etwas mehr Achtsamkeit und Ruhe ins Thema bringen? „Viele | |
| Menschen stellen sich in Sachen Sex zwei besorgte Fragen: Ist das normal? | |
| Und: Ist das großartig genug?“, sagt die Berliner Kulturwissenschaftlerin | |
| und Autorin Beate Absalon. Ihre Antworten würden sie dann in äußeren Normen | |
| suchen. Mit Lust auf Sex habe das wenig zu tun. „Von welchem Sex wird sich | |
| eigentlich zölibatär abgewendet? Ist es nicht der sinnentleerte Sex, der | |
| nichts mit uns zu tun hat?“ | |
| Absalon schlägt vor, die vielen verschiedenen Gründe, warum man sich | |
| überhaupt Sex wünscht, zu hinterfragen. Wann ist es zum Beispiel Langweile, | |
| der Wunsch nach Nähe, der nach Bestätigung und ist dann wirklich immer Sex | |
| die Lösung? Absalon macht Workshops zu diesen Fragen und veranstaltet im | |
| Kollektiv „Luhmen d’Arc“ regelmäßig große Orgien. Die Unlust erforscht… | |
| allerdings ebenso gern und hat das Buch „Not give a fuck“ zum Thema | |
| geschrieben. | |
| ## Verletztendes Dating | |
| Schon in den Anfängen der Frauenbewegung habe das feministische Zölibat es | |
| ermöglicht, Normen zu hinterfragen und die durch Sexlosigkeit frei | |
| gewordene Zeit für leidenschaftliche Projekte zu nutzen: Kunst, Politik, | |
| Gemeinschaftsbildung. „Heute können wir davon lernen und uns grundlegende | |
| Fragen stellen: Warum habe ich Sex, welche Bedürfnisse möchte ich damit | |
| stillen und eignen sich nicht sexuelle Tätigkeiten dafür vielleicht viel | |
| besser?“ | |
| Oft geht es beim neuen Zölibat jedoch weniger um den Sex an sich, als um | |
| das unbefriedigende und verletzende Dating. Auch Katie Schneider gibt zu, | |
| sich dabei schon mal nicht so gut verhalten zu haben. „Klar habe ich schon | |
| mal eine falsche Nummer rausgegeben, obwohl wir uns gut verstanden hatten, | |
| oder auch einfach nach einem Date die Nummer geblockt, weil ich doch nicht | |
| so viel Interesse hatte, aber nicht wusste, wie ich es sagen soll.“ | |
| Ihr Nachbar Tom Hansen sagt: „Ich habe mich bei Ex-Freundinnen auch nicht | |
| wieder gemeldet und oft bei Chats aufgehört weiterzuschreiben, ohne | |
| Verabschiedung.“ Doch woran liegt dieser Umgang mit neuen Leuten? Erst | |
| Tindern auf dem Klo und die Möglichkeit maximaler körperlicher Nähe, dann | |
| komplettes Wegtauchen? | |
| Die Autorin Katja Lewina schreibt über Sex und Liebe, eines ihrer Bücher | |
| heißt „Ex“, ein anderes „Lass uns Freunde bleiben“. Bei beiden geht es… | |
| den kritischen Umgang mit der eigenen Beziehungsgeschichte, dem Umgang mit | |
| sich und mit anderen. Sie schlägt vor, zumindest zu versuchen, den „full | |
| cycle“ zu gehen, selbst wenn man sich nicht wiedersehen will. Höflicher | |
| Anfang und Abschied, ein paar Worte, etwas Lob, um dann auch gehen zu | |
| können, ohne wieder ein verletztes Herz in die Berliner Nacht zu schicken. | |
| Katie Schneider und Tom Hansen hätte das vielleicht geholfen. Andererseits | |
| hat Schneider bald ihre Promotion fertig und genießt es, sich nicht um | |
| jemanden kümmern zu müssen. An manch einem milden Sommerabend sieht man die | |
| beiden in einem der Berliner Parks spazieren gehen, sie trägt eine große | |
| Sonnenbrille, er schaut sie von der Seite an – vielleicht sogar ein wenig | |
| verliebt. Aber vielleicht hört er ihr auch nur aufmerksam zu. Auch eine Art | |
| Superkraft. | |
| *Namen geändert | |
| 4 Sep 2025 | |
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