| # taz.de -- Fotos von weltpolitischer Größe: Ein ganzes Jahrhundert auf Film | |
| > 1979 reiste der jüdische Fotograf Alfred Eisenstaedt nach Berlin – und | |
| > hielt fest, was von der alten Heimat blieb. Eine Würdigung zum 30. | |
| > Todestag. | |
| Bild: Petroleumfabrik in Rumänien, 1935: Eisenstaedt konnte erzählerische Sit… | |
| Im Herbst 1979 reist ein US-Bürger nach Deutschland. Er ist auf der Suche | |
| nach Fotomotiven, die unter anderem in einer Ausstellung im Smithsonian | |
| Institute in Washington gezeigt werden sollen. Gesponsert wird es von der | |
| United Technologies Company. So durchstreift ein Mann mit seiner kleinen | |
| Leica-Kamera auch Berlin, die Stadt, die er seit seiner Emigration vor 44 | |
| Jahren nicht mehr gesehen hat. | |
| Alfred Eisenstaedt, genannt „Eisie“, ist 81 Jahre alt und einer der | |
| berühmtesten [1][Fotoreporter] der Welt. Sein Aufenthalt wird in Berlin, wo | |
| er von 1906 bis 1935 lebte, auch zu einer Reise in seine Vergangenheit. | |
| Eisenstaedt, der bereits als 14-jähriger seine [2][ersten Fotos] machte, | |
| arbeitete nach seiner Gymnasialzeit und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs | |
| zunächst mit im Geschäft der Familie und fotografierte nur in seiner | |
| Freizeit. Als er 1927 zum ersten Mal ein Foto an die [3][Berliner | |
| Illustrirte Zeitung]verkaufen konnte, beendete das die eher ungeliebte | |
| Kaufmannslaufbahn. | |
| 1929 bekam Eisenstaedt seinen ersten großen internationalen Auftrag, als er | |
| die Verleihung des Nobelpreises fotografisch begleiten durfte. Ein Jahr | |
| später heiratete er in erster Ehe Lieselotte Frank, da war er längst ein | |
| bekannter Fotograf und Bildreporter, unter anderem für die Berliner | |
| Illustrirte. | |
| Nach seiner Emigration brachte er es bis zum „Hausfotografen“ des | |
| Life-Magazins. Im Lauf der Zeit entstanden über 2.500 Fotos aus aller Welt, | |
| 90 mal zierte eines seiner Werke die Titelseite. Eisenstaedt hatte sich | |
| nach seiner Emigration mit den neuen Lebensumständen arrangiert, während | |
| sich sein Bruder Erich nach seiner Emigration nichts sehnlicher gewünscht | |
| hatte, als mit seiner Frau Else nach Deutschland zurückzukehren, aber bis | |
| ans Lebensende in Israel blieb. | |
| Es wird Alfred Eisenstaedt im Jahr 1979 seiner Rückkehr – lange hatte er | |
| gezögert – geschmerzt haben zu sehen, wie sich die Stadt verändert hatte, | |
| in die der 1898 im westpreußischen Dirschau geborene Kaufmannssohn einst | |
| umgesiedelt war; Vater Josef Eisenstaedt hatte am Dirschauer Marktplatz | |
| eine Weiß-, Woll- und Strumpfwarenhandlung betrieben. Nun war der Auftrag | |
| für Eisenstaedt, der sich nie als politisch betrachtete, aktuelle Fotos den | |
| alten aus seiner Berliner Zeit gegenüberzustellen. | |
| Aber was war noch politischer als die Berliner Mauer? Die | |
| Menschenverachtung und die Opfer, die sie eben durch politische | |
| Gegebenheiten gefordert hatte? All das muss für Eisenstaedt, der einst nur | |
| drei Monate nach seiner Emigration 1936 in New York die | |
| US-Staatsbürgerschaft beantragt hatte, sehr befremdlich gewesen sein. | |
| ## Bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt | |
| Seine alte Heimat, so wie er sie kannte, war verloren. So gerieten die | |
| Berlin-Bilder auch zu einer Art persönlichen Abgesang. Eisenstaedt sah eine | |
| Stadt, die durch eine mitunter todbringende Mauer geteilt worden war, als | |
| ob sie der Zweite Weltkrieg nicht sowieso schon bis zur Unkenntlichkeit | |
| verstümmelt hätte. | |
| Eisenstaedt fotografierte damals unter anderem auch ein Schaufenster des | |
| KaDeWe, wo man anlässlich der Israel-Wochen vom 14. bis zum 29. September | |
| 1979 ein eigenes Fenster gestaltet hatte, das als Werbung für die | |
| Präsentation israelischer Waren dienen sollte. „Shalom Jerusalem“ hieß es | |
| auf dem Fenster, während sich darauf der Mercedes-Stern auf dem Dach des | |
| Europa-Centers spiegelte, aber auch der prägnante Rundbau des | |
| Leiser-Schuhgeschäfts zu erkennen war. | |
| Der heutige Betrachter ahnt, dass dieses Fenster 2025 vielleicht nicht | |
| lange halten würde, zu politisch aufgeheizt ist die Stimmung in der Stadt. | |
| Natürlich besuchte Eisenstaedt den Jüdischen Friedhof Weißensee. Dort hatte | |
| er als Zehnjähriger um seinen Großvater, den Fleischermeister Moses | |
| Eisenstaedt, getrauert und drei Jahre später um seinen fünfjährigen Bruder | |
| Herbert. | |
| Auch 1925 hatte er dort gestanden – noch als Kaufmann, der bei den Eltern | |
| wohnte. Der Vater war längst tot, hatte aber immerhin eine Grabstätte, | |
| anderen Mitglieder der Familie Eisenstaedt war das versagt geblieben. Alle | |
| vier Kinder von Salomon Eisenstaedt – Johanna, Ida, Arthur und Erna –, | |
| Alfreds Eisenstaedts Onkel, und dessen Frau Rosa geborene Blumenheim wurden | |
| 1943 in Auschwitz ermordet. | |
| So geriet das junge Mädchen, das Eisenstaedt auf dem Friedhof Weißensee | |
| wohl zufällig traf, stellvertretend für die eigene Trauer. Vergangenheit | |
| und Gegenwart vermischten sich, als das Mädchen, das ebenfalls das Grab | |
| ihrer Familie besuchte, apathisch auf den Boden starrte. | |
| Eisenstaedts kleine Kamera klickte leise. Vermischte sich der Privatmensch | |
| mit dem professionellen Bildreporter. Es war die Kunst Eisenstaedts, | |
| erzählerische Situationen intuitiv in einem Bruchteil von Sekunden | |
| aufzugreifen und fotografisch zu verewigen. | |
| Beängstigend hingegen war vor allem das Foto eines Todesstreifens an der | |
| Berliner Mauer, aber auch das des Gedenkortes für den Mauertoten Bernd | |
| Lünser, der am 4. Oktober 1961 bei einem Fluchtversuch an der Bernauer | |
| Straße gestorben war, als er von einem Hausdach sprang und dabei das von | |
| der Westberliner Feuerwehr aufgespannte Sprungtuch verfehlte. | |
| Natürlich konnte Eisenstaedt auch ein dermaßen starkes Motiv wie den | |
| Fernsehturm nicht ignorieren, der bei ihm alles andere überragte, was nicht | |
| schwer war. Die Soldaten im Wachturm an der Mauer, die durch die | |
| ungewöhnlichen Lichtverhältnisse nur schemenhaft wirkten, sahen durch den | |
| Fernsehturm noch kleiner, noch anonymer aus, weil sie sowieso fast mit dem | |
| Beton zu verschmelzen schienen. | |
| Die Fotos haben einen dokumentarischen Wert für die Geschichte der | |
| deutschen Teilung haben, so wie die Aufnahme vom Leninplatz, auf der zwei | |
| mutmaßliche Stasi-Männer im Trenchcoat im Schatten Lenins zielstrebig die | |
| monumentalen Plattenhäuser ansteuern. | |
| ## „König seines Berufs“ | |
| Für Eisenstaedts persönliche Historie ganz besonders symbolträchtig war | |
| nicht nur die Aufnahme von Weißensee, sondern die von der Stelle des | |
| Bunkers, in dem Hitler starb. Der Mann, der daran schuld war, dass | |
| Eisenstaedt hatte emigrieren müssen. | |
| An dämonischer Stimmung übertreffen konnte das nur noch ein Foto, das | |
| Eisenstaedt 1933 im Rahmen einer Reportage über die Konferenz des | |
| Völkerbunds in Genf aufgenommen hatte. Joseph Goebbels’ Blick und Haltung | |
| verriet deutlich, wie sehr er Eisenstaedt aufgrund seiner Religion | |
| verachtete. | |
| Eisenstaedt ließen diese Teufel in Menschengestalt aber augenscheinlich | |
| kalt. Laut eigener Aussage war er völlig angstfrei, sobald er eine Kamera | |
| in der Hand hielt. Mit ihr hatte Eisenstaedt sehr oft unsichtbare Schranken | |
| beseitigt und gesellschaftliche Barrieren aufgelöst. Das hatte zu einem | |
| entspannten Umgang mit Königen, Politikern und Prominenten geführt – außer | |
| eben bei Goebbels. | |
| Das war Eisenstaedts Stärke: den „erzählenden“ Moment finden und für die | |
| Ewigkeit festhalten, sich selber dabei zurücknehmen. Keinesfalls vor dem | |
| anderen in Ehrfurcht erstarren, wer oder was auch immer er war. | |
| Er sei „König seines Berufs“, schrieb eine US-Zeitung über ihn. Ein Mensc… | |
| der wusste, was er konnte, der privat einen gesunden Lebensstil pflegte, | |
| nicht rauchte und nicht trank. Der früh ins Bett ging und um fünf Uhr | |
| morgens aufstand. Der aber auch die Musik und das Gärtnern liebte. | |
| Der preisgekrönte Fotoreporter Alfred Eisenstaedt starb am 23. August 1995 | |
| an einem Herzstillstand. Noch zu Lebzeiten hatte Eisenstaedt sämtliche | |
| Negative an die Time Inc. übergeben. 278 Fotos, darunter die im Jahr 1979 | |
| in Berlin aufgenommenen, sind heute in einer [4][Onlineausstellung] zu | |
| sehen. | |
| 22 Aug 2025 | |
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| [4] https://www.icp.org/browse/archive/constituents/alfred-eisenstaedt | |
| ## AUTOREN | |
| Bettina Müller | |
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