| # taz.de -- Israels Pläne für Gaza: Wiederbesetzung nach 20 Jahren? | |
| > 2005 zog Israel sich aus Gaza zurück. Während Befürworter und Gegner von | |
| > damals streiten, schafft Netanjahu Fakten. | |
| Bild: Zerstörung überall, wie hier in Gaza-Stadt nach einem Angriff Anfang Ju… | |
| Jerusalem taz | Trotz vieler internationaler Proteste, trotz der | |
| [1][humanitären Katastrophe] für die Bewohner Gazas und trotz des | |
| Widerstands in Israel: Benjamin Netanjahus Regierung schickt sich an, den | |
| Gazastreifen einzunehmen. Neu ist das nicht. Bis vor 20 Jahren hielt Israel | |
| das Küstengebiet schon einmal besetzt, 38 Jahre lang, bis die Armee 2005 | |
| unter Premierminister Ariel Scharon abzog. Heute, 20 Jahre später, sorgt | |
| die damalige Entscheidung erneut für heftige Debatten. | |
| Der rechte Journalist Amit Segal etwa wird nicht müde, den Befürwortern | |
| jenes Abzugs ihre eigenen Worte von damals vorzuhalten. So zitiert er den | |
| 2014 verstorbenen Scharon: Die Räumung der Siedlungen in Gaza diene „Israel | |
| unter allen Umständen“. Oder Scharons Verteidigungsminister Schaul Mofas, | |
| der damals von einem „Rückgang der Terrorangiffe“ ausging. Oder Scharons | |
| Nachfolger Ehud Olmert, der den Gegnern des Abzugs vorgeworfen habe, sie | |
| sähen nur ewigen Terror, doch die Regierung garantiere eine Möglichkeit für | |
| Veränderung. | |
| „Eines bleibt elementar“, schreibt Segal in einer der meistgelesenen | |
| Zeitungen des Landes, Israel Hayom. Die eine Gruppe von Israelis habe in | |
| Gaza damals „Raketen, Tunnel und Überfälle“ kommen sehen. Die andere habe | |
| sich „Ruhe, Entwicklung und internationale Investitionen in Gaza“ | |
| vorgestellt. Für ihn sei der Fall klar: „Die erste Gruppe hatte absolut | |
| recht.“ Und: Mit dem Gaza-Abzug 2005 sei der Hamas-Überfall am 7. Oktober | |
| 2023 nur eine Frage der Zeit gewesen. | |
| Segals Position ist heute populär in Israel. Während die Armee den | |
| Gazastreifen bereits zu rund drei Viertel kontrolliert, halten derzeit mehr | |
| als die Hälfte der jüdischen Israelis eine erneute Besiedlung für eine gute | |
| Idee. Bald sollen laut Netanjahu auch die übrigen Gebiete erobert werden. | |
| Wo die auf engstem Raum ausharrenden rund 2 Millionen Palästinenser dann | |
| hin sollen, ist bisher unklar. | |
| ## Die Angriffe nehmen zu | |
| Netanjahu befeuerte jüngst in einem Interview erneut Spekulationen über | |
| eine geplante Vertreibung in andere Länder. „Öffnet eure Türen“, forderte | |
| er andere Staaten auf. Derzeit laufen offenbar Gespräche zwischen Israel | |
| und Südsüdan zur Vertreibung von Palästinensern aus Gaza. | |
| Die Luftangriffe auf Gaza-Stadt nehmen schon zu, laut einem Hamas-Vertreter | |
| stoßen auch schon israelische Bodentruppen vereinzelt [2][nach Gaza-Stadt | |
| vor]. Allein am Mittwoch meldeten die Gesundheitsbehörden in Gaza 123 Tote | |
| bei israelischen Angriffen. | |
| „Eine Wiederbesetzung von Gaza wäre ein absolut sinnloser Plan“, hält Dov | |
| Weisglass den Kritikern des Abzugs 2005 heute entgegen. Der frühere Berater | |
| von Scharon gilt als einer der Architekten des „Abkopplungsplans“. Worauf | |
| die Regierung Netanjahu zusteuere, sei ein Schritt zurück vor die Zeit der | |
| Oslo-Verträge der Neunzigerjahre, zurück zur Militärverwaltung der | |
| palästinensischen Bevölkerung, sagt der 78-Jährige am Telefon. Er lebt | |
| nördlich von Tel Aviv. | |
| Weisglass hat als Anwalt mehrere Regierungschefs vertreten, darunter | |
| Jitzhak Rabin und Ehud Olmert. 2009 arbeitete er kurz für den damals neu | |
| gewählten Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. | |
| Israel habe Gaza de facto bereits eingenommen, sagt Weisglass. 86 Prozent | |
| des Gebiets stehen laut UNO entweder unter Evakuierungsanordnungen oder | |
| gelten als militärische Sperrzone. Von Verantwortung für die Versorgung der | |
| Menschen ist bisher wenig zu erkennen. Die humanitäre Lage wird immer | |
| schlimmer. | |
| Im Jahr 2005 habe man das Gegenteil im Sinn gehabt, sagt Weisglass. | |
| Zwischen August und September 2005 wurden rund 8.000 jüdische Siedler aus | |
| 21 völkerrechtswidrigen Siedlungen im Gazastreifen geräumt. „Erstmals in | |
| ihrer Geschichte erhielten die Palästinenser die Kontrolle über den | |
| gesamten Gazastreifen“, sagt Weisglass. | |
| ## Sehnen nach Ruhe | |
| Er zählt auf, was ihm damals möglich schien: „Zusammen mit der | |
| Palästinensischen Autonomiebehörde gab es große Pläne: einen | |
| Tiefwasserhafen etwa, die Eröffnung eines Flughafens bis hin zu einem | |
| Tunnel zwischen Gaza und dem Westjordanland.“ Die Palästinenser hätten | |
| damals funktionierende Institutionen aufbauen und den militanten Widerstand | |
| in den eigenen Reihen eindämmen können. | |
| Mit seiner Sicht war Weisglass vor 20 Jahren in Israel nicht allein. Ein | |
| Kolumnist der linksliberalen Ha’aretz, Nehemia Schtrasler, träumte damals | |
| von palästinensischen Hummus- und Fischrestaurants in Gaza, die von | |
| israelischen Touristen profitieren würden. | |
| Scharons „Abkopplungsplan“ stieß nach anfänglichem Widerstand bei vielen | |
| Israelis auf Unterstützung. Nach Jahren blutiger Selbstmordanschläge und | |
| israelischer Vergeltungsaktionen während der zweiten Intifada sehnte man | |
| sich nach Ruhe. | |
| In Weisglass’ Erzählung klingt das so: Dem Hardliner und | |
| Siedlungsbefürworter Ariel Scharon sei klar gewesen, dass Israelis und | |
| Palästinenser je einen eigenen Staat bräuchten. Er habe erkannt, dass Gaza | |
| anders als das Westjordanland am Ende von künftigen Friedensverhandlungen | |
| an die Palästinenser gehen würde. „Damit war jeder Israeli, der für ein | |
| Gebiet stirbt, das nie zu Israel gehören wird, einer zu viel“, sagt der | |
| 78-Jährige. „Wenn es gut liefe, könnten wir im Anschluss über die | |
| ungelösten Fragen verhandeln, wie etwa den künftigen Status von Jerusalem“, | |
| sagt Weisglass. Am Ende hätte ein palästinensischer Staat stehen können. | |
| Nur hatte Scharon die Entscheidung ohne die Palästinenser gefällt. Vor der | |
| Weltöffentlichkeit wurde der Schritt als großes Zugeständnis wahrgenommen. | |
| Zur ganzen Geschichte gehört aber auch, dass Israel den Palästinensern | |
| mitnichten ein souveränes Gaza überließ. Unter anderem die Kontrolle über | |
| den Luftraum und die Seegrenzen, den Personen- und Warenverkehr oder die | |
| Telekommunikationsnetze blieben ganz oder teilweise in der Hand Israels. | |
| Manche Rechtsexperten gehen deshalb davon aus, dass damit der | |
| völkerrechtliche Besatzungsstatus trotz Abzugs aufrechterhalten wurde. | |
| ## Spaltung in zwei Lager | |
| „Wir sind so weit gegangen, wie die Umstände es erlaubten“, sagt Weisglass. | |
| Nach den Anschlägen der zweiten Intifada habe man nicht von heute auf | |
| morgen alles hineinlassen können. „Auf Angriffe mussten wir reagieren, aber | |
| wir haben so moderat wie möglich reagiert, um die Autonomiebehörde nicht | |
| mehr als notwendig in ein Dilemma zu bringen.“ | |
| Was die Palästinensische Autonomiebehörde allerdings in ein Dilemma | |
| brachte, war die Tatsache, dass Scharon mehrere Ziele verfolgte. Zum einen | |
| unterstrich der Abzug das Scheitern des Oslo-Prozesses, mit dem auch viele | |
| Palästinenser Hoffnungen verbunden hatten. Die Botschaft: Mit den | |
| Palästinensern musste nicht mehr verhandelt werden. Zum anderen gab Israel | |
| zwar auch im nördlichen Westjordanland vier Siedlungen auf, baute dafür | |
| aber andere deutlich aus und untermauerte seine Ansprüche auf das | |
| Westjordanland. Die Palästinenser in Gaza und im Westjordanland spaltete | |
| der Schritt letztlich in zwei Lager. Kritiker werfen Scharon vor, genau das | |
| beabsichtigt zu haben. | |
| 2006 gewann die radikalislamische Hamas die Wahlen zum palästinensischen | |
| Legislativrat gegen die traditionell führende, säkulare Fatah. 2007 | |
| übernahm die Hamas nach einem blutigen Kampf die Macht in Gaza. Die Fatah | |
| unter Mahmud Abbas regierte weiter unter israelischer Besatzung im | |
| Westjordanland. Die Angriffe aus Gaza auf Israel nahmen zu, es folgte eine | |
| strikte Blockade des Küstenstreifens. | |
| ## Leere Hülle, aber mit Chancen | |
| Kritiker wie Segal unterschlagen Weisglass zufolge aber, dass seit 2009 | |
| fast ununterbrochen mit Netanjahu einer der ihren an der Spitze der | |
| Regierung steht. „Es war Netanjahu, der seit seinem Amtsantritt die | |
| Zusammenarbeit mit der Autonomiebehörde einstellte.“ | |
| Weisglass glaubt, die Palästinensische Autonomiebehörde habe auch heute | |
| noch eine Chance, die Hamas aus Gaza zu verdrängen. „Natürlich ist sie in | |
| ihrem jetzigen Zustand eine leere Hülle“, sagt er. Ihr als rechtmäßiger | |
| palästinensischer Vertretung dennoch formal die Autorität über Gaza zu | |
| übertragen, würde die Türe öffnen für einen Nachkriegsplan. Dann könnten | |
| arabische Länder bewaffnete Kräfte im Auftrag der Behörde schicken. „Die | |
| Hamas hat weder die Mittel noch ein Interesse, Nachkriegs-Gaza | |
| wiederaufzubauen. Ich bin mir sicher, die Gruppe würde, konfrontiert mit so | |
| einem Vorschlag, den Gazastreifen verlassen. Der Krieg hätte so vor Monaten | |
| enden können.“ | |
| Netanjahu indes scheint sich zunehmend auf ein neues Ziel zu verlegen: die | |
| Besetzung Gazas – ohne seine Bevölkerung. | |
| 15 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Felix Wellisch | |
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