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# taz.de -- Menschen mit Behinderung: Sichtbar für alle
> Erst hat sie sich zurückgehalten, jetzt steht Linn Bade im Rampenlicht.
> Auch, weil sie andere Menschen mit Behinderung ermutigen will.
Bild: Erst kürzlich machte die 24-Jährige Linn Bade ihre trans Identität öf…
Wie soll sie herausfinden, wer sie ist, wenn es so viele verschiedene
Rollenzuschreibungen gibt, aber keine davon richtig passt?
Draußen: Von der Hauptstraße führt ein Fußgängerpfad zwischen Bäumen und
Büschen in eine Wohnsiedlung in Berlin-Marienfelde, erbaut in uniformer
Nachkriegsarchitektur, als wären alle und alles gleich. Nach dem Krieg war
das ja in gewisser Weise auch so. Auf einer kleinen Rasenfläche vor dem
Haus steht einzig eine Rutsche. Einst war sie bunt, mittlerweile sind die
Farben ausgeblichen. Zur Mittagszeit hängt der Geruch von deftigem Essen
zwischen den Häusern. Auf einem Balkon plaudern zwei Frauen auf Polnisch.
Drinnen: Am Meer. Im Wohnzimmer geht es maritim zu. Eine Wand ist hellblau
gestrichen, auf Regalen stehen kleine Schiffchen, auf dem Fensterbrett
liegt eine große Muschel. Zwei schwarze Katzen huschen durch den Flur, eine
faucht die andere an. „Die beiden haben sich eben noch gezofft“, erklärt
Linn Bade den zickigen Auftritt.
Vorurteile: Aus dem Badezimmer tritt eine junge Frau. Sie ist eine von neun
Assistenzkräften, die Bade abwechselnd im Alltag unterstützen. Denn die
24-Jährige hat von Geburt an Spastiken, wodurch ihre Motorik eingeschränkt
ist. „Mein Leben fing schon von Minute eins an, anders zu werden als das
typische. Bei meiner Geburt hatte ich Sauerstoffmangel. Dadurch sind
Schädigungen in meinem Gehirn.“ Dass Linn Bade mit ihren Katzen in einer
eigenen Zweizimmerwohnung lebt, wird durch die Teilhaberegelungen im
Sozialgesetzbuch möglich.
Aber Selbständigkeit und Unabhängigkeit – das passe für viele bis heute
nicht ins Bild von Menschen mit Behinderung. „Ich erlebe oft, dass mir
Menschen nicht auf Augenhöhe begegnen“, sagt sie. In welchen Situationen
genau? „Wenn Fremde mit mir reden, als wäre ich ein kleines Kind. Wenn sie
mich ungefragt anfassen, weil sie mich stützen wollen. Viele denken zudem,
dass ich geistig behindert bin.“
Barrieren: Natürlich nerven sie solche sich immer wiederholenden
Erfahrungen. „Ich will ja wie alle anderen auch nur nach Hause, ohne mich
ständig erklären zu müssen.“ Die größte Hürde auf dem Weg zu einer
inklusiven Gesellschaft, meint sie, seien die Barrieren in den Köpfen.
„Klar, die Leute meinen es oft nicht so, meistens sind sie selbst einfach
unsicher.“
Sonderweg: Linn Bade ist gemeinsam mit einem älteren Bruder und einer
jüngeren Schwester in Berlin-Marienfelde aufgewachsen. Als Kind stand sie
oft ungewollt im Mittelpunkt der Familie, weil sie aufgrund ihrer
Behinderung mehr Aufmerksamkeit von den Eltern benötigte. „Es war für meine
Eltern schwierig, die Balance zu halten, damit meine Geschwister sich nicht
vernachlässigt fühlten.“ Ganz in der Nähe ihrer jetzigen Wohnung besuchte
sie früher eine Förderschule, gemeinsam mit anderen Kindern, die aus
unterschiedlichen Gründen nicht ins normative Raster passten. Ob sie im
Rollstuhl saßen, autistisch waren oder das Down-Syndrom hatten. In der
Schule mochte Bade am liebsten Mathe, zumindest bis zur Oberstufe. Mit
Sprachen hingegen stand sie immer auf Kriegsfuß.
Ziele: Nach der Schule wollte sie Mediengestalterin werden, aber auf ihre
Bewerbungen bekam sie kaum Antworten. Dabei kann sie dank technischer
Hilfsmittel problemlos am Computer arbeiten. Nach einem Jahr vergeblicher
Suche entschied sie sich für eine Ausbildung als Mediengestalterin, die
speziell für Menschen mit Behinderung ausgeschrieben war. Die war ein
Albtraum, findet sie: „Fernab jeder Realität, ohne Kundenkontakt, reine
Beschäftigungstherapie. Die Hälfte der Zeit war ich nur am Handy, weil es
so langweilig war.“
Leerstelle: Als Kind habe sich Linn Bade lieber im Hintergrund gehalten,
redete wenig, zweifelte oft. Heute tritt sie souverän vor großen Gruppen
auf und spricht über Inklusion. Damals hätten ihr Vorbilder gefehlt, mit
denen sie sich identifizieren konnte – Menschen, die mit einer Behinderung
sichtbar und selbstverständlich in der Öffentlichkeit stehen. Was sie nicht
hatte, sollen andere jetzt durch sie bekommen.
Vorbild: Deshalb klärt sie auf, engagiert sich, organisiert Projekte. Sie
will, dass Betroffene den ihnen vorgezeichneten Sonderweg verlassen,
eigensinnig bleiben und eigenständig werden. „Ich möchte für andere das
Vorbild sein, das mir früher selbst gefehlt hat.“ 2015 startete sie
deswegen zusammen mit ihrem besten Freund ihr erstes Projekt. Sie schrieben
ein [1][Onlinelexikon] zum Thema Behinderung in leichter Sprache. „A“ wie
„Angeborener Herzfehler“, „Autismus“, „Ataxie“, …
Soziale Medien: Später begann sie auch, auf [2][Instagram] kurze Videos zum
Thema zu posten. „Die Arbeit vor der Kamera macht mir Spaß.“ Ihr gefällt
es, dass sie dabei auf unterschiedliche Weise kreativ werden kann. Und sie
möchte damit auch was bewirken. „Ich mag es, meine Geschichte weiterzugeben
und vielleicht auch anderen Menschen mit Behinderung Mut zu geben, sich
nicht verstecken zu müssen.“ Weil Linn Bade mehr davon will, bewirbt sie
sich kurzerhand bei einer Komparsen-Agentur. Bingo.
Kurz danach spielt sie in einer großen Produktion mit, in [3][„Einfach mal
was Schönes]“, dem Kinofilm von Karoline Herfurth. Dort steht sie als Emin
in einer Nebenrolle vor der Kamera. „Für mich war das eine komplett neue
Erfahrung, ich wusste überhaupt nicht, was wie abläuft, fand mich aber sehr
schnell rein und liebe einfach die Arbeit am Set.“ Gerade spielt sie schon
bei ihrem nächsten Dreh mit. Diesmal in einer wesentlich größeren Rolle,
die ihre Schauspielkünste noch stärker herausfordert. „Das gewisse Etwas“
kommt im Herbst 2026 ins Kino.
Hilfe: In ihren Instagram-Videos spricht Linn Bade unter anderem über
persönliche Assistenz. Ohne die könnte sie nicht in ihrer eigenen Wohnung
leben. Die Kehrseite: „Immer ist jemand da, obwohl ich manchmal gern
alleine wäre.“ Bade beschäftigt derzeit neun Assistenzkräfte, meist in
Teilzeit. Für deren Gehälter erhält sie ein monatliches Budget von der
Pflegekasse.
Damit führt sie im Grunde ein kleines Unternehmen, inklusive aller
Aufgaben, die dazugehören. Dienstpläne, Abrechnungen, Verträge. „Meine
Assistenzkräfte sind nicht meine Freunde“, betont sie. „Von Angestellten
kann ich etwas verlangen, Freund:innen kann ich höchstens um einen
Gefallen bitten.“ Klar definierte Rollen machen vieles einfacher: „Wenn
jemand zum Beispiel immer zu spät kommt, soll es für mich kein Problem
sein, die Person zu feuern.“ Sie erwarte, dass auf sie eingegangen wird.
„Ich hasse es, wenn jemand einfach die Bude aufräumt. Wenn ich in einem
Saustall leben möchte, dann ist das so.“
Wandel: Seit fünf Jahren nähert sich Linn Bade Stück für Stück ihrer
weiblichen Identität. Es hat eine Weile gedauert, bis ihr klar wurde, dass
sie trans ist. „Als Kind hatte ich keinen Bock auf die typischen
Jungsklamotten, das habe ich aber nie so ernst genommen.“ Sie bewunderte
schon immer männlich gelesene Menschen, die sich feminin kleideten, doch
sie zog nie in Betracht, dass das auch etwas für sie sein könnte. Erst mit
20, als sie bei den Eltern auszog und zum ersten Mal alleine mit Assistenz
lebte, drängten sich ihr Zweifel an ihrer Geschlechtsidentität auf. Um
auszuprobieren, ob sie sich in Kleidung aus der Damenabteilung wohlfühlt,
brauchte sie Hilfe. Sie vertraute sich zuerst einer Assistenzkraft an. „Das
war gar nicht so leicht.“ Die Assistenzkraft brachte ihr ein paar ihrer
eigenen Kleider und Blusen mit. „Seit diesem Tag wollte ich nichts anderes
mehr tragen. Ich habe mich so frei gefühlt wie nie zuvor.“
Ehrlichkeit: Kürzlich hat sie ihren Namen auf Instagram geändert. Von Linus
zu Linn. Der Schritt fiel ihr nicht leicht. Aus Angst, ihr Umfeld neben der
Behinderung auch noch mit ihrer trans Identität zu belasten, verdrängte sie
es lange. „Ich habe mir gedacht: Du bist ja schon behindert, das muss ja
nicht auch noch sein.“ Doch bestärkt durch Freund:innen, die immer hinter
ihr standen, traute sie sich schließlich zu sagen, dass sie ab jetzt Linn
heißen möchte. Ihre Freund:innen atmeten auf, viele hatten es bereits
geahnt. Ihre Familie brauchte etwas länger, sich daran zu gewöhnen. Aber
jetzt ist sie froh, den Schritt gegangen zu sein, obwohl sie ihren alten
Namen auch manchmal noch vermisst. „Es bringt nichts, mir etwas
vorzumachen, nur um es anderen recht zu machen“, sagt Bade.
10 Nov 2025
## LINKS
[1] https://handicap-lexikon.de/enzyklopaedie/
[2] https://www.instagram.com/linn.bade/
[3] https://www.imdb.com/de/title/tt21335690/
## AUTOREN
Valerie Braungardt
## TAGS
Der Hausbesuch
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Schauspiel
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Antiziganismus
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