| # taz.de -- Die Wahrheit: Im Niesel der Völkerverständigung | |
| > Wer die betagte Tante besucht, erfährt einmal mehr am eigenen Leib die | |
| > Bedeutung des Jugendwortes „cringe“. Es braucht nur den Besuch einer | |
| > Pflegerin. | |
| Kürzlich besuchte ich die alte Tante in Münster. Sie ist jetzt 96. Damit | |
| sie besser zu Hause zurechtkommt, kommt zwei Mal am Tag ein mobiler | |
| sozialer Hilfsdienst vorbei. Selbstverständlich ginge auch hier ohne | |
| Migranten gar nichts. | |
| Mariama hat heute Frühschicht, ihre Hautfarbe ist schwarz. Ich habe der | |
| Tante eingetrichtert, dass sie das N-Wort bitte niemals verwenden möge, | |
| auch wenn es, wie sie sagt, „früher ganz normal war“. Ich bin nicht sicher, | |
| ob das auf Dauer gutgeht. Da ich im Zimmer nebenan sitze, kann ich das | |
| Gespräch der beiden Frauen problemlos hören. Es ist kalt draußen. Tante | |
| spricht immer gern übers Wetter: „Da, wo Sie herkommen, gibt es das | |
| bestimmt gar nicht, dass es so kalt ist, oder?“, fragt sie unbekümmert. | |
| Einmal mehr erfahre ich am eigenen Leib die Bedeutung des Jugendwortes | |
| cringe. | |
| Doch Mariama ist ganz entspannt und klingt gut gelaunt, als sie schildert, | |
| dass es bei ihr zu Hause in Afrika nur Regen- und Trockenzeit gebe, es aber | |
| das ganze Jahr über warm sei. Die Tante ist begeistert. „Regen- und | |
| Trockenzeit? Hier in Münster haben wir ja immer Regenzeit. Man sagt, in | |
| Münster regnet es, oder es läuten die Glocken. Und wenn beides gleichzeitig | |
| ist, ist Sonntag.“ | |
| „Ach was“, sagt Mariama, „das ist doch kein Regen hier! Bei mir zu Hause, | |
| da regnet’s, hier ist doch nur Niesel!“ – „Niesel? Sie können aber sch… | |
| gut Deutsch!“ Ich sinke zusammen in meinem Schreibtischstuhl. | |
| „Wissen Sie“, sagt Tante, „im Pflegeheim, wo ich zwischendurch war, da war | |
| auch so eine wie Sie!“ Cringe hoch zwei. „Wirklich?“, fragt Mariama, „wo | |
| waren Sie denn?“ – „Im Freddy-Krüger-Seniorenzentrum. Vielleicht kennen … | |
| sich ja?“ | |
| ## Absurder als absurd | |
| Herrjeh, denke ich, das ist, wie wenn ich in Münster irgendwo erwähne, dass | |
| ich in Berlin wohne. Man kann fast darauf wetten, dass irgendein Depp von | |
| seiner Nichte oder Großcousine sagt: „Oh, die wohnt auch in Berlin! Kennen | |
| Sie die zufällig?“ Und schon das ist ja absurd. | |
| „Meine Freundin Fanta arbeitet bei Freddy Krüger“, sagt Mariama. Tante ist | |
| begeistert: „Ja, Fanta, genau! Die hat mich gepflegt!“ Ich schüttele mit | |
| dem Kopf. Das darf alles nicht wahr sein. Obwohl: Als mich das letzte Mal | |
| so ein Depp gefragt hat, ob ich zufällig seine Enkelin kenne, die wohne | |
| nämlich auch in Berlin, da kannte ich sie tatsächlich. Ich war darüber | |
| erheblich fassungsloser als der Nachbar, der sich eher bestätigt fühlte. | |
| Tante ist jedenfalls hoch erfreut: „Dann grüßen Sie Fanta mal lieb von mir, | |
| Sie sind ja alle so nett, also Sie da aus Afrika …“ – „Ach, na ja“, s… | |
| Mariama, „gibt auch doofe Schwarze, ist wie überall auf der Welt. Gibt ja | |
| auch wirklich unfreundliche Deutsche!“ – „Ach, Sie kennen schon unseren | |
| Nachbarn von gegenüber?“, fragt Tante. | |
| Da überkommt mich plötzlich so ein warmes Gefühl. Ich denke: Trump, Putin, | |
| Klöckner – manchmal könnte man wirklich verzweifeln an der Welt. Aber auf | |
| der anderen Seite geht doch auch alles irgendwie voran. Man muss die | |
| Zeichen nur erkennen. | |
| 11 Jul 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Heiko Werning | |
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