# taz.de -- Psychologe über Suizid als Tabuthema: „Prävention kann im entsc… | |
> Viele Medien scheuen sich, über Suizid zu berichten. Dabei kann gute | |
> journalistische Arbeit mit Vorurteilen brechen, sagt der Psychologe Frank | |
> Schwab. | |
Bild: Nach dem Suizid des US-Schauspielers Robin Williams 2014 filmten viele Jo… | |
taz: Herr Schwab, vor kurzem haben Sie in der neuen Broschüre des | |
[1][Nationalen Suizidpräventionsprogramms] geschrieben, dass die mediale | |
Tabuisierung von Suizid ein Ende haben muss. Warum scheuen sich Medien | |
überhaupt davor? | |
Frank Schwab: Diese ablehnende Haltung gibt es schon seit Jahrzehnten. | |
Angefangen hat es damals mit Johann Wolfgang von Goethes fiktivem Roman | |
„Die Leiden des jungen Werther“. Damals wurde vermutet, dass sich einzelne | |
junge Menschen, ähnlich wie der Protagonist des Romans, das Leben nahmen. | |
Wie dramatisch der Effekt wirklich war, ist umstritten. Bei medialer | |
Berichterstattung gibt es aber definitiv prominente Fälle, die nachweisbar | |
zu Nachahmungstaten geführt haben. Medienschaffende sind also besorgt, dass | |
ihr Beitrag zu weiteren Todesfällen beitragen könnte. | |
taz: Welche Fälle meinen Sie? | |
Schwab: Der [2][Fußballspieler Robert Enke] war so ein Fall, oder der | |
Schauspieler Robin Williams. Die Prominenz der Person spielt dabei eine | |
Rolle. Besonders unangemessen ist es, wenn bei prominenten Personen dann | |
auch noch kleinteilig berichtet wird – mit konkreten | |
Handlungsbeschreibungen, die romantisierend gefärbt sind. Die Nachahmung | |
erkennt man daran, dass auch die Suizidmethode der Prominenten kopiert | |
wird. Oder der Ort, an dem sich die Person suizidiert hat. Durch Nennung | |
von expliziten Örtlichkeiten können Hotspots entstehen, an denen sich | |
Menschen gehäuft das Leben nehmen – wie die Golden Gate Bridge in San | |
Francisco. Um Suiziden vorzubeugen, sind die Amerikaner baulich dagegen | |
vorgegangen, sodass es heute deutlich schwieriger ist, dort von der Brücke | |
zu springen. | |
taz: Der ehemalige Gesundheitsminister Karl Lauterbach hatte einst | |
vorgeschlagen, als Suizidprävention Netze unter Brücken zu spannen. Das ist | |
also tatsächlich eine wirksame Praxis? | |
Schwab: Solche Präventionen können in einem entscheidenden Moment das Leben | |
retten. Manche Menschen stecken in einer akuten Krise, plagen sich mit | |
suizidalen Gedanken und finden dann nicht sofort Hilfe. Möglicherweise | |
fassen sie den Entschluss, sich das Leben zu nehmen – können aber durch ein | |
Spannnetz am Suizid gehindert werden. Sie laufen dann keineswegs einfach | |
zur nächsten Brücke. Wertvolle Zeit für ein Umdenken und Neubewerten | |
entsteht, das kann Leben retten. Ähnlich war es bei der Verwendung von | |
Medikamenten zur Selbsttötung, hier wurden die Packungsgrößen reduziert und | |
diese Maßnahme hatte nachweislich auch einen Effekt. Was glauben Sie, wie | |
sich die meisten Menschen in den USA das Leben nehmen? | |
taz: Mit einer Schusswaffe, nehme ich an? | |
Schwab: Genau. Davor schützt uns das deutsche Schusswaffengesetz. Etwa 7,5 | |
Prozent aller Suizide hierzulande werden mit einer Waffe begangen, unter | |
Jägern oder Sportschützen ist sie nach wie vor eine bevorzugte | |
Suizidmethode. In Deutschland erhängen sich 41 Prozent der sich | |
Suizidierenden. | |
taz: Kommen wir zurück zu den Medien. Wie kann der Journalismus dazu | |
beitragen, dass Suizide verhindert werden? | |
Schwab: Wir dürfen das Thema nicht tabuisieren. Verstehen Sie mich nicht | |
falsch – bei so einem sensiblen Inhalt muss der Journalismus den | |
Pressekodex einhalten, es sollte also nicht über die Methodik oder den Ort | |
berichtet werden. Aber dadurch, dass Suizid als Thematik häufig gemieden | |
wird, gibt es viele Mythenbildungen, die wiederum die Prävention | |
erschweren. | |
taz: Was sind denn bekannte Mythen? | |
Schwab: Es wird oft angenommen, dass sich jemand letztendlich doch nicht | |
das Leben nimmt, wenn er vorher darüber gesprochen hat. Das ist Quatsch. | |
Die meisten Menschen, die Suizid begehen, kündigen ihn vorher an. Viele | |
glauben auch, es gäbe viele Selbsttötungen im Herbst und Winter, wegen der | |
dunklen Monate. In Wirklichkeit gibt es die meisten Selbsttötungen aber im | |
Frühling und die wenigsten im Winter. Außerdem gibt es ein | |
Ost-West-Gefälle: Im Osten gibt es höhere Suizidzahlen, auch heute noch. | |
Dass die größte Risikogruppe aus Männern besteht, die über 60 sind und das | |
Rentenalter antreten, wissen die wenigsten. Es gibt also vieles, das zu | |
Suizid erforscht wurde, aber zu wenig davon wird an die Öffentlichkeit | |
getragen, weshalb viele präventive Maßnahmen nicht gut greifen können. Weil | |
die Notwendigkeit nicht erkannt wird, fehlen oft finanzielle staatliche | |
Mittel, und Betroffene sind auf ehrenamtliche Hilfsmaßnahmen angewiesen. | |
Teilweise glauben sogar Mediziner an Mythen. | |
taz: Wie können Medienschaffende mit der Herausforderung umgehen? | |
Schwab: Der Journalismus darf keine Furcht davor haben, über Suizid zu | |
berichten, sollte sich aber an die Presseethik und Empfehlungen zur | |
Berichterstattung halten. Begriffe wie Selbstmord oder Freitod sollten | |
gemieden werden. Die Sorge gilt aber nicht nur für den Journalismus: Die | |
breite Öffentlichkeit hat Angst davor, über Suizid zu sprechen, weil sie | |
sich sorgen, dabei etwas falsch oder sich gar strafbar zu machen. Auch, | |
weil sie die Gesetzeslage nicht kennen. Von Laien erwartet der Gesetzgeber | |
weder diagnostische noch hellseherische Fähigkeiten. Wenn jemand eine | |
Andeutung macht, die so oder so interpretiert werden kann, wird man nicht | |
zwingend zur Rechenschaft gezogen. Dasselbe gilt für suizidale Fantasien, | |
die eine Person mit sich rumträgt. Unterlassene Hilfeleistung greift erst, | |
wenn ein Mensch klar ankündigt, sich das Leben zu nehmen, und man das nicht | |
an die Polizei kommuniziert. Das gilt übrigens auch für Therapeuten. | |
taz: Gibt es Staaten, die bezüglich Berichterstattung ein Vorbild für | |
Deutschland sein könnten? | |
Schwab: Ja, Österreich hat hier viel unternommen. Die haben zum einen ein | |
reges Forschungsprogramm mit kostenlosem Material für Studierende, ein | |
Konzept für eine nationale Kriseninterventionshotline, Schulungsprogramme | |
für Journalisten und den [3][Papageno-Medienpreis] (Auszeichnung für | |
suizidpräventive Berichterstattung, Anm. d. Red). Zum anderen wird der | |
Medienkodex, das wäre hier bei uns der Pressekodex, stärker durch | |
Schulungen und Monitoring unterstützt. Die Vorgaben sind im Vergleich zum | |
deutschen Pressekodex, der eher zur Zurückhaltung auffordert, ausführlicher | |
und durch konkrete Leitfäden gefördert. | |
taz: Wie könnte der deutsche Journalismus dahin kommen? | |
Schwab: Sensibilisierung über Suizid sollte verpflichtend im Rahmen der | |
Journalistenausbildung stattfinden. Junge Journalisten sollen etwas über | |
Werthereffekte lernen. Oder auch über den Papageno-Effekt, der besagt, dass | |
Aufklärung durch Menschen mit eigenen suizidalen Erfahrungen, Suizide | |
verringern kann. Sie sollen lernen, worauf man besonders achten sollte und | |
was eine angemessene Berichterstattung wäre. | |
taz: Und wie könnte die Politik unterstützend eingreifen? | |
Schwab: In Kassel gibt es suizidpräventive Medienarbeit. Die Universität | |
gibt das [4][Nationale Suizidpräventionsprogramm heraus, das Informationen | |
für Medienschaffende zusammenstellt] und Empfehlungen für die | |
Berichterstattung gibt. Die Arbeit wird über Projektgelder finanziert. Ist | |
das Projektgeld weg, ist auch die Medienarbeit wieder weg. Hier wäre es | |
schön, wenn solche Einrichtungen dauerhaft finanziert werden, damit | |
Journalisten sich jederzeit dahin wenden können und Experten zur Verfügung | |
stehen. Und dann gibt es da noch die neuen Medien, das Darknet zum | |
Beispiel, wo sich Menschen zum Suizid verabreden. So was muss überwacht | |
werden. In den USA hat eine Frau einen Chatbot-Anbieter verklagt, weil sich | |
ihr Sohn mutmaßlich in die Chatbot-Figur verliebt und sich anschließend | |
das Leben genommen hat. | |
taz: Was ist da genau vorgefallen? | |
Schwab: Die Eltern waren schockiert, weil sie nichts ahnten. Aber der Sohn | |
hatte sich immer mehr zurückgezogen. Statt dem Jungen zu sagen, dass er | |
sich professionelle Hilfe holen solle, romantisierte der Chatbot die | |
Suizidgedanken des Jungen. Früher haben Suchmaschinen wie Google auch nicht | |
erkannt, wenn Menschen sich suizidieren wollten, heute kommt sofort die | |
Nummer der Telefonseelsorge, wenn ich „Suizid“ als Suchbegriff eingebe. | |
Darauf hat natürlich nicht die deutsche Regierung allein Einfluss, weil das | |
multinationale Dienstanbieter sind und jeder Staat eine andere Rechtslage | |
hat. Aber es gibt Stellschrauben, an denen die Politik drehen könnte. | |
7 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.suizidpraevention.de/ | |
[2] /Fussballer-Biermann-ueber-Depressionen/!5124705 | |
[3] https://www.sozialministerium.gv.at/Ministerium/Preise-und-Guetesiegel/Papa… | |
[4] https://www.suizidpraevention.de/ueber-uns | |
## AUTOREN | |
Shoko Bethke | |
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