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# taz.de -- Neues Pulp-Album nach 24 Jahren: Das Leben ist zu kurz für schlech…
> Die britische Band Pulp ist wieder da mit dem altersweisen Album „More“.
> Sie singen delikate Songs über Falten, tiefe Wunden und neue Liebe.
Bild: Pulp im Studio mit Jarvis Cocker (zweiter von rechts) und Candida Doyle a…
„Weniger ist mehr.“ Candida Doyle, seit 1986 Keyboarderin von Pulp, bekennt
sich beim Interview mit der taz zum Nötigsten: „Wenn ich die Wahl habe,
eine oder fünf Noten zu spielen, spiele ich eher nur eine. Man sollte die
Dinge nicht unnötig aufblasen.“ Ein stimmiger Gegensatz zum Titel des
jüngst erschienen Albums „More“ ihrer Band Pulp. Pulp, die britische Band,
die Sänger und Gitarrist Jarvis Cocker im Alter von 15 zusammen mit einem
Schulfreund 1979 in Sheffield gegründet hat. Schön, dass es Pulp immer noch
gibt. Noch schöner, wie abendfüllend die elf Songs des neuen Werks klingen.
„More“ ist das erste neue Pulp-Album seit 24 Jahren, und weil mehr nicht
unbedingt neu bedeutet, finden sich darauf auch einige Songs, [1][deren
Texte und Melodien aus Zeiten von unvergessenen Alben wie „This Is
Hardcore“ von 1998 stammen]. „Grown Ups“ zum Beispiel. Über Candida Doyl…
akkurat gesetzte, minimal variierende Synth-Akkorde spielt Gitarrist Mark
Webber eine grobverzerrte Hookline und Sänger Jarvis Cocker entwickelt
Gedanken über den Status des Erwachsenseins.
Ganz anders als bei „Help the Aged“ (auch auf dem Album „This Is
Hardcore“), in dessen Songtext der Jungspund vor knapp 30 Jahren seine
Ängste vorm Älterwerden hervorweinte, weist der inzwischen 61-jährige
Cocker im Text von „Grown Ups“ darauf hin, dass es in jedem Fall eine gute
Idee ist, im Hier und Jetzt zu leben. Nicht nur das, [2][Cocker findet
auch, es sei besser, das Leben zu genießen] und sich keine Gedanken zu
machen, ob man jetzt dafür bloßgestellt werden könnte.
„It’s so hard to act just like a grown up / And we’re hoping that we don�…
get shown up“. Dazu Erkenntnisse wie „So you move from Camden / Out to
Hackney / And you stress about wrinkles / Instead of acne“; oder eine
Strophe später „And I’m not ageing / No I am just ripening / And life’s …
short to drink bad wine / And that’s frightening / And it’s nearly sunset /
And we haven’t had lunch yet.“ Eigentlich will gar niemand, wie Cocker
weitersingt, erwachsen werden: Obwohl, willst du dich weiterentwickeln,
führt wohl kein Weg daran vorbei.
Eine Neukomposition auf „More“ ist der Song „Tina“. Darin erinnert sich
Cocker an einen Schwarm aus Jugendzeiten. Ob seiner Schüchternheit traute
er sich nicht, die Angehimmelte anzusprechen, sondern imaginierte sich
Begebenheiten und Gemeinsamkeiten. Aus ihrem Verhalten schlussfolgert der
Sänger Gewissheiten, von denen sie gar nichts wissen konnte. Jeder und jede
kennt so etwas aus eigener Erfahrung, aber darüber singen kann man erst mit
einigem Abstand.
## Ihr Konzertpublikum ist sehr viel jünger als sie
Vielleicht sind es Geschichten wie diese, die „More“ auch für eine jüngere
Generation interessant machen. In einem Interview mit dem britischen
Radiosender BBC 6 zeigen sich Cocker und Doyle überrascht und zugleich
erfreut, dass ihr Konzertpublikum sehr viel jünger ist als sie. Die
Pulp-üblichen Statement-Akkorde auf „Tina“ und Cockers einfallsreiche
Gesangsperformance werden durch Streicherarrangements von Richard Jones
ergänzt.
„Das hat unseren Sound erweitert und verleiht ihm mehr Tiefe“, findet
Candida Doyle. Stimmt, die Arrangements fügen sich in die Songs ein,
untermauern Gefühle und verdichten die Atmosphäre. Auf „Farmers Market“
sind die Streicher wie ein Kommentar auf die erwachende Liebe Cockers zu
seiner zweiten Frau, die er in dem Song beschreibt. Die
Crime-and-the-City-Solution-artige Sägegeige auf „Slow Down“ begleitet die
sterbende Liebe zu seiner ersten Frau.
Einzig bei „Background Noise“ wird der Songtitel zum Programm für die
Streicher, obwohl eigentlich Geräusche wie das Kühlschrankbrummen besungen
werden, die erst auffallen, wenn sie nicht mehr zu hören sind. Dass damit
anderes gemeint ist, muss hier nicht extra erwähnt werden.
Nach wie vor singt Cocker nicht nur, sondern [3][er ächzt, haucht, murmelt
und stöhnt] zusätzlich über mehrere Oktaven. Die Zeilen „I was born to
perform / It’s a calling“ im Auftaktsong „Spike Island“ sind nicht
Attitüde, sondern Tatsache.
Doch während er früher alle Register zog, vor allem, um jemanden zu
entblößen – unerreicht die mit verzweifelter Überzeugung und hochnerviger
Stimme vorgetragene Erzählung des Upper-Class-Mädchens, das mal wissen
wollte, wie die „Common People“ (1995) so leben, um sie dann mit ein paar
fast beiläufig gemurmelten Worten zu vernichten –, nutzt er diese Tools
jetzt vor allem, um Gefühle zu transportieren: Sarkasmus, Ironie und Humor
sind natürlich immer noch am Start. „Tina’s always attentive to my needs /
We’re really good together / Cos we never meet.“
Überraschung: Candida Doyle, die im Alter von zehn Jahren 1973 nach
Sheffield gezogen ist, sieht sich eher von den rammdösigen Synth-Riffs der
frühen Keyboarderinnen von The Fall aus Manchester inspiriert. Und nicht
etwa von den in Sheffield beheimateten New-Wave-Poppern wie Heaven 17. Was
die Klangpalette ihrer Synthesizer angeht, die Herangehensweise an Songs
und die Offenheit für absurde Sounds und Breaks – wie etwa bei „Hymn of the
North“ –, mag mit Doyles Punk-Sozialisation zu tun haben.
Obwohl: Sie erwähnt, dass sie Heaven 17 durchaus mochte, jedenfalls bevor
diese so discoey wurden. Doyles Einfallsreichtum hat auch einen
schmerzhaften Hintergrund: Als sie 17 war, wurde bei ihr rheumatische
Arthritis diagnostiziert, ein Leben im Rollstuhl war die Perspektive. Der
Krug ging an ihr vorüber, aber ihre Hände sind nicht die einer Pianistin.
So sampelt sie Dreierakkorde, damit sie am Ende nur eine Note spielen muss,
auch hat sie Befehle auf ihrem Keyboard so umprogrammiert, dass sie näher
beieinander liegen und somit für die Finger besser zu erreichen sind.
## Ein Northern-Dings
Und ebendieser seltsam anrührende Song „Hymn of the North“, den Cocker
ursprünglich für das Theaterstück „Light Falls“ des anglo-irischen
Dramatikers Simon Stephen komponiert hat, brachte Pulp auf die Idee, doch
noch einmal ein neues Album aufzunehmen. Bei ihrer Reunion-Tour 2023 –
Bassist Steve Mackey hatte nie vor, mit auf diese Tour zu gehen, und so war
es ein natürlicher Schritt, dass der Tour-Bassist Andrew McKinney nach
Mackeys Tod 2023 an dessen Stelle trat – haben sie das Stück zunächst zum
Aufwärmen beim Soundcheck gespielt.
Bei einem der letzten Konzerte performten sie es dann auch vor Publikum.
Die Resonanz brachte die Band ins Grübeln … Wenn einer wie Jarvis Cocker
singt „Never forget your northern blood“, ist das kein Grund, Angst zu
bekommen. Eher reflektiert sein Songtext die mit zunehmendem Alter
einsetzende Akzeptanz, dass die Umgebung, in der man aufgewachsen ist,
einen geformt hat – und dass man aus der Nummer nur schlecht rauskommt.
Selbst wenn, wie Cocker vermutet, es die vertrauten Orte, an die man sich
erinnert, gar nicht mehr gibt.
Vielleicht ist es auch ein Northern-Dings, Liebe geradewegs einzufordern.
Fast schon hysterisch fordert Cocker „Got to Have Love“, weil ein Leben
ohne Liebe eben völlig sinnlos ist: „Without love you’re just making a fool
of yourself / Without love you’re just jerking off inside someone else“.
Oder „When love disappears / Life disappears“, und fordert uns am Ende
dieser Uptempo-Disco-Nummer auf, zu buchstabieren: L.O.V.E.
[4][Pulp-Kumpel und Sheffield-Lover Richard Hawley] haut im Song „Have
Love“ auf seinem letzten Album „In This City They Call You Love“ in
dieselbe Kerbe: „You got to have love / If you want to get loved“. Hawley
hat auch die Musik zu einem Song des neuen Pulp-Albums beigesteuert: In „A
Sunset“ lässt Cocker doch noch den Watschnbaum umfallen und mokiert sich
über Leute, die nicht die Natur, sondern nur das Spektakel in ihr sehen.
Die Wandergitarren-Romantik, die Hawley heraufbeschwört, passt wie Arsch
auf Eimer.
Bisher schielte der feinsinnige Pop von Pulp auf die Hintertür. Mit der
Gefühlsexplosion auf „More“ kommen sie jetzt direkt durch die Vordertür
rein. Manchmal ist mehr eben doch mehr.
19 Jun 2025
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## AUTOREN
Sylvia Prahl
## TAGS
Pop
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