Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Man hört wieder Pulp: Ausgegrenzt und ironiebegabt
> Seit letztem Sommer geben sie wieder Konzerte, vergriffene Alben
> erscheinen neu: Pulp, die beste britische Popband der Neunzigerjahre ist
> zurück.
Bild: Pulp-Sänger Jarvis Cocker.
Hat die Welt diese Wiederveröffentlichungen wirklich gebraucht? Absolut!
Die vor Kurzem auf dem Londoner Label Fire Records erschienenen und lange
vergriffenen ersten drei Pulp-Alben „It“, „Freaks“ und „Separations�…
den Achtzigern und frühen Neunzigern dokumentieren den Werdegang einer
umwerfenden britischen Popband.
Sie sind Beleg dafür, wie Pulp in der Öffentlichkeit erwachsen wurden.
Dafür, dass man einmal mehr Zeit hatte, musikalisch wie textlich zu einer
signifikanten Form zu finden.
Weltruhm erlangen sollten Pulp erst Mitte der Neunzigerjahre, im Zuge von
Britpop, mit Hits wie „Disco 2000“. Seither wird Jarvis Cocker, Pulp-Sänger
und Autor der für Britpop eigentlich viel zu gesellschaftskritischen und
beißenden Songtexte, in seinem Heimatland nur noch beim Vornamen genannt.
Es ist unmöglich, die frühen Pulp-Songs zu hören, ohne an spätere
geschliffene Generalabrechnungen wie „Common People“ von 1995 zu denken.
Die Musik der frühen Pulp atmet die den englischen Alltag so verändernde
Thatcher-Ära, ohne explizit politisch zu sein. Sie beschreibt ein
Ausgegrenztsein, das damals noch viel mehr mit Klassenherkunft zu tun hatte
als heute. Auch wenn Jarvis Cocker angibt, sich nie über seine
proletarische Herkunft definiert zu haben, bis er am Londoner St. Martin’s
College, auf dem er ab 1988 Kunst und Film studierte, Kids aus der
Mittelklasse und deren echte Privilegien aus der Nähe kennen lernte.
Als sich Pulp 1978 in Sheffield gründen, ist Cocker gerade 15. Sie spielen
in oft wechselnder Besetzung, treten in Studentenclubs auf. Die
heruntergekommene nordenglische Industriestadt ist Kulisse und Inspiration
für die erbarmungslosen Sozialdramen, die sich auch noch in ihren Liedern
abspielen, als sie längst alle in London wohnen.
## Ein unbeschwertes Debüt
Bereits 1981 lud John Peel sie ein, eine begehrte BBC-Session aufzunehmen.
Auf „Please Don’t Worry“, einer dabei entstandenen fröhlichen
Vaudeville-Nummer, klingt Cockers lyrische Bissigkeit schon an: „Think of
all that money that’s gone to your waist.“ Der Song ist als Bonustrack auf
„It“ enthalten, dem 1983 erschienenen Debütalbum. Das Wortspiel des Titels
pulpit, also das Predigen von der Kanzel, macht deutlich, dass hier jemand
ironiebegabt ist und etwas mitzuteilen hat.
Musikalisch sind Pulp noch epigonal. Sie klingen wie eine typische
John-Peel-Band der Achtzigerjahre. Eher komisch ist die Einladung des
jungen Protagonisten bei dem Song „My Lighthouse“, dass die Angebetete doch
seinen „high tower“ besuchen solle. Textvortrag und Instrumentierung geben
hier keine Hintergedanken zu erkennen. Erst später wurden sie zu Meistern
des Doppeldeutigen.
Das zweite Pulp-Album „Freaks“ wurde 1986 binnen einer Woche aufgenommen.
Sein Ton hat nichts mehr mit der Unbeschwertheit des Debüts gemein. Die
klagende Violine des neuen Bandmitglieds Russell Senior rückt die
Atmosphäre in Gothic-Gefilde. Schmalzgesanglich legt Cocker noch einen
drauf, stellenweise verursacht sein Vortrag regelrechte Schmerzen. Der
Untertitel „Ten Stories about Power, Claustrophobia, Suffocation and
Holding Hands“ liefert eine treffende Inhaltsangabe.
Ein Bonusalbum bietet Songs, die bisher nur als Singles erschienen sind.
Hervorsticht das kontroverse „Little Girl (With Blue Eyes)“, das angeblich
Cockers Mutter zum Gegenstand hat. Bei diesem Kitchen-Sink-Drama geht es um
eine junge Frau, deren künstlerische Ambitionen durch Heirat und Verbannung
an den Herd zunichte gemacht werden. „Forget about your paintings, cos
you’d better get the washing done (oh something’s wrong).“
Der britische Autor Owen Hatherley beschreibt in seinem Buch „Uncommon“,
dass Jarvis wie kein Zweiter englischer Popsänger Frauenfiguren mit
Empathie zeichnet und für sie Partei ergreift. Die Antithese zum
machistischen Lad, wie er etwa bei Oasis vorkommt.
## Texte, die man lesen will
Mit dem 1992 erschienenen (bereits 1989 aufgenommenen) dritten Album
„Separations“ präsentieren sich Pulp als fertig geformte Band. Jarvis
vervollkommnet seinen signifikanten, distanziert-emotionalen Gesang. Die
erste Hälfte von „Separations“ ist musikalisch Jarvis’ Vorliebe für
französische Chansons verpflichtet.
Federnde Polkarhythmen und diskotaugliche Walzer ummanteln morbide Texte
über Tod, erfundene Freundinnen und Verzweiflung. Zweite Säule des Albums
ist der Einfluss von Rave. Klassische drumgetriebene Acidtracks, darunter
„My Legendary Girlfriend“, verweisen auf die Tanzbarkeit der kommenden
Jahre. Pulp haben sich bei aller Nostalgie niemals dem Retrogebaren von
Britpop angedient.
Schade nur, dass die Songtexte nicht abgedruckt sind. Zu gern würde man den
auf den späteren Pulp-Alben enthaltenen Hinweis missachten, man solle davon
absehen, die Texte zu lesen, während man der Musik lauscht.
19 Apr 2012
## AUTOREN
Sylvia Prahl
## TAGS
Soundtrack
Britpop
Großbritannien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Soundtrack von Jarvis Cocker: I just want to ffffotograph you
Der britische Popstar Jarvis Cocker hat einen tollen Soundtrack komponiert
– für den abgründigen Film „Likely Stories“.
Jarvis Cockers Lyrics in Buchform: Hühnerbrust ist supersexy
Jarvis Cocker, Sänger der britischen Band Pulp, erzählt in seinen
gesammelten Songtexten „Mother, Brother, Lover“ von seinem eigenen Leben.
Kulturkritische Flugschrift: Populär ohne Populismus
Wichtiges Diskursfutter: Mark Fishers kritischer Essay „Kapitalistischer
Realismus“ ist nun endlich ins Deutsche übersetzt.
Architekturkritiker Owen Hatherley: Der Ausweg ist verbaut
Der Architekturkritiker Owen Hatherley fragt in „These Glory Days“, wie
sich Sheffield in den Texten von Jarvis Cocker und seiner Band Pulp
spiegelt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.