Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Architekturkritiker Owen Hatherley: Der Ausweg ist verbaut
> Der Architekturkritiker Owen Hatherley fragt in „These Glory Days“, wie
> sich Sheffield in den Texten von Jarvis Cocker und seiner Band Pulp
> spiegelt.
Bild: It's Jarvis!
Vielleicht hat Pop seine größten Momente dann, wenn er aus den Oberflächen
eine Tiefe zaubert – als Art, sich die Welt zu erschließen. So wie es der
englische Autor Owen Hatherley tut, der als Architekturkritiker durch den
abklingenden Zyklus des britischen Immobilienbooms flaniert. Und damit auch
fast der Erzähler aus einem Pulp-Song sein könnte.
Pulp? Genau. Pulp.
Mitte der Neunziger waren sie das ausgeschlossene Dritte im Königsrennen
von Britpop zwischen Oasis und Blur. „Pulp waren die Letzten ihrer Art“,
schreibt Hatherley in seinem nun auf Deutsch erschienenen Essay „These
Glory Days“ über die Band aus Sheffield, der alten Stahlstadt, in der die
modernistische Siedlung Park Hill über den Reihenhäusern aus dem frühen 20.
Jahrhundert thront, die auch die Heimat von Pulp sind. Kein Wunder, dass
bei ihrer Gründung 1978 der Ausweg Kunsthochschule so verlockend erschien –
wie schon bei den Rolling Stones und Roxy Music vor ihnen.
Dieser Ausweg wurde Mitte der Neunziger in den Think Tanks von New Labour
verbaut, gerade als Pulp mit dem Song „Common People“ ihren Durchbruch
hatten, einer wütenden Anklage gegen die Privilegien derjenigen, die auf
der richtigen Seite der britischen Klassenunterschiede stehen, sich Akzent
und Karriere aussuchen können. Pulp-Sänger Jarvis Cocker tarnt sie als
Anekdote aus der Studentenzeit und kleidet sie in einen zur Pophymne
stilisierten Krautrocksong. Eine Kunststudentin aus besserem Haus sucht
Kontakt zur Arbeiterklasse – nicht um die Revolution voranzubringen,
sondern um hemmungslosen Sex zu haben.
## Cockers Denkmalwerdung
Bis heute garantiert der Song Cocker einen Status als nationales Denkmal,
als Pop-Vordenker, der nicht als Vorbild taugt, weil er einmal Michael
Jacksons Auftritt bei den Brit Awards gestört hat. „Jarvis“ und Pulp
gehören zum Kanon britischer Popmusik.
Hatherley aber hat wenig Interesse an Cockers Denkmalwerdung. Stattdessen
widmet er sich ausgiebig der wichtigsten Hinterlassenschaft Pulps: ihren
Alben und Musikvideos. Jarvis Cocker hat nicht nur die Texte der Band
verfasst, sondern auch ihre Videos gedreht. Im Clip zu „Babies“ gibt er den
Dandy im Cordanzug, dessen Tanzschritte er mit der Geschichte einer
Teenie-Liebe in den Siebzigern und pseudostrukturalistischen
Regieanweisungen im Stil eines frühen Godard-Films gegenschneidet.
Nicht nur deshalb bezeichnet Hatherley das Image der Band als voll mit
„Retro-Gedöns“. Pulp beschreiben dabei nicht die historisch verbürgten
siebziger Jahre, sondern eine fiktive Vergangenheit, in „der eine
brauchbare Zukunft noch zum Greifen nah schien“. Und damit bildeten Pulp
die Antithese zur schamlosen Nostalgie anderer Britpop-Bands. Pulps
Groschenheftmodernismus suchte Verbündete bei Rave und Jungle, den wirklich
modernen Popkulturen der mittleren Neunziger. Sie singen über Amphetamine
und Ecstasy, in ihren Songs klimpert immer wieder ein House-Piano.
Auch Cockers Charaktere haben wenig mit dem Zynismus der
Britpop-Protagonisten gemeinsam, der sich bei Blur als klassendünkelnder
Sarkasmus und bei Oasis als hedonistische Grobschlächtigkeit äußerte. Sie
strotzen Stattdessen vor Selbstzweifel, unerfülltem Begehren oder
beobachten wie Cockers Frauenfiguren die Polyesteroberflächen als zynische
Träumerinnen. Im Mittelpunkt des detailverliebt übersetzten „These Glory
Days“ steht aber die Stadt – „Sheffield: Sex City“ heißt einer der fr�…
Pulp-Songs, in dem Cocker seine „feuchtklamme, sexuell aufgeladene
Heimatstadt“ durchquert und ihr Versprechen immer wieder gegen den
frustrierenden Normalzustand aus Beton den Kürzeren zieht.
In Texten wie diesem zeigt sich die Wahlverwandtschaft zwischen dem
49-jährigen Popsänger und seinem fast zwanzig Jahre jüngeren Exegeten. Im
Alter von 16 ist „Sheffield: Sex City“ für Hatherley der Soundtrack zu
seiner Jugendliebe in einem Arbeiterviertel in Southhampton, später wird er
die englischen Städte auf der Suche nach der brutalistischen Moderne von
Park Hill durchstreifen und das reale United Kingdom an der utopischen
Architektur messen.
„These Glory Days“ ist nicht bloß ein Essay über Pulp, es ist die
Coming-of-Age-Geschichte des interessantesten Architekturkritikers
Großbritanniens.
Owen Hatherley: „These Glory Days. Ein Essay über Pulp und Jarvis Cocker“.
Aus dem Englischen von Sylvia Prahl. Edition Tiamat, Berlin 2012, 167
Seiten, 16 Euro
11 Dec 2012
## AUTOREN
Christian Werthschulte
## TAGS
Soundtrack
Britpop
Großbritannien
Harlem Shake
## ARTIKEL ZUM THEMA
Soundtrack von Jarvis Cocker: I just want to ffffotograph you
Der britische Popstar Jarvis Cocker hat einen tollen Soundtrack komponiert
– für den abgründigen Film „Likely Stories“.
Jarvis Cockers Lyrics in Buchform: Hühnerbrust ist supersexy
Jarvis Cocker, Sänger der britischen Band Pulp, erzählt in seinen
gesammelten Songtexten „Mother, Brother, Lover“ von seinem eigenen Leben.
Kulturkritische Flugschrift: Populär ohne Populismus
Wichtiges Diskursfutter: Mark Fishers kritischer Essay „Kapitalistischer
Realismus“ ist nun endlich ins Deutsche übersetzt.
Der „Harlem Shake“: Shake your Moneymaker
Wer darf am kulturellen Kapital von Harlem verdienen? An der Popularität
des Sounds „Harlem Shake“ im Netz hat sich ein Streit entfacht.
Man hört wieder Pulp: Ausgegrenzt und ironiebegabt
Seit letztem Sommer geben sie wieder Konzerte, vergriffene Alben erscheinen
neu: Pulp, die beste britische Popband der Neunzigerjahre ist zurück.
Kolumne Idole: Fremdkörper im Gesicht
Alte Männer können durchaus modische Vorbilder sein – zumindest wenn es um
Brillen geht.
Richard Hawley Solo: Ganz großer Schmierlappenpop
Viiiiiel Schmalz, aber mit einer gehörigen Portion Selbstironie vermischt:
Am Dienstagabend spielte Ex-Pulp-Gitarrist und Singer-Songwriter Richard
Hawley in Berlin.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.