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# taz.de -- Demonstrationen in Serbien: Die Autokratie wackelt
> Seit über sechs Monaten gehen in Serbien Tausende auf die Straße. Beim
> Erfinden neuer Proteststrategien sind sie äußerst kreativ.
Bild: Wegen der monatelangen Proteste dem Wahnsinn nahe: Polizeikräfte in Belg…
Belgrad taz | In Serbien herrscht Ausnahmezustand. Staatspräsident
Aleksandar Vučić hat ihn zwar nicht ausgerufen und gleichgeschaltete Medien
verbreiten frohe Botschaften: dass die Staatsmacht natürlich alles unter
Kontrolle habe, dass nur noch „eine sehr kleine Anzahl von Terroristen“ im
Überlebenskrampf anständige Bürger schikanierten, die jedoch nichts zu
befürchten hätten, weil die „Auslandsöldner“ längst besiegt seien.
Doch tatsächlich kann man in der Hauptstadt Belgrad seit Tagen nichts mehr
planen. Wo immer man sich hin begibt, stößt man auf Straßenblockaden, die
revoltierende Bürger errichten. Und die Menschen treffen auf
Sondereinheiten der Polizei in voller Kampfmontur und mit bedrohlichen
schwarzen Masken über dem Gesicht.
Der öffentliche Nahverkehr steht still, rund dreißig Linien wurden in
Belgrad allein an diesem Mittwoch gestrichen. Dutzende „Terroristen“ werden
täglich festgenommen – das heißt Bürger, die friedlich auf der Straße
demonstrieren.
Die von Studenten angeführten Bürgerproteste, [1][die seit über einem
halben Jahr im ganzen Land anhalten], die Blockaden der Fakultäten, sind in
eine neue Phase übergegangen – in zivilen Ungehorsam.
## Bizarrer Campingplatz
Zum Wendepunkt kam es am 28. Juni, bei einem der zahlreichen Massenproteste
in Belgrad, die Studenten organisiert hatten. Sie stellten zwei
Forderungen: vorgezogene Parlamentswahlen, als den einzigen friedlichen
Ausweg aus der tiefen politischen Krise. Und sie verlangten die Räumung
eines bizarren Campingplatzes mitten in Belgrad, in einem Park zwischen dem
Präsidentenpalast und dem Parlament.
Dort campieren angeblich formal „brave Studenten“, die lernen wollen und
deshalb gegen Uniblockaden protestieren. Tatsächlich dient der Campingplatz
als Kampfbasis für paramilitärische Schlägertrupps der regierende
Serbischen Fortschrittspartei. Am Ende der Kundgebung, als die Frist für
die Erfüllung der Forderungen abgelaufen war, hieß es vor etwa 140.000
Menschen: „Ihr habt grünes Licht.“
Bei den rebellierenden Bürgern kam diese Botschaft als Aufforderung an,
dass sie nun selbst die Initiative ergreifen sollen, dass Studenten schon
mehr als genug getan haben und nicht mehr allein den Kampf für Recht und
Gerechtigkeit schultern können. In der Deutung der serbischen Machthaber
war es aber ein Befehl für eine gewaltsame Machtübernahme.
Jedenfalls griffen in der Nacht Sondereinheiten der Polizei zum Teil
extrem brutal ein, prügelten wahllos auf Demonstranten ein und nahmen
Dutzende Menschen fest. Staatschef Vučić hatte bereits Tage zuvor
angekündigt, dass der Staat der „aus dem Ausland finanzierten
Farbrevolution“ endgültig ein Ende setzen würde, dass er lange genug den
Terror einer aggressiven Minderheit gegenüber einer anständigen, stillen
Mehrheit geduldet habe und dass die „Terroristen“ nun die volle Kraft der
Staatsmacht zu spüren bekommen würden. Er hatte sogar im Voraus gesagt,
wann die Krawalle beginnen würden.
## Turbulente Nacht
Am 29. Juni blieb es nach der turbulenten Nacht zunächst ruhig. Der
Autokrat Vučić verkündete den Sieg, und die Studenten zählten blutige Köpfe
und Festgenommene. Doch dann wurde am Abend binnen einer Stunde ganz
Belgrad blockiert, betroffen waren die wichtigsten Kreuzungen, die Brücken
über die Save. Seitdem dauern diese Blockaden an.
Die Methode ist friedlich und innovativ, sie treibt die völlig machtlose
Polizei in den Wahnsinn. Bürgergruppen blockieren in der eigenen
Nachbarschaft Straßen und errichten Barrikaden. Wenn eine Polizeieinheit
kommt, gehorchen sie dem Befehl, sich zu entfernen, überlassen die Räumung
der Barrikaden den Polizisten und warten ab, bis diese weggehen.
Sobald das geschehen ist, fängt alles wieder von vorne an. Die Polizei ist
völlig überfordert. Es ist brütend heiß. Die Einsatzkräfte mit Helmen und
in Panzern sind nicht nur erschöpft, sondern fühlen sich von diesem Katz-
und-Maus-Spiel auch erniedrigt.
## Drei Forderungen
Trotz Massenfestnahmen gibt es landesweit in über zwanzig Städten
Straßenblockaden, allein in Belgrad sind es täglich zwanzig bis dreißig.
Ihren zwei Forderungen haben die in der Rebellion für einen Rechtsstaat
vereinten Studenten und Bürger eine dritte hinzugefügt: dass alle
Inhaftierten freigelassen werden.
Die Autokratie wackelt. Eine zwanzigjährige Studentin brachte das so auf
den Punkt: „Es gibt nichts Gefährlicheres für ein autoritäres Regime,
[2][als wenn Bürger keine Angst mehr haben und den Autokraten auslachen.“]
2 Jul 2025
## LINKS
[1] /Studierendenproteste-in-Serbien/!6073525
[2] /Serbien-besiegt-die-Angst/!6074331
## AUTOREN
Andrej Ivanji
## TAGS
Serbien
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