# taz.de -- Die Wahrheit: Sauberes Ingolstadt | |
> Lebenslänglich Bayer: Der Großvater, ein Deserteur in einer Stadt, in der | |
> sich ein Verleger als überzeugter Nazi eine Widerstandsbiografie | |
> bastelte. | |
Ob denn die Leute in Ingolstadt die Schuhe am Fußabstreifer abkratzen, wenn | |
sie das Haus verlassen, habe ich mich irgendwann um 1990 herum gefragt. Da | |
war ich im Zentrum der Stadt unterwegs und ziemlich erschüttert darüber, | |
wie schrecklich sauber dieser Ort ist. Keine einzige Zigarettenkippe war da | |
am Boden zu finden, und ich habe mich gefragt, ob die Leute in der Stadt | |
zum Rauchen rein- statt rausgehen. | |
Ingolstadt habe ich schon als Kind nicht wirklich gemocht. Oft sind wir an | |
Allerheiligen hingefahren, um am Grab meiner Großmutter, die lange vor | |
meiner Geburt gestorben war, traurig dreinzuschauen und ein Vaterunser zu | |
beten. Dann haben wir meinen Großvater besucht, der für uns Kinder eine | |
unheimliche Gestalt war. Ein alter Mann mit tränenden Augen und | |
brillantine-klebrigen Haaren, der für uns Münchner Hauptstadtkinder fast | |
ein wenig finster gewirkt hat. Er versuchte durchaus, mit seiner Tochter so | |
etwas wie ein Gespräch zu führen. Aber leicht war das nicht, denn er hatte | |
sie regelrecht aus dem Haus gejagt, nachdem er ein zweites Mal geheiratet | |
hatte. „Frau Sophie“ wurde seine Frau von meiner Mutter genannt. | |
Als mein Großvater gestorben ist, habe ich begonnen, Ingolstadt zu hassen. | |
Er hatte sich auf dem Dachboden seines Hauses aufgehängt. Wie es aussah, | |
hat er sein Leben einfach nicht mehr ausgehalten. Im Altenzentrum wollte | |
niemand mehr mit ihm schafkopfen. Es hatte sich herumgesprochen, dass er | |
Ende 1944 von der Wehrmacht desertiert ist. Er wurde zur Unperson. Die | |
Stimmung um ihn herum hat ihn in den Tod getrieben. | |
Dem war er in den letzten Kriegstagen schon einmal ganz nah. Da | |
verschanzten sich SSler auf dem Bauernhof in Unsernherrn bei Ingolstadt, in | |
dessen Kartoffelkeller er sich versteckt hielt. Seine vier Kinder hatten | |
mit ihrer Mutter ihr zerbombtes Haus in Ingolstadt verlassen und sich dort | |
in Sicherheit gebracht. Meine Mutter hat immer wieder erzählt, wie ihr | |
Vater sein Versteck verlassen hat, um die SSler vom Hof zu verjagen. Dass | |
es bei Ingolstadt am Auwaldsee eine Erschießungsstätte gab, bei der bis | |
Kriegsende Dutzende Deserteure hingerichtet worden sind, wird er gewusst | |
haben. Am Ende ist er doch als Deserteur gestorben. | |
Hingerichtet hat ihn die finstere Stimmung in der Stadt. Für die | |
verantwortlich war auch der Verleger Wilhelm Reissmüller, in dessen | |
Donaukurier die Meinung gemacht wurde, die man dort zu haben hatte. Denke | |
ich daran, dass sich der überzeugte Nazi eine Art Widerstandsbiografie | |
gebastelt hat, die ihm die Ehrenbürgerwürde einbrachte, wird mir beinahe | |
übel. | |
Ich dachte an meinen Großvater, [1][als ihm die Stadt jüngst die Ehre | |
posthum entzogen hat]. Dass es seit 1995 in Ingolstadt ein Denkmal für die | |
Opfer des Nationalsozialismus gibt, das auch Deserteure in das Gedenken | |
einschließt, habe ich registriert. Es zieht mich trotzdem nicht in diese | |
saubere Stadt. | |
20 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Enthuellungen-ueber-Zeitungsverleger/!6057613 | |
## AUTOREN | |
Andreas Rüttenauer | |
## TAGS | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Bayern | |
Deserteur | |
Nazis | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Kolumne Die Wahrheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Der schwarze Metzger | |
Lebenslänglich Bayer: Schon als Bub war der neue Landwirtschaftsminister | |
Alois Rainer ein Beinhauer vor dem Herrn und liebte warmes Schweineblut. | |
Die Wahrheit: #soederscheisst | |
Lebenslänglich Bayer: Auf seiner Indienreise stopft Markus Söder mal nicht | |
etwas in sich hinein, sondern lässt alles dünn aus sich heraus fließen. | |
Die Wahrheit: Lebenslänglich Bayer: Würde des Amts | |
Schreckschraube Klöckner als Bundestagspräsidentin? Leute, wir haben schon | |
Schlimmeres gesehen. Oder besser: Schlimmere. |