# taz.de -- „ACAB“-Grüne Jette Nietzard im Portrait: Prinzessin der Pop-Po… | |
> Jette Nietzard bringt die „Altgrünen“ zum Abkotzen. Jüngster | |
> Furor-Höhepunkt: Der ACAB-Pullover. Wie lässt sich ihre Strategie | |
> einordnen? | |
Bild: Nietzard als Role Model für junge Linke im Widerstand gegen angeblich an… | |
Vor wenigen Monaten hat man das erste Mal von ihr gehört, heute sprechen | |
manche junge Frauen so andächtig über sie, wie sonst nur über popkulturelle | |
Ikonen wie die Sängerinnen Ikkimel und Charli XCX. Was darauf hindeutet, | |
dass wir es auch bei ihr mit Pop zu tun haben. Sie wird geliebt und | |
gehasst, keiner schafft es an ihr vorbei. | |
Jette Nietzard hat ein neues Sternchen am Firmament - politisch, jung, | |
hellblond, oft in zartrosa T-Shirt und verbal zuverlässig ungeschmeidig. | |
## Die umstrittenste Figur der Boomerwelt | |
In der Boomerwelt wird Nietzard allerdings schon längst als eine der | |
„umstrittensten Figuren der [1][Grünen]“ gehandelt. Und bei denen würden | |
man jetzt vieles für ein fallendes Sternchen geben. Ihr wohl lässig | |
gemeintes Selfie im blauen Pullover mit „ACAB“-Bestickung hat einen | |
einstweiligen Furor-Höhepunkt ausgelöst. | |
„ACAB“ steht nicht nur für Annalena Charlotte Alma Baerbock, sondern auch | |
für „All Cops are Bastards“ (in etwa: „alle Bullen sind Schweine“). Die | |
Parole verstehen manche als strukturelle Kritik an der Polizei, in gängiger | |
Auffassung ist sie aber eine eindeutige Beleidigung der [2][Polizei]. | |
Die [3][Polizeigewerkschaft] stürzte sich entsprechend darauf, die | |
[4][Bild-Zeitung] folgte. Und die etablierten Grünen rechneten in einer | |
Empörungskumulation öffentlich mit Nietzard ab – der Parteivorsitzende | |
[5][Felix Banaszak] brachte ihren Rücktritt ins Spiel. Und vor allem die | |
staatstragenden Baden-Württemberger distanzierten sich so maximal wie es | |
ihnen möglich war. | |
Finanzminister Danyal Bayaz ließ verlauten: "Viele in unserer Partei sind | |
es leid, ihre regelmäßigen Ausfälle zurückzuweisen.“ Ministerpräsident | |
[6][Winfried Kretschmann] und sein potenzieller Nachfolger [7][Cem Özdemir] | |
konnten ihre Sorge um die Wahlergebnisse bei der kommenden Landtagswahl | |
auch nicht verstecken und teilten mit, Nietzard passe nicht zur Partei und | |
solle gehen. | |
Die Distanzierung von der Grüne Jugend-Chefin läuft schon seit Monaten. | |
## Macht, Twitter und Empörung | |
Ein Beispiel: Ex-Ministerin [8][Renate Künast] schrieb auf X, dass Nietzard | |
sich unsouverän und klein verhalte. Die hatte in der Wahlnacht | |
[9][FDP]-Chef [10][Christian Lindner] dafür gelobt, dass er mit seinem | |
Rückzug nun seiner Frau, Kind und Karriere ermögliche. | |
Nietzards Tweets sind wirklich sehr provokant, aber im Fall des | |
Lindner-Tweets hier will man fast zu ihrer Verteidigung schreiten und in | |
Boomer-Manier zurückkommentieren: „Man wird ja wohl noch einen Scherz | |
machen dürfen?“ | |
Die Antwort der Etablierten ist und bleibt nein. Sie hatten schon vor der | |
Bundestagswahl Angst gehabt, dass Nietzards „ungezogene“ Aussagen sie | |
Stimmen im Wahlkampf kosten könnten. | |
„Ich wünschte, ich hätte so viel Macht, wie der Parteivorstand suggeriert�… | |
lacht die nur, von taz FUTURZWEI darauf angesprochen. | |
Vielleicht haben sie sogar recht, fraglich ist nur, wie groß ihr eigener | |
Anteil daran ist. Die öffentliche Entrüstung ist ein zentrales Element von | |
Nietzards Plänen: Die Bekanntheit und die Aufmerksamkeit für das, was sie | |
sagen will, nimmt mit jeder Empörung weiter zu. | |
## Jubel über Opposition | |
Rückblende: An einem Freitag nach der [11][Bundestagswahl] schwebt Nietzard | |
lässig auf eine Bühne zu. „Wir haben’s geschafft, wir sind in der | |
Opposition gelandet“ ruft sie in ihr Mikro. Jubel im Saal. Das hier ist die | |
Bundesgeschäftsstelle in Berlin-Mitte, auf dem Flipchart steht nicht | |
Fan-Treffen, sondern „Politische Lagebesprechung“. | |
Der versammelte Bundes- und Landesvorstand der [12][Grünen Jugend] ist in | |
Bombenstimmung: Mit der [13][CDU] regieren? Finden hier alle „bäh“. Für s… | |
ist das, was andere als krachende Wahlniederlage der Mutterpartei sehen, | |
die große Chance, sie wieder dahin zu treiben, wo sie ihrer Meinung nach | |
hingehört. | |
Viele Grüne sehen das als Nischenprojekt, das nicht politische Kompromisse | |
mit Andersdenkenden sucht, sondern angetrieben wird von der Frage: Wer will | |
ich sein? Hier im Raum wäre die Antwort immer „links“. | |
## Populär und Pflegeleicht im Duo | |
Diese Mission haben sie jedenfalls Jette Nietzard anvertraut, 25 Jahre alt, | |
seit Oktober die neue Bundessprecherin. 84 Prozent der Mitglieder des | |
Jugendverbands wollten Jette. | |
Der Mann an ihrer Seite bekam weniger Stimmen, und auch wenn er gerade wie | |
ihr Backgroundtänzer aussieht, haben beide eine Hauptrolle: Während | |
Nietzard hier im Inneren der Jugendorganisation und im Land Stimmung macht, | |
kümmert sich Jakob Blasel, 24, um die Alt-Grünen, wie sie hier | |
leidenschaftlich genannt werden. | |
Unter denen gilt der Mitgründer von [14][Fridays for Future] als sehr | |
schlau und dann auch noch als pflegeleicht. | |
Nietzard lehnt jetzt mit überkreuzten Armen an der Wand. Ihr | |
Signature-Look. Ein 16-jähriges Mitglied lobt sie dafür, dass sie im | |
Wahlkampf nicht allen Flyer in die Hand gedrückt habe, sondern vor allem | |
Finta* (Frauen, Intersexuelle, Nicht-Binäre, Transgender- und | |
Agender-Personen). „Das trägt jetzt auf jeden Fall wieder zu meinem Image | |
als Männerhasserin bei“ sagt sie. Alle lachen. Sitzung beendet. | |
Das Headquarter der Grünen Jugend liegt im Hinterhof der Parteizentrale, | |
hier blättert der Putz ab, es ist dunkel. Nietzard setzt sich auf ein | |
blaues Sofa. | |
Sie sagt, sie hätte ihre Tweets natürlich anders formulieren können, aber | |
sie wollte nicht. Ihr Blick sagt: Challenge me! Poppig provokant, | |
entschuldigungslos, ein bisschen ikkimelig, das ist der von ihr begründete | |
Stil. | |
Und doch ist es nichts ganz Neues, Rumpöbeln ist der traditionelle Job der | |
Jungfunktionäre, das konnten auch schon ihre Vorgänger. Man erinnere sich | |
an die Zeiten des Timon Dzienius. Der sitzt jetzt im Bundestag. | |
## Keine People Pleaserin | |
Nietzard ist übrigens nicht total woke, nicht gendertheoretisch akademisch, | |
ihre Worte sind nicht geairbrushed. Ihre Fotos auch nicht. Eines ihrer | |
Bikini-Bilder ging viral, es wurde in [15][AfD]-Kreisen hämisch | |
rumgereicht, das Foto von ihr sei „ziemlich geil“ sagt sie. | |
Das, was Nietzard zur Revolte macht und sie den deutschen Pop-Girlies | |
nahebringt, ist das: Sie ist keine People Pleaserin. Millionen andere | |
Frauen lernen von klein auf, dass sie es allen recht machen müssen – außer | |
sich selbst. Das mag jetzt die eine oder andere überraschen, aber das prägt | |
letztlich auch Grüne Funktionärinnen. Nietzard steht, wenn auch manchmal | |
übersteuert, für das Gegenmodell. | |
Es ist Freitagabend geworden, draußen in Berlin macht längst jede ihrs und | |
jeder seins, aber in diesem Büro wird immer noch geschuftet, zehn | |
Mitarbeitende sorgen dafür, dass der Laden läuft und ihre Shooting-Stars | |
nicht nur ein kurze Leuchterscheinung am Medienhimmel gewesen sein werden. | |
## Das politische Ziel | |
Das Ziel ist klar: „Es geht nicht darum, die drei Prozent von der | |
[16][Linkspartei] zurückzuklauen, wir müssen das Feld erweitern,“ sagt | |
Nietzard. Übersetzung: Linke Politik hilft eigentlich allen, aber nur die | |
wenigsten wählen so. Sie denkt natürlich, daran lässt sich was ändern. | |
Klimapolitik gehört eher selten zu ihrem Portfolio, dafür ist | |
Fridays-Blasel zuständig. [17][Robert Habeck], damals Wirtschafts- und | |
Klimaminister, habe man im Wahlkampf unterstützt, weil er im Verhältnis | |
noch der linkste Kandidat gewesen sei. „Das war aber keine Liebesheirat,“ | |
sagt Nietzard. Als ob man das wirklich klarstellen müsste. | |
Nietzard, muss man wissen, ist nicht „Generation Erasmus“, wie die Älteren | |
so gerne abwertend sagen. Sie macht den Job als Bundessprecherin Fulltime, | |
aber hätte sie die letzten Jahre nicht so viel für Geld gearbeitet, könnte | |
sie sich den nicht leisten. | |
## Arbeit und Empörung | |
Ihr Gehalt ist ein schlechterer Witz als ihre Work-Life-Balance. Studiert | |
hat sie Kinderpädagogik an Berlins notorischster Linken-Hochburg, der | |
[18][Alice-Salomon Hochschule für Soziale Arbeit]. 2022 stand sie im März | |
jeden Tag am Hauptbahnhof und kümmerte sich um ankommende ukrainische | |
Kinder. | |
Die letzten Jahre arbeitete sie Vollzeit in der Geflüchteten-Hilfe. Das tut | |
sie auch jetzt noch, unregelmäßig in Nachtschichten, um ihr Leben zu | |
bezahlen. | |
Tagsüber generiert sie Empörungs-Output. In einem Gastbeitrag bei watson | |
beglückwünscht sie Frauen, die Männer finanziell „ausnutzen“. Das sei ei… | |
valide Form der Umverteilung von Ressourcen. | |
Nicht nur in den Reihen der Grünen findet man, dass sie mit ihren | |
Formulierungen übers Ziel hinausschießt. Auch vor dem ACAB-Furor schrieben | |
besonders Redakteure jenseits der fünfzig gerne kritisch über sie. Und | |
spielen damit ironischerweise auch nach ihren Regeln: „Als Frau bin ich eh | |
viel eher das Hassobjekt als die Kluge, damit kann ich dann auch spielen,“ | |
sagt Nietzard. | |
## Jeder Hater ist ein Klick mehr? | |
Sie bekommt so viele Hasskommentare, dass ihr Team mit dem Löschen nicht | |
mehr hinterherkommt. Gerade habe sie noch die Kraft, damit umzugehen. Aber | |
wie lange noch? Das weiß sie nicht. Bis dahin hält sie es wie das | |
feministischen Rap-Duo, SXTN: "Jeder Hater ist ein Klick mehr!“ Sie lacht | |
laut. Dann zeigen ihre Mundwinkel nach unten. | |
Ihre beiden Vorgängerinnen hatten im vergangenen Herbst einen groß | |
angelegten und zelebrierten Austritt vollzogen, um etwas „dezidiert Linkes“ | |
zu gründen. | |
Am Ende gingen nur wenige Hundert Mitglieder. Die Restlichen blieben mit | |
einem Finanzierungsloch zurück, die Mutterpartei musste einspringen. Die | |
Grüne Jugend lag brach. | |
Nietzard hat sich diesen schwierigen Wiederaufbau zugetraut, auch | |
strategisch. „Nur dagegen zu sein, hilft niemandem,“ sagt sie. Übersetzung: | |
Sie ist auch eine Linke, aber so einen Scheiß würde sie nicht machen. Jetzt | |
ist der Jugendverband bekannter als je zuvor. Nach nur acht Monaten im Amt | |
ist Nietzard einflussreich, aber auch angeschossen. | |
Passt sie nicht auf, fällt ihr Sternchen. Wenn nicht, muss sie auch in | |
eigenem Sicherheitsinteresse mehr daraus machen, über die Darstellung der | |
„Jette“ hinaus: Das Role Model für junge Linke im Widerstand gegen die | |
angeblich angepassten Alt-Grünen. | |
Eigentlich will Jette Nietzard junge Menschen politisieren. So fing auch | |
für sie alles an, hier bei der Grüne Jugend. Bisher geht ihre Strategie | |
auf: Es sind eben nicht nur Hater, die auf ihren Profilen rumhängen. | |
Der Jugendverband hat im Wahlkampf mehrere hundert neue Mitglieder | |
gewonnen. Ob das wirklich der Jette-Effekt ist, weiß man aber nicht. | |
Als Grünen-Spitze kann man auf sie runtersehen und ihre Pop-Politik als | |
unerwachsen und unangebracht kritisieren, vielleicht wäre es jedoch | |
schlauer das nicht öffentlich zu tun. Es stimmt ja auch, dass Nietzard der | |
aktuellen Problemlage nicht gerecht wird. Aber wer da draußen wird das | |
schon. | |
Transparenzhinweis: Paulina Unfried arbeitet im deutschen Bundestag für | |
eine Grüne Abgeordnete. | |
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N°33 mit dem Titelthema „Wer bin ich?“ gibt es jetzt [19][im taz Shop.] | |
2 Jun 2025 | |
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