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# taz.de -- Union und SPD gegen Sozialstaat: Das Märchen von der Hängematte
> Der Sozialstaat ist kein Zukunft fressender Moloch. Er ist die Basis des
> friedlichen Zusammenlebens unserer Gesellschaft. Union und SPD ist das
> offenbar nicht klar.
Bild: Der Koalitionsvertrag ist da, doch die Erinnerungen an den Sozialstaatsau…
[1][taz FUTURZWEI] | „Unser Land ist satt, langsam, reguliert und träge.
Wir brauchen weniger Sozialstaat und dafür mehr Leistungsbereitschaft.“ So
formulierte es Rainer Kirchdörfer, Vorsitzender des Lobbyunternehmens
Stiftung Familienunternehmen und Politik, in einem Gastbeitrag in der Welt
vom 3. November 2024.
Heute, ein halbes Jahr später, ist diese Ansage der Sound der Sozial- und
[2][Arbeitsmarktpolitik] der Union/SPD-Koalition.
Die angeblich aus den sozialen Systemen geknüpfte „Hängematte“ soll
abgehängt werden und jeder soll wieder für sein Unglück selbst
verantwortlich sein.
Die [3][Steuern] für die Unternehmen sollen runter, mit den eingesparten
Abgaben sollen sie investieren, denn dann springt, wie Kai aus der Kiste,
das Wachstum an, die Löhne steigen, die Steuereinnahmen sprudeln und dann
kann auch wieder über Umverteilung geredet werden.
Dieses Märchen aus den Kindertagen des [4][Kapitalismus] sollen die
Arbeitenden durch Mehrarbeit, [5][Überstunden] und Leistungskürzungen in
den sozialen Systemen finanzieren.
## Sogar die SPD macht mit?
Wenn sogar die [6][SPD] dabei mitmacht, ihre Heldentaten aus den letzten
100 Jahren erfolgreich zivilisierten Klassenkampfes an der Seite der
[7][Gewerkschaften] abzuräumen, kann eine solche Politik ja nicht so
schlimm sein.
Oder? Der Achtstundentag bei vollem Lohnausgleich ist ein Kern der mit
Massenstreiks erkämpften Arbeiterrechte, verankert im Eisenacher Programm
der SPD von 1869, seit 1918 mit dem Stinnes-Legien-Abkommen in die
Arbeitsgesetzgebung der Weimarer Republik eingegangen und schließlich im
Arbeitszeitgesetz vom 6. Juni 1964 auch in der Bundesrepublik geregelt.
Nun soll er unter dem Vorwand höherer Flexibilisierung für höhere
Produktivität im Interesse der Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen
geschliffen werden. Bis zu 12 Stunden am Stück an nur vier Tagen der Woche
sollen möglich werden. Die festen Strukturen des Arbeitslebens, die das
Leben der Familien stabilisieren, werden aufgehoben.
Es erstaunt, dass sich die SPD nicht an ihre Kämpfe an der Seite der
Gewerkschaften ab 1956 erinnert. Mit "Samstags gehört Vati mir" wurde die
40- Stunden- und 5-Tage-Arbeitswoche gefordert und in den meisten
Wirtschaftsbereichen ab den 1960er Jahren auch durchgesetzt.
## Die Basis friedlichen Zusammenlebens
Dieses Arbeitszeitmodell ist die Grundlage für den wirtschaftlichen
Aufstieg gewesen, hat Innovationen befördert und Strukturbrüche wie den
Ausstieg aus der Kohleförderung ohne jeden Schaden für die Wirtschaft
überstanden. Mehr noch: Diese, in Kooperation mit der Wirtschaft
durchgesetzte Arbeitszeitregelung, hat Planungssicherheit für den Ausbau
aller sozialen Systeme geschaffen.
Das Gesundheitssystem, die Pflegeversicherung, das [8][Kindergeld], das
[9][BAföG], der soziale Wohnungsbau, die dauerhaft sichere [10][Rente] und
vieles andere mehr sind Erfolge der Grundlagen des [11][Sozialstaates], die
von der [12][Arbeiterklasse] erkämpft wurden.
Der Sozialstaat ist kein Zukunft fressender Moloch einer patriarchalisch
zugestandenen Überversorgung. Er ist die Basis des friedlichen
Zusammenlebens unserer Gesellschaft.
Er ist das in sicheren Institutionen eingelöste Versprechen der
Sozialdemokratie unter dem Schirm sozialer Sicherheit des Staates das
eigene Leben selbstverantwortlich gestalten zu können. Von sozialer
Hängematte kann keine Rede sein. Sicher gibt es Missbrauch der sozialen
Angebote, aber der ist beherrschbar und kein Grund, das gesamte System zu
schleifen.
## Die Armutsberichte sprechen Bände
In der Bundesrepublik gibt es nach dem jüngsten [13][Armutsbericht] des
Paritätischen Wohlfahrtsverbandes von Ende April, 13 Millionen Menschen
(15.5 Prozent der Bevölkerung), die mit einem mittleren Einkommen von 1.099
Euro, preisbereinigt 921 Euro, zurechtkommen müssen.
Zu ihnen gehören Rentner, vor allem alte Frauen, Alleinstehende,
Alleinerziehende und Studenten. Nur 15 Prozent dieser Menschen sind
arbeitslos und oft aus gut nachvollziehbaren Gründen allein auf
Sozialtransfers angewiesen.
Nur als Ergänzung ein Hinweis auf die Höhe der durchschnittlichen Renten:
Die Netto-Renten der Männer lagen 2024 bei 1.500 Euro, die der Frauen bei
980 Euro. Mehr als die Hälfte aller Rentner muss also mit noch deutlich
niedrigeren Renten zurechtkommen. Von gesellschaftlicher Teilhabe, einem
würdevollen Leben im Alter, kann bei solchen Renten keine Rede sein.
Diese wachsende [14][Armut] beunruhigt, verstellt aber nicht den Blick
darauf, dass der Sozialstaat insgesamt seine Funktion als Sicherheitsanker
der Gesellschaft erfüllt. Richtig ist aber auch, dass der Sozialstaat wegen
der demographischen Tatsachen (mehr Alte als Junge), wegen der
schrumpfenden Workforce als seiner zentralen Finanzierungsquelle, wegen
wissenschaftlichen Fortschritten und steigenden Kosten bei verbesserter
Qualität der Versorgung und wegen überkommener Strukturen eine
Effizienzreorganisation braucht. Im Koalitionsvertrag von [15][CDU] und SPD
findet sich dazu nichts.
Dabei wäre eine solche Effizienz-Reorganisation des Sozialstaates kein
Hexenwerk. Die Sozialleistungen könnten besser organisiert und langfristig
sicher finanziert werden, auch wenn dafür zu Beginn der Reorganisation hohe
Investitionen erforderlich wären und die Abgabenquote auf 50 Prozent
steigen würde.
## Selbstverantwortungskultur statt Reform
Aber CDU und SPD reden lieber den Sozialstaat schlecht. Sie nehmen die
zunehmende soziale Ungleichheit und Verunsicherung der ganzen Gesellschaft
hin, ohne zu bedenken, dass sie damit auch den Modernisierungswillen in
Wirtschaft und Gesellschaft ausbremsen.
Hier lohnt ein Blick nach Norden, etwa nach [16][Finnland]. Konservative,
Sozialdemokraten und Grüne befördern gemeinsam das Vertrauen ihrer Bürger
in Staat und Regierung, die Einkommen sind im europäischen Vergleich hoch,
die Inflation wird immer ausgeglichen, das Bildungssystem hält Chancen für
jeden bereit, die soziale Unterstützung ist umfassend, effektiv und
großzügig staatlich organisiert.
Die Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten ist immer weiter gestiegen.
Die Steuerquote ist hoch, und dennoch bestimmt Freiheit als
selbstverständliches Lebensgefühl den Alltag in Finnland.
In der Bundesrepublik setzen CDU und SPD dagegen lieber auf
Sozialkürzungen, nehmen die Verschärfung der sozialen Unterschiede hin und
propagieren eine spaltende Selbstverantwortungskultur.
Sie ignorieren dabei, dass es für die frustrierten Bürger eine nun sogar
vom Verfassungsschutz als rechtsradikal eingestufte Alternative gibt. Keine
schönen Aussichten.
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5 May 2025
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[15] /CDU/!t5008617
[16] /Finnland/!t5009052
[17] https://shop.taz.de/product_info.php?products_id=245588
## AUTOREN
Udo Knapp
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