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# taz.de -- Popmusik aus Venezuela: Rückkopplungen aus der Diaspora
> Wer von Venezuala redet, redet von Krisen. Hier blicken wir auf die
> kreativen Musiker*innen des Landes und ihren vielfältigen Sound.
Bild: Das venezolanische Synth-Pop-Duo Mito y Comadre
Was fällt Ihnen spontan zu Venezuela ein? Vermutlich populistische
Politiker wie Hugo Chávez und Nicolás Maduro oder Begriffe wie
Misswirtschaft und Flucht. Migrierte „Venecos“, wie Venezolaner*innen
in den Nachbarstaaten abschätzig genannt werden, gelten dort als Inbegriff
allen Übels.
In den USA reicht es dagegen schon aus, den falschen Pass zu haben und
tätowiert zu sein, um der [1][berüchtigten Tren-de-Aragua-Gang] zugerechnet
zu werden und als Venezolaner in einem salvadorianischen Gefängnis zu
landen.
Die Liste negativer Zuschreibungen ließe sich verlängern. Nur was ist mit
den schönen Dingen des großen Landes im Norden Lateinamerikas zwischen der
Karibik, den Anden und Amazonien? Haben Sie vielleicht schon einmal vom im
6/8-Takt gespielten Folk-Genre Joropo aus dem Hochland gehört oder von der
Fiesta de San Juan, einem ausgelassenen, synkretistischen Tanzfest am 24.
Juni, das einst von Sklaven auf den Kakao- und Kaffeeplantagen an der Küste
zelebriert wurde?
## Trommeln als Herzstück
Oder davon, dass die Populärmusik Venezuelas sehr vielfältig und zumeist
geprägt ist von afrovenezolanischen Rhythmen wie Quitiplás, Sangueo und
Culo ’e Puya? Die Trommeln sind das Herzstück dieser Musik.
In den 1970er Jahren entwickelte sich eine florierende Musikszene in
Venezuela. Caracas war für sein Nachtleben bekannt, und es entstand ein
eigener Sound, darunter spezielle Varianten von Salsa und des Merengue aus
der Dominikanischen Republik. Einer der Pioniere war [2][Chelique Sarabia],
Musiker und Poet. Schon in jungen Jahren hat er den Klassiker
[3][„Ansiedad“] komponiert, der in der „Spanglish“-Fassung von Nat King
Cole berühmt wurde.
Auf seinem Album [4][„Revolución Electrónica en Música Venezolana“] von
1971 verlieh Sarabia venezolanischen Volksliedern schließlich einen
modernen Dreh. Er verwendete traditionelle Instrumente wie die Cuatro und
die Bandola llanera, beides viersaitige Zupfinstrumente, filterte diese
durch Oszillatoren und spielte mit Rückkopplungen, synthetisierten
Frequenzen und Echos. Es war ein Album voller flirrender Gitarren und
Effekte, gesponsert vom Ölmulti Shell, der die Platte zu Weihnachten an
Kunden, Angestellte und Freunde des Unternehmens verschenkte (was ähnlich
schräg ist, als wenn VW die Alben von Kraftwerk finanziert hätte).
Die Nachfolge Chelique Sarabias trat Musikproduzent [5][Daniel Grau] an. Er
experimentierte mit Synthesizern und Drum Machines und kreierte
eigenwilligen Breitband-Disco-Kitsch. Seine Musik enthielt Elemente von
Jazz und brasilianischem Bossa Nova und „Maestro“ Grau wird auch der
„Giorgio Moroder Lateinamerikas“ genannt. 2014 veröffentlichte das Berliner
Label Sonar Kollektiv die groovende Kompilation [6][„The Magic Sound of
Daniel Grau“].
## Wer kann, haut ab
Später blühte der HipHop als Protestmusik auf. Die wichtigste Figur des
venezolanischen Rap war Canserbero, ein begnadeter Lyriker und MC, der 2015
unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Inzwischen weiß man, dass er
[7][umgebracht wurde]. Es war der Rapper [8][Apache, der das Mic von
Canserbero übernahm]. Apache gelang der Durchbruch aber erst, als er 2018
[9][nach Medellin, Kolumbien, ging]. „Als ich ankam, stellte ich fest, dass
ich hier überraschenderweise einige Fans habe“, sagt Apache. „Das hat mir
geholfen, und die Dinge laufen weiter gut.“
Ein Grund dafür, dass Musik aus Venezuela international insgesamt weniger
goutiert wird als etwa die Brasiliens oder Kolumbiens, ist die politisch
und wirtschaftlich miserable Situation des Landes, sie hat die
Musikindustrie ruiniert. Wer kann, haut ab – rund 8 Millionen Menschen in
den vergangenen zehn Jahren. Darum entsteht venezolanische Popmusik
inzwischen vor allem in der Diaspora.
Das Duo Mito y Comadre etwa hat sich in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá
kennengelernt. 2023 wurde ihr gefeiertes Synth-Pop-Debüt [10][„Guajirando“]
vom legendären Label ZZK aus Buenos Aires veröffentlicht. Ihr Video zu
[11][„Siento una pena“] begleitet einen Migranten bei seiner Reise in ein
neues Land. Für Sängerin Shanna waren die Aufnahmen „wie ein Wiedersehen
mit meiner Heimat“.
## Soundtrack der Emigration
Über den Atlantik nach Europa sind venezolanische Musiker ebenfalls
emigriert. In Paris ist etwa Raúl Monsalve ansässig. Mit seiner Band Los
Forajidos erkundet der Bassist das komplexe Erbe seiner Heimat. War das
Debüt [12][„Bichos“] (2020) eine Hommage an Afrobeat-Pioniere wie Fela Kuti
und Orlando Julius, mit dem Monsalve früher ausgiebig auf Tournee war,
verbindet das wieder beim Label Olindo erschienene, zweite Album [13][„SOL]
nun afrikanische und indigene Traditionen Venezuelas und schließt moderne
Einflüsse mit ein.
Die größten Erfolge feiert gerade die Indie-Band [14][Rawayana], die teils
in Miami, teils in Mexiko-Stadt residiert. 2007 begannen die vier Musiker
um den Sänger Beto Montenegro in Caracas unter zunehmend schwierigen
Lebensumständen luftig-leichte Reggae- und Funkklänge zu produzieren, die
Partys am Wochenende und Ausflüge zum Strand feierten.
Irgendwann blieb den Musikern nichts anderes übrig, als Venezuela zu
verlassen. „Das Einzige, was wir tun konnten, war, in Privatkonzerten für
reiche Leute zu singen oder für die Regierung aufzutreten. Wir mochten aber
keinen dieser Wege“, [15][sagt Montenegro] rückblickend. So wurde ihre
Musik zum „Soundtrack der Diaspora“, wie er sagt. (In der „Tiny
Desk“-Konzertreihe gibt es einen [16][schönen Liveauftritt] von ihnen zu
sehen.)
2024 gewannen Rawayana einen Grammy, danach wollte die Band endlich wieder
in ihrem Heimatland touren. Doch es kam anders: [17][In einem Song] hatte
Rawayana den zumeist abwertend für Venezolaner gebrauchten Begriff
„Venecas“ (vom Anfang dieses Textes) als Liebesbekundung an die
venezolanischen Frauen umgedeutet – jene seien nämlich Cheftypen und hätten
athletische Körper, ohne ins Gym zu gehen. Präsident Maduro nannte das Lied
gleichwohl öffentlich eine Beleidigung der Frauen des Landes – und die
Konzerte mussten am Ende abgesagt werden.
Dieser Text ist in der taz-Verlagsbeilage „Global Pop“ erschienen.
15 May 2025
## LINKS
[1] https://blogs.taz.de/theorie-praxis/zum-stand-des-criminal-contempt-verfahr…
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Chelique_Sarabia
[3] https://www.youtube.com/watch?v=XQtaONV8a0o
[4] https://www.youtube.com/watch?v=JPcKMNyJOp4
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Daniel_Grau
[6] https://danielgrau.bandcamp.com/album/the-magic-sound-of-daniel-grau-compil…
[7] https://www.t-online.de/unterhaltung/stars/id_100310384/rapper-canserbero-a…
[8] https://www.youtube.com/watch?v=Y1A0DXACAfI
[9] https://www.latinolife.co.uk/articles/apache-hiphop-sin-fronteras
[10] https://mitoycomadre.bandcamp.com/album/guajirando
[11] https://www.youtube.com/watch?v=SWhf2C5qJUs
[12] https://monsalveylosforajidos.bandcamp.com/album/bichos
[13] https://monsalveylosforajidos.bandcamp.com/album/sol
[14] https://en.wikipedia.org/wiki/Rawayana
[15] https://www.latimes.com/world-nation/story/2025-04-12/a-venezeulan-band-tr…
[16] https://www.youtube.com/watch?v=CbotsXwCbNE&t=3s
[17] https://www.washingtonpost.com/world/2024/12/05/venezuela-rawayana-maduro-…
## AUTOREN
Ole Schulz
## TAGS
Venezuela
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