# taz.de -- Repression gegen türkische Medien: „Wir sind keine Aktivisten“ | |
> Die Pressefreiheit wird vom Erdoğan-Regime immer stärker beschränkt. Auch | |
> die Nachrichtenseite Medyascope ist betroffen. Wie sieht sie die Zukunft? | |
Bild: Ankara am 24. März: Die Polizei geht gegen Demonstrant*innen vor | |
taz: Herr Heyse, unter dem Logo im Eingangsbereich Ihres Büros steht der | |
Slogan „Weil wir frei sind“. Wie frei sind Sie in der aktuellen Situation | |
in der Türkei? | |
Kaya Heyse: Zurzeit gibt es in der Türkei große Probleme, was die | |
Pressefreiheit angeht. Die Medien, insbesondere der gesamte Mainstream, | |
befinden sich entweder in den Händen der Regierung oder müssen eng mit ihr | |
zusammenarbeiten. Das hat viele negative Auswirkungen, aber die Türkei ist | |
noch kein Russland. Es gibt einen Trend, aber es ist trotzdem möglich, dass | |
Medien wie unsere noch atmen können. | |
taz: In den letzten Wochen wurden während der Proteste [1][viele | |
Journalist*innen] festgenommen. | |
Heyse: Ja, diese Leute waren bekannte Persönlichkeiten, die immer Fotos von | |
den Protesten an große ausländische Agenturen geschickt haben. Sie waren | |
bereits auf dem Radar der Regierung. [2][Der BBC-Korrespondent Mark Lowen | |
wurde ausgewiesen]. Ein schwedischer Journalist sitzt immer noch im | |
Gefängnis. Solche Dinge passieren. Die Regierung könnte gedacht haben, | |
diese Leute geben die Nachrichten an ausländische Mächte weiter. | |
taz: Haben Sie Bedenken, bevor Sie eine Nachricht veröffentlichen – etwa | |
Sorgen vor Klagen oder polizeilichen Razzien? | |
Heyse: Natürlich. Bei einigen Artikeln konsultieren wir Anwälte. Wir | |
schreiben die Nachricht, zeigen sie dem Anwalt, und er weist auf | |
problematische Stellen hin. Entweder nehmen wir das Risiko in Kauf oder | |
ändern die Stelle teilweise. Aber was noch wichtiger als der Anwalt ist: | |
Die Nachricht muss den journalistischen Normen entsprechen. Wenn alles | |
doppelt und dreifach überprüft wurde und die Quellen stimmen, und wir an | |
die Meldung glauben, dann veröffentlichen wir sie, auch wenn der Anwalt sie | |
als problematisch ansieht. | |
taz: Was passiert dann? | |
Heyse: Wegen unserer Berichterstattung werden wir oft zur Befragung | |
vorgeladen. Außerdem werden unsere Nachrichten häufig blockiert. Wir | |
erhalten dann eine gerichtliche Verfügung. Diese Nachricht muss dann | |
innerhalb weniger Stunden von der Seite entfernt werden. Bis vor ein paar | |
Monaten gab es jede Woche mindestens zehn solcher Verfügungen. Aber der | |
Verfassungsgerichtshof hat vor einigen Monaten eine Entscheidung getroffen, | |
dass sie verfassungswidrig seien. Seitdem haben wir das in den letzten | |
Monaten kaum erlebt. In der Vergangenheit wurden auch unsere Journalisten | |
festgenommen. Es gab Klagen, doch alle Verfahren wurden eingestellt. | |
taz: Das heißt, die Risiken verringern sich, wenn die Nachrichten | |
sorgfältiger erstellt werden? | |
Heyse: Ja. Wir bezeichnen uns nicht als alternative oder oppositionelle | |
Medien. Natürlich können die Mitarbeiter ihre eigenen Meinungen haben, aber | |
diese beeinflussen nicht ihre Arbeitsweise. Medyascope ist eine | |
journalistische Institution. Wir sind also keine Aktivisten. In der Türkei | |
gibt es eine enorme Menge an Copy-Paste-Nachrichten. Man nimmt eine | |
Nachricht von einer Plattform und setzt sie auf einer anderen ein. Viele | |
Menschen geraten wegen solcher Praktiken in Schwierigkeiten. Zum Beispiel | |
gab es beim Erdbeben eine Nachricht über einen Dammbruch. Websites nahmen | |
die Nachricht auf. Ein „Influencer“ teilte sie und wurde festgenommen. | |
Inzwischen haben sich die Gesetze in der Türkei geändert. Die Strafe für | |
Desinformation ist nun Gefängnis. | |
Übrigens bedeutet unser Slogan nicht nur, dass wir von Kapital und Macht | |
unabhängig sind. Wir sind auch von den Einschaltquoten frei. Das bedeutet, | |
dass wir nichts tun müssen, um Klicks oder hohe Leserzahlen zu erzielen. | |
Diese Freiheit ermöglicht es uns, Inhalte zu produzieren und Nachrichten zu | |
publizieren, die über die Polarisierung hinausgehen. Wenn man sich | |
Journalisten in der Türkei anschaut, die allein oppositionell sind, dann | |
sagen die meisten einfach, was die Menschen hören wollen. Wir haben auch | |
eine eigene Leserschaft, aber diese ist sehr divers. Da sind Menschen aus | |
allen politischen Richtungen: Oppositionelle, radikale Linke, Islamisten – | |
es ist ein breites Spektrum. Unser Ziel ist es, Mainstream zu werden und | |
alle zu erreichen: Menschen in Anatolien, in großen Städten und im Ausland. | |
taz: Sind Sie diesem Ziel nahe? | |
Heyse: Im Jahr 2019 hatte Medyascope auf allen Plattformen etwa 100.000 | |
Follower. Jetzt sind es eine Million. Unsere monatlichen Ansichten auf | |
allen Plattformen liegen bei rund 200 Millionen. Wir haben gesehen, wie | |
schwierig es geworden ist, sich in der Türkei richtig zu informieren, und | |
erkannt, dass die Leute ein Bedürfnis danach haben. Es gibt viele Menschen, | |
die uns folgen und unsere Inhalte lesen, obwohl sie uns nicht mögen. Wir | |
haben deshalb so viele Leser, weil wir korrekte Informationen liefern und | |
unparteiische Kommentare abgeben. | |
taz: Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die Lage der Medien | |
in der Türkei ziehen? | |
Heyse: Um die Pressefreiheit in der Türkei steht es sehr schlecht, der | |
Druck der Polizei und die rechtliche Beschränkung der Arbeit unserer | |
Journalisten sind real, aber das größte Problem für Medien wie unsere ist | |
der indirekte Druck, den die Regierung auf uns ausübt. | |
taz: Welche Art von indirektem Druck? | |
Heyse: Zum Beispiel machen große Unternehmen bei uns keine Werbung. Sie | |
haben Angst. Während der Wahlen 2023 gab es 45 Angestellte bei Medyascope. | |
Bis zum Ende des letzten Jahres waren es nur noch 30. Jetzt sind wir 18. | |
Das Personal schrumpft. Auch wenn unsere Einnahmen steigen, können sie mit | |
der Geschwindigkeit unserer Ausgabensteigerungen nicht mithalten, weil es | |
Inflation gibt. Da wir wissen, dass wir nicht viel Werbung bekommen können, | |
wenden wir uns an unsere Zielgruppe und bitten unsere Leser um | |
Unterstützung. | |
taz: Erzielen Sie damit Erfolg? | |
Heyse: Besonders in Krisenzeiten, wenn große Ereignisse stattfinden und die | |
Menschen am meisten auf korrekte Informationen angewiesen sind, spenden | |
mehr Leute. Wir haben das zum Beispiel gesehen, als der Bürgermeister von | |
Istanbul, Ekrem İmamoğlu, verhaftet wurde, oder beim Erdbeben oder während | |
der Wahlen. Wir müssen dies auf die nächste Stufe bringen. Bald werden wir | |
auf ein Abonnementmodell umsteigen. | |
Aber je mehr Zeit vergeht und je schlechter die Situation wird, denkt man | |
auch: Wird unser Atem ausreichen? Früher haben wir Zweijahrespläne gemacht. | |
Jetzt machen wir nur noch Jahrespläne. Wenn wir beginnen, einen | |
Sechsmonatsplan zu machen, wird die Lage wirklich schlecht. Wir stehen ein | |
bisschen im Wettlauf gegen die Zeit. Ein ähnliches Unternehmen wie unseres, | |
Gazete Duvar, hat vor einigen Monaten plötzlich beschlossen zu schließen. | |
Die Eigentümer wollten kein zusätzliches Geld investieren, und die | |
Unterstützung von Lesern und Zuschauern war nicht genug. | |
taz: Warum wird nicht genügend gespendet? | |
Heyse: Viele Menschen sind sich der enormen Kosten von Journalisten, | |
redaktionellen Prozessen und Büromieten nicht bewusst. Früher haben | |
Menschen Geld für Zeitungen gezahlt, um sie zu lesen. Mit der Macht der | |
sozialen Medien sehen die Menschen ständig Nachrichten und denken, dass | |
diese kostenlos sind. Aber so ist es nicht. Diese Denkweise muss sich | |
ändern. Natürlich ist nicht alles die Schuld des Publikums. Manchmal | |
verhalten sich Journalisten faul oder vermischen Journalismus mit | |
Aktivismus. | |
taz: Ist diese Trennung zwischen Journalismus und Aktivismus in der Türkei | |
nicht so klar wie in anderen Ländern? | |
Heyse: Als die Mainstreammedien in der Türkei unter Kontrolle gestellt | |
wurden, verloren Tausende von Journalisten ihre Jobs. Einige versuchten, | |
selbst ein Medium zu gründen, aber konnten damit kein Geld verdienen. | |
Andere erkannten die Macht der sozialen Medien und dass die Interaktion | |
dort monetarisiert werden kann. Was sie taten, war, Teil des | |
Polarisierungsprozesses zu werden und nur das zu sagen, was ihre Zielgruppe | |
hören wollte. So sind sie auch zum Aktivismus übergegangen. Langfristig | |
halte ich das nicht für eine gute Sache. Um Journalismus zu betreiben, | |
braucht man eine Institution. Es ist eine Teamarbeit. Es ist ein | |
schwieriger und teurer Job. Einzelpersonen können effektiv sein, aber ich | |
bin mir nicht sicher, ob das für den Beruf langfristig von Nutzen ist. | |
taz: Medyascope hat also kein Interesse an großer Reichweite? | |
Heyse: Wir machen keine Nachrichten, um viele Klicks zu bekommen. Aber | |
nehmen wir an, es gibt eine Kundgebung in Saraçhane (dem Stadtteil, in dem | |
sich die Stadtverwaltung Istanbul befindet; d. Red.). Wir schreiben dann | |
einen Artikel: „Wie kommt man nach Saraçhane?“ Das machen wir, um ein | |
Bedürfnis zu erfüllen. Wenn man dann bei Google danach sucht, kommt man auf | |
unsere Seite. | |
taz: Geben Sie Ihren Journalist*innen Tipps für ihre Sicherheit? | |
Heyse: Wir verbieten niemandem, zu twittern, aber besonders in Krisenzeiten | |
sagen wir: „Achtet auf die Tweets, die ihr sendet.“ Abgesehen davon gibt es | |
oft Shitstorms. Dann bieten wir unseren Kollegen psychologische | |
Unterstützung an. Wenn ein rechtliches Problem auftaucht und sie ins | |
Gefängnis kommen, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden | |
Mittel nutzen, um sie herauszuholen. | |
taz: Apropos Shitstorm: Ihre Finanzierung aus dem Ausland wurde stark | |
kritisiert. In der Türkei werden Menschen, die Gelder aus dem Ausland | |
erhalten, sogar des Spionierens beschuldigt. Warum? | |
Heyse: Dieser Vorfall ereignete sich im Sommer 2022. Wir hätten es auch | |
gerne, wenn uns Institutionen in der Türkei finanzieren würden. Aber das | |
tun sie nicht, stattdessen finanzieren sie religiöse Sekten. In der Türkei | |
ist es gesetzlich erlaubt, Gelder oder Stipendien aus dem Ausland zu | |
erhalten. Sie versuchen, eine Foreign-Agent-Geschichte wie in Russland zu | |
etablieren. Als ich 2019 hier angefangen habe, stammten 95 Prozent der | |
Einnahmen aus Auslandsgeldern. Jetzt sind es noch etwa 47 Prozent. Wir | |
haben unsere eigenen Einnahmen erheblich gesteigert. | |
taz: Was können Sie über die Hindernisse sagen, mit denen ausländische | |
Institutionen konfrontiert sind? | |
Heyse: Es gibt einige Gesetze und Vorschriften, aber auch Grauzonen. Um sie | |
besser zu kontrollieren, verlangte die türkische Regierung von manchen | |
ausländischen Medien wie Deutsche Welle oder [3][Voice of America,] eine | |
Niederlassung in der Türkei zu eröffnen – von anderen nicht. Vieles basiert | |
auf Willkür. Wenn ein Regierungsmitarbeiter auch nur auf eine Meldung | |
stößt, die ihm nicht gefällt, wird das Medium strenger reguliert. | |
taz: Auch Medyascope? | |
Heyse: Ja, es gibt Druck. Vielleicht wird die Regierung eines Tages sagen: | |
„Es reicht, Medyascope stürmen und schließen!“ Aber es geht ihr nicht | |
darum, die gesamte Presse zu zerstören. In den letzten Wochen haben wir | |
auch einen Widerstand in der Gesellschaft gesehen. Deshalb glaube ich | |
nicht, dass es der Regierung gelingen wird, die Presse völlig zu | |
eliminieren. | |
11 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Ali Çelikkan | |
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