# taz.de -- Dialogveranstaltung von Chines:innen: Das Risiko von Konflikten | |
> Im Verein 706 Berlin kommen Chines:innen zusammen, um politisch zu | |
> diskutieren – über Politikverdrossenheit und das Bedürfnis nach Dialog. | |
Bild: Niemand zu sehen trotz reger Beteiligung bei 706 Berlin: Kritik zu äuße… | |
Berlin taz | Politische Diskussionen führe sie eigentlich nicht so gern. | |
„Sie sind emotional anstrengend und neigen dazu, Menschen zu spalten“, sagt | |
Fenglin*. Die interkulturelle Beraterin mag es lieber, den Fokus auf die | |
Menschen dahinter zu legen. Viele in der Runde nicken. Ähnliche Worte | |
werden am heutigen Abend noch oft fallen. Selbst mit anderen chinesischen | |
Studierenden der Sozialwissenschaften rede er nicht viel über Politik, sagt | |
Jing*. „Das Streitrisiko ist einfach zu hoch.“ Die Runde lacht zustimmend. | |
Trotzdem sind die rund 15 Menschen heute nicht zum Teetrinken | |
zusammengekommen, sondern um politisch zu diskutieren. Auch über die | |
chinesische Politikverdrossenheit. Reihum ergreifen sie das Wort und | |
versuchen sich an verschiedenen Begründungen: unaufgearbeitete Traumata der | |
chinesischen Kulturrevolution, das Aufwachsen in einem paternalistischen | |
System, die fehlende Möglichkeit zur demokratischen Wahl, der Fokus auf die | |
eigene Arbeit. | |
All das könnte die dicke Mauer zwischen Privatem und Politik, die viele | |
Chines:innen empfinden, erklären. Damit stehen große Themen im Raum, | |
aber selbst als die Berichte emotionaler und persönlicher werden, bleibt | |
der Ton überlegt und ruhig. Nie wird jemand unterbrochen. 706 Berlin sei | |
als Diskussionsplattform etwas Besonderes, versichert Fenglin. | |
Jing kennt 706 noch aus China. Wie die Mutterorganisation aus Peking hat | |
sich 706 Berlin 2021 als unabhängiger Begegnungsraum für junge | |
Chines:innen gegründet, seit 2022 ist er eingetragener Verein. Dabei | |
bilden die laut Ausländerzentralregister rund 12.000 Menschen mit | |
chinesischer Staatsbürgerschaft, die in Berlin leben, eine vergleichsweise | |
kleine Zuwanderungsgruppe. Trotzdem finden die Veranstaltungen, von | |
Antidiskriminierungsworkshops bis zu Filmabenden, großen Zuspruch. Mit dem | |
[1][verstärkten antichinesischen Rassismus während der Coronapandemie] nahm | |
auch das Bedürfnis nach einem Austauschort zu. | |
## Sorge um AfD-Zustimmung | |
Am heutigen Abend geht es auch um die Bundestagswahl. Die vielen Stimmen | |
für die AfD hätten ihn doch geschockt, beginnt der erste. Damit ist er | |
nicht allein. „Der Gedanke, hier zu bleiben, macht mich unsicher“, sagt ein | |
anderer, und fügt halb im Scherz hinzu: „Wenn die AfD das nächste Mal noch | |
mehr Stimmen bekommt, muss ich vielleicht doch noch mal das Land wechseln.“ | |
Dabei lebt er schon seit zehn Jahren in Deutschland. | |
Auch Nengda lebt schon lange hier. In den zwölf Jahren habe er eigentlich | |
kaum Diskriminierung erfahren, sagt er. Bis vor zwei Tagen. Auf der Straße | |
sei ihm eine ältere Frau entgegengekommen. Eine Deutsche, vermutet er. „Ich | |
habe gemerkt: Irgendetwas stimmt nicht mit der Art, wie sie auf mich | |
zukommt.“ Als sie mit ihrem Bein ausholt und versucht, ihn am Schienbein zu | |
treten, kann er instinktiv ausweichen. Sie trifft nur sein Hosenbein. Dann | |
habe sie ihn angeschrien: „Ich hasse Chinesen!“ | |
Im Raum sind leise Ausrufe hörbar. Fenglin lacht auf, irgendwie | |
verzweifelt. Nengda nickt. „Mir war ein bisschen schummrig in dem Moment. | |
Ich wusste nicht, wie ich reagieren soll.“ Seine Stimme, bisher sehr ruhig, | |
wird etwas lauter. „Früher hätte sich niemand getraut, so was auf offener | |
Straße zu tun. Die Frau konnte das tun, weil in dem Moment hinter ihr all | |
diese Stimmen standen. Die 20 Prozent für die AfD, sie haben ihr den Rücken | |
gestärkt.“ | |
Für einige Momente steht die Fassungslosigkeit im Raum, bevor der Nächste | |
weiterspricht. So eine offene Feindseligkeit scheint bisher niemand in der | |
Runde erlebt zu haben. Aber auch mit tolerant eingestellten Deutschen seien | |
politische Gespräche über China nicht immer einfach, berichtet Fenglin. | |
Wenn Deutsche sie früher mit Kritik an China, dessen Überwachungssystem und | |
Menschenrechtsverletzungen konfrontierten, habe sie oft nicht gewusst, was | |
sie entgegnen solle. | |
Zwischen Patriotismus und Taktlosigkeit | |
Das habe auch an ihrem Unwissen gelegen. Aber da war noch etwas anderes. | |
Oft fühlte sie sich auch verletzt. Das irritierte sie. Ist sie wirklich so | |
„eine kleine Patriotin“, wie ihr deutscher Freund sie bezeichnete? „Ich | |
musste mich viel mit meiner Identität auseinandersetzen“, sagt Fenglin. In | |
den vergangenen Jahren habe sie sich vom politischen Patriotismus | |
distanziert, informiert sich mittlerweile kritischer über chinesische | |
Politik. | |
Gleichzeitig kann sie nun mehr akzeptieren, dass sie nach wie vor eine | |
emotionale Bindung zu China hat. „Meine chinesische Identität besteht nicht | |
nur aus der politischen. In die Schublade wird man aber gerne gesteckt: die | |
Leute setzen das Land mit der Regierung gleich und sehen dich als deren | |
Stellvertreterin.“ Auf einer Party sei einmal die zweite Frage an sie | |
gewesen, ob sie auch so schlimm fände, was in China passiert. „Das ist | |
einfach taktlos.“ | |
Dennoch tauscht sie sich mit deutschen Freund:innen mehr über Politik aus | |
als mit chinesischen. Das politische Interesse der 706-Berlin-Mitglieder | |
sei nicht gerade repräsentativ für Auslandschines:innen. Die chinesische | |
Politikverdrossenheit beklagt auch Wang Qingmin. Er ist Aktivist, | |
regelmäßig stellt er sich auf öffentliche Plätze mit Flugblättern, die | |
Frauenrechte, Klimaschutz und Antirassismus fordern. Was sie verbindet: die | |
Anklage von Ungerechtigkeiten gegenüber Chines:innen. | |
Aus China ist er schon 2019 geflüchtet, zunächst nach Serbien. 2023 | |
startete er in Deutschland sein Asylverfahren, in der Hoffnung, hier mehr | |
Unterstützung für seinen Aktivismus zu finden. Aber von Unis, Parteien, | |
politischen Vereinen und Flüchtlingsberatungen habe er bisher im besten | |
Fall Absagen bekommen. „Wenn ich auf der Straße stehe, bekomme ich zwar | |
Zustimmung, sogar von 90 Prozent der Leute, würde ich sagen. Aber | |
mitmachen tut dann doch keiner.“ Seine Stimme klingt nicht vorwurfsvoll, | |
seine Worte schon. | |
Die Angst vor Konsequenzen | |
Nengda wirft ein, dass das für viele Chines:innen eine Frage der | |
Sicherheit sei. „Die meisten wollen nach China zurückreisen und haben dort | |
Familie.“ Auf die Frage, wie das mit seiner Familie ist, antwortet Qingmin | |
ausweichend. Sie hätten keine enge Beziehung und deshalb nichts zu | |
befürchten. Deshalb ist er auch als Einziger hier bereit, mit seinem echten | |
Namen in der Zeitung zu stehen. Seit dem Amtsantritt von Xi Jinping als | |
Generalsekretär der Kommunistischen Partei 2012 hat sich nicht nur die | |
[2][Zensur] von regierungskritischen Stimmen verstärkt, auch die | |
Sanktionen haben zugenommen. Das wissen alle Chines:innen ganz genau. | |
Der Unternehmensberater Zhiming tauscht sich trotzdem in einer Gruppe in | |
der chinesischen App WeChat mit rund 100 In- und Auslandschines:innen | |
kritisch über die chinesische Regierung aus. Sie bezeichnen sich selbst | |
satirisch als „wandelnde halbe Million“. Der Ausdruck basiert auf der | |
Vorgabe der Staatssicherheitsbehörde von 2017, die eine Belohnung von einer | |
halben Million Yuan – umgerechnet rund 63.000 Euro – für das Melden | |
„politischer Spione“ festgelegt hatte. | |
„Solche Witze traut man sich nur unter sehr engen Freunden“, sagt Zhiming. | |
Hat er keine Angst vor Konsequenzen? Schließlich schreibt die „Super-App“, | |
die Nachrichten, Zahlungsmittel und vieles mehr in sich vereint, offen in | |
die Datenschutzbestimmungen, „bei Bedarf“ alle Daten an chinesische | |
Behörden weiterzugeben. Zhiming*winkt ab: „Ich weiß gar nicht, wie oft | |
unsere Gruppe in den letzten 15 Jahren schon gesperrt wurde. Aber das ist | |
egal, dann eröffnen wir halt eine neue.“ | |
Unter dem Zynismus scheint eine Art matte Akzeptanz der Umstände zu liegen. | |
Für Zhiming trägt auch Hoffnungslosigkeit zu der Politikverdrossenheit bei. | |
„In Demokratien können Leute auf öffentlichen Veranstaltungen protestieren, | |
in China nicht“, sagt er. „Allen ist klar: Du kannst nichts ausrichten. Es | |
ist das Gefühl der Machtlosigkeit.“ | |
## Diskutieren, nicht verurteilen | |
Rui* hat selbst erlebt, was drohen kann, wenn man sich gegen dieses Gefühl | |
auflehnt. Der LGBTQ-Verein seiner Uni, in dem er tätig war, wurde verboten, | |
für seine kritische Berichterstattung über Coronamaßnahmen bekam er | |
Abmahnungen. Das war einer der Gründe, warum er nach Deutschland kam. Er | |
hat schon mehrere Veranstaltungen bei 706 Berlin initiiert. Dass | |
Chines:innen per se politisch desinteressiert sind, glaubt er nicht. „Es | |
fehlen eher entsprechende Plattformen“, meint er. | |
Vor der Bundestagswahl hat er eine Wahlsimulation organisiert. „Man konnte | |
sehen, wie interessiert die Leute waren, miteinander zu diskutieren.“ In | |
den hitzigen Social-Media-Debatten sehe man die individuellen Beweggründe | |
nicht. „Da ist es einfach, den Leuten ein Etikett überzukleben.“ Für Rui | |
ist das nicht nur zu einfach, sondern auch destruktiv. Auch vorschnelle | |
Beschimpfungen gegenüber AfD-Wähler:innen sieht er kritisch. | |
Eine Teilnehmerin nickt. Ihr Freund ist AfD-Wähler, hatte sie zuvor mit | |
zögernder Stimme mitgeteilt. Über politische Ansichten streiten sie oft, | |
ihre Beziehung zerstöre das nicht. „Wenn man sich die ganze Zeit | |
gegenseitig angreift, verstärkt das nur die gesellschaftliche Spaltung. Und | |
die echten Probleme, die alle interessieren – Miete, Lebensmittelpreise – | |
sind immer noch da.“ | |
Für Rui ist klar: Man muss sich echte Stimmen im echten Leben anhören. „Da | |
will sich niemand auf Leben und Tod zerfetzen. Die Leute können respektvoll | |
miteinander reden.“ Auch Fenglin findet die Feindseligkeit bei politischen | |
Debatten frustrierend. „Die echten Bedürfnisse werden nicht mehr gehört, | |
die aber eigentlich bei allen ähnlich sind, nach einem bezahlbaren Leben, | |
einem Zuhause, Sicherheit.“ | |
Nach dreieinhalb Stunden und vielen Tassen Tee ist die Veranstaltung | |
beendet. Der Raum ist geflutet vom Bedürfnis nach mehr Empathie und von der | |
Gleichzeitigkeit vieler Wahrheiten. Trotz der merkbaren Müdigkeit | |
diskutieren die Leute in Zweier- und Dreiergrüppchen weiter. Ideen für | |
nächste Veranstaltungen schwirren durch den Raum. Fenglin würde gerne etwas | |
zur chinesischen Identität machen. Bei 706 Berlin kann jede:r Projekte | |
initiieren. Die Lust, zu diskutieren, scheint groß. Ebenso die Bereitschaft | |
zum Zuhören. | |
*Name geändert | |
18 Mar 2025 | |
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Yi Ling Pan | |
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