# taz.de -- Familienratgeber auf Social Media: Scrollen, liken, erziehen | |
> Auf Instagram boomen Momfluencerinnen wie Nora Imlau mit | |
> Erziehungsratschlägen. Wann sind Tipps hilfreich – wann führen sie zu | |
> Perfektionswahn? | |
Bild: Der Account „kakaoschnuten“ zeigt auch den unperfekten Alltag mit Kin… | |
„Wie geht es Dir?“, steht auf einem Foto, das Nora Imlau auf ihrem | |
[1][Instagram Account] hochgeladen hat. „Entdecke die Energieampel“, ist in | |
der Beschreibung darunter zu lesen. „Eine einfache und kraftvolle Methode, | |
um dein [2][emotionales] Wohlbefinden zu checken – lerne, wie du deine | |
Ressourcen sinnvoll einsetzen kannst. [3][#Selbstfürsorge.]“ | |
Ein Beispiel für die Umsetzung wird gleich mitgeliefert. Stichwort | |
Brotdose. Steht die Ampel auf Rot? Dann bitte jemand anderen, das Frühstück | |
zu übernehmen. Orange? Brezeln vom Bäcker in der Papiertüte. Grün? | |
Ausgestochene Gurkenscheiben und Minipfannkuchen. 3.361 Likes hat der | |
Beitrag bekommen. | |
„So ein toller Input. Werde ich direkt einbauen <3“, schreibt die Nutzerin | |
„singletasking_mama“ in den Kommentaren. „Ich lebe größtenteils in Oran… | |
gibt „mutternatur“ zu. Und „milchquatsch.mit.miri“ teilt der Community … | |
dass sie heute Morgen schon in Rot aufgewacht sei. „Irgendwann hab ich ’ne | |
Stunde mit dem Kind zusammen geweint. Dann ging’s halbwegs.“ | |
Gut 150.000 Menschen folgen Nora Imlau auf Instagram, etwa 120.000 sind es | |
bei „mamiplatz“ und über 53.000 verfolgen, was auf dem Kanal | |
„kakaoschnuten“ passiert. Die drei [4][Influencerinnen] stehen für | |
unterschiedliche Familienaccounts auf Instagram. Da sind zum einen Leute | |
wie Nora Imlau, die Erziehungstipps geben und Wissen über | |
bindungsorientierte Erziehung teilen. | |
Dann gibt es Momfluencer wie Saskia Brecht, die ihre Community auf dem | |
Kanal „mamiplatz“ an ihrem Familienleben teilhaben lässt – und dabei auch | |
Produkte präsentiert. Erfolgreich sind außerdem Accounts wie | |
„kakaoschnuten“ von Katja Breuer, die den unperfekten Alltag mit ihren | |
Kindern zeigt, aber auch mal ein Video zu Mamagesundheit hochlädt. | |
## Wie kann ich Grenzen setzen? | |
Familienaccounts sind auch deshalb so erfolgreich, weil Eltern in sozialen | |
Medien Rat suchen. Sie wollen wissen, wie sie damit umgehen, wenn ihre | |
Kinder Wutausbrüche haben, rebellieren, starke Emotionen zeigen. Sie fragen | |
sich: Wie kann ich Grenzen setzen? Und dabei meine eigenen wahren? | |
Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff hatte Ende der Nullerjahre eine | |
simple Antwort: Kinder würden ihre Umwelt mit einem inakzeptablen Verhalten | |
terrorisieren, schrieb er in seinem Bestseller „Warum Kinder Tyrannen | |
werden“, und verteidigte diese These bei Lanz, Jauch, Will & Co. | |
Seit Mitte Februar muss sich Winterhoff wegen gefährlicher Körperverletzung | |
in 36 Fällen vor dem Bonner Landesgericht verantworten. Er soll Kinder in | |
unsachgemäßer Weise Neuroleptika und Parkinson-Medikamente verschrieben | |
haben – um sie, mit seinen Worten, „sozial ansprechbar“ zu machen. | |
Dass Winterhoff mit seinen autoritären Positionen medial so reüssieren | |
konnte, zeigt, dass wir in einer Welt leben, in der es ein Machtgefälle | |
zwischen Erwachsenen und Kindern gibt. In der Kinder vor allem dann | |
wertgeschätzt werden, wenn sie die Erwartungen Erwachsener erfüllen. Die | |
Frage, wie Kinder verantwortungsbewusst zu erziehen sind, treibt Eltern, | |
Pädagoginnen und Wissenschaftlerinnen auch heute noch um – und | |
Familien-Influencerinnen. | |
In der Ratgeberliteratur und im Netz kursieren inzwischen andere | |
Erziehungsmethoden: Die bedürfnisorientierte oder bindungsorientierte | |
Erziehung, bei der die Kinder und ihre Rechte, Bedürfnisse und Wünsche im | |
Mittelpunkt stehen. Doch auch hier gibt es Fallstricke. Mütter und Väter | |
stehen unter einem enormen Erwartungsdruck. | |
Über 500 Menschen verfolgen an einem Dienstagnachmittag im Dezember Imlaus | |
Zoom-Workshop „Bindung ohne Burnout“. 8 Euro kostet das Einzelticket, 12 | |
Euro für Paare. Heute wollen Eltern alles richtig machen, erklärt Imlau zu | |
Beginn. | |
Es werde suggeriert, dass sie immer perfekt funktionieren müssten: Ihre | |
Kinder liebevoll in den Schlaf begleiten, sie mit einer Morgenroutine | |
wecken, Wutanfälle gelassen begleiten, eine Wollwalkjacke aus Biofasern | |
kaufen, die Brotdose mit den richtigen Zutaten füllen. | |
## Ich bin eine von euch | |
Imlau sagt: „Es ist wichtig, dass wir im Alltag lernen, wo wir stehen und | |
wie es uns gerade geht.“ Das „wir“ signalisiert: Ich kenne die Situation. | |
Ich bin eine von euch. Es gebe heutzutage unzählige Vorstellungen von guter | |
Elternschaft, die in Podcasts und bei Familienfeiern verbreitet würden, | |
sagt Imlau später. Und da suche man auf Instagram & Co nach Orientierung. | |
Die Leute würden sie scherzhaft „die Erziehungspäpstin“ nennen, erzählt | |
Imlau und fügt hinzu: „Aber auch nur so halb scherzhaft, weil sie eine | |
Ikone für ihre Elternschaft suchen und bei mir landen. Und das ist eine | |
komplexe Rolle. Da gibt es natürlich Enttäuschungen. Es ist eine | |
wahnsinnige Verantwortung.“ | |
Auch Anna Meffert kennt Nora Imlau. Sie ist selbst Pädagogin, arbeitet an | |
einer Grundschule in Rheinland-Pfalz und hat eine zweijährige Tochter. | |
Warum sie Familienaccounts folgt? „Man hat das Gefühl, hautnah dabei zu | |
sein“, sagt sie der taz. | |
„Aber das bist du ja eigentlich nicht, weil immer nur gewisse Informationen | |
geteilt werden.“ Sie informiere sich auf Social Media über spezifische | |
Themen: Babyschlaf, Ernährung oder Langzeitstillen. Vor allem beim Stillen | |
habe sie von der Community profitiert: „Das empowert mich, in meiner | |
Umgebung habe ich bis auf eine einzige Freundin niemanden, die ihr Kind | |
länger stillt.“ | |
Sie findet es „total cool“, dass es Frauen gebe, die sich „dafür | |
starkmachen und auch wissenschaftlich erklären, was gut daran ist“. Wobei | |
man die wissenschaftliche Expertise immer genau prüfen müsse, denn | |
prinzipiell könne sich ja jeder auf Instagram zur Expertin erklären. Nach | |
einem langen Arbeitstag und anstrengender Care-Arbeit sei es entspannter, | |
noch durch ein paar Social-Media-Accounts zu scrollen, als Ratgeber zu | |
lesen. | |
In seiner Promotion „Warum Eltern Ratgeber lesen“ schreibt der Soziologe | |
Christian Zeller, dass es seit den 1960er Jahren einen regelrechten Boom an | |
Elternratgebern gab. Ein bedeutender Unterschied zu den Familienaccounts | |
auf Instagram: Die Autoren waren damals Psychologen und Kinderärzte, | |
Pädagogen und Neurowissenschaftler. Zwischen Experten als Ratgebern und | |
Laien als Ratsuchenden gab es eine deutliche Trennung. | |
Im Laufe der 1990er und 2000er Jahre sei es dann zu einem veränderten | |
Selbstverständnis der Erziehungsexperten gekommen, schreibt Zeller in | |
seiner soziologischen Studie. Ratgeber wurden nicht mehr „als starr | |
umzusetzendes Set von Erziehungsregeln“ verstanden. Erst recht nicht nach | |
dem Fall Winterhoff. Heute, so Zeller, würden Erziehungsratgeber vermehrt | |
auf die erzieherische Co-Produktion zwischen Experten und Laien setzen. | |
Auf Social Media passiert das vor allem über das Teilen persönlicher | |
Erfahrungen, an die Eltern anknüpfen können. Diese Personalisierung ist | |
auch Teil der Marketingstrategie. Die meisten Influencerinnen verdienen mit | |
ihren Accounts auch Geld. | |
## Bedürfnisorientierte Erziehung | |
Die Social-Media-Kanäle sind ihre Erwerbsarbeit, mitunter auch als | |
Vollzeitjob. Im Gegensatz zur frühen Ratgeberliteratur, die vor allem von | |
Männern geschrieben wurde, sind auf Instagram überwiegend Frauen unterwegs | |
– und erreichen viele Menschen. So wirbt Nora Imlau nicht nur für | |
bedürfnisorientierte Erziehung, sondern auch für kostenpflichtige | |
Onlineseminare. | |
Und Saskia Brecht von „mamiplatz“ bietet auf ihrem Instagram-Account nicht | |
nur Einblicke in ihr Leben als Mama, sie bietet auch Produkte an, die den | |
Familienalltag bereichern können. Die 34-Jährige wohnt in einer renovierten | |
Dorfschule im Münchner Umland. An der Wand des historischen Gebäudes hängen | |
Stringregale mit Kochbüchern von Yotam Ottolenghi, in einer Obstschale | |
liegen Äpfel. | |
Bis zu neun Stunden verbringe sie an manchen Tagen an ihrem Smartphone, | |
erzählt Brecht der taz. Gestern Abend habe sie im Bett noch einen Post für | |
den nächsten Tag vorbereitet, heute Morgen schon 20 Nachrichten auf | |
Instagram beantwortet, sagt sie, während Chihuahuahund Peppa an ihrer | |
Leopardenjeans kratzt. | |
In ihrem Account steckt viel Arbeit. Neben Brechts Schreibtisch stapeln | |
sich Werbeprodukte: eine Hundedecke, Collagenpulver, Augentropfen. Ob | |
sie alles bewerbe? Prinzipiell schon, sagt sie, wenn es sich sinnvoll mit | |
Familieninhalten verbinden lasse. Das sei aber auch eine große | |
Verantwortung: „Manche Familien nehmen ihr ganzes Geld in die Hand und | |
investieren es in ein Produkt oder einen Urlaub, den ich empfohlen habe.“ | |
Viele Familienaccounts zeigen ein klassisches Familienmodell – Mutter, | |
Vater, Kind(er). Aber auf Social Media gibt es auch Vielfalt. Eltern, die | |
neurodivergente Kinder haben, in Patchworkfamilien leben, alleinerziehend | |
sind oder Inhalte aus ihrem queeren Familienleben teilen. Besonders | |
beliebt: Mütter, die mit ihrer Unperfektheit kokettieren. Inzwischen | |
scheint es Teil des Erfolgskonzepts zu sein, sich selbst und seine | |
Mutterrolle nicht ganz ernst zu nehmen. | |
So wie Katja Breuer, die auf ihrem Kanal „kakaoschnuten“ Familienalltag mit | |
Elterntipps kombiniert. „Ich bin die Mutter, die ihre Kinder zocken lässt, | |
damit sie in Ruhe Schokolade in der Badewanne essen kann“ steht in einem | |
ihrer Posts. In dem dazugehörigen Video ist zu sehen, wie sie sich | |
genüsslich ein Stück Schokolade in den Mund schiebt und schelmisch in die | |
Kamera lächelt. | |
Auch solche Momfluencer trenden auf Instagram. Mütter, die ihre | |
vermeintlichen Schwächen öffentlich zur Schau stellen und damit den | |
Erwartungsdruck offenlegen, dem Eltern, insbesondere Mütter, täglich | |
ausgesetzt sind. | |
Breuers Bio auf Instagram klingt deshalb auch wie eine moderne Anleitung | |
zum Muttersein: „Irgendwo zwischen bedürfnisorientiert und Alltagswahnsinn. | |
Zwischen Achtsamkeit und gezücktem Mittelfinger.“ | |
19 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Milena Feldmann | |
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