# taz.de -- Citizen Science Projekt zur Hansezeit: Im Flow des Transkribierens | |
> Mit Handschriften aus der Hansezeit reisen Freiwillige in Lübeck in die | |
> Vergangenheit: „Citizen Science“ macht bislang ungenutzte Quellen | |
> zugänglich. | |
Bild: Lesenkönnen ist Voraussetzung für das Projekt: Rezess – eine Vereinba… | |
Lübeck taz | Es gibt diesen Moment, da treten aus dem Gewirr von Strichen | |
und schwungvollen Bögen plötzlich Worte hervor, und aus den Worten ein Satz | |
– wie bei einem Rätsel, das sich durch ein einziges Wort auflöst. Das Wort | |
heißt „ausgeschrieben“. Aber das weiß Felicitas Blanck zuerst nicht, denn | |
es verteilt sich über zwei Zeilen. | |
Das Wort steht in einem Protokoll des Lübecker Seegerichts von 1617. Sicher | |
hätte der Schreiber damals nicht gedacht, dass jemand 400 Jahre später | |
versuchen würde, seine mit Schnörkeln verschönerte Sauklaue zu entziffern. | |
Er wechselt recht geschmeidig zwischen Mittelhochdeutsch und Latein. Eine | |
verbindliche Rechtschreibung gab es noch nicht. Das hört sich dann so an: | |
„Lubeck ut supra, in Anwesenheit Jonas Schulzen vnd Heinrich Geesen, hierzu | |
insonderheit erforderten gezeugen quod attestor Ego Johannes Hesse.“ | |
Felicitas Blanck liest seit einigen Monaten in ihrer Freizeit Texte aus der | |
Zeit der Hanse, neben Gerichtsprotokollen auch Mitschriften der Hansetage, | |
die Konferenzen des internationalen Handelsnetzwerks. Zusammen mit 16 | |
anderen Freiwilligen sucht sie darin [1][Informationen über ein Schiff, das | |
im 17. Jahrhundert im Hafen von Lübeck gesunken ist]. | |
## 530 Seiten Gerichtsakten | |
Die ehrenamtlichen Forscher*innen sind vernetzt in dem „Citizen | |
Science“-Projekt „Hanse. Quellen. Lesen!“. Auf der Seite „Mitforschen.o… | |
[2][präsentieren sich 150 solcher aktuellen Projekte], 150 weitere sind | |
schon abgeschlossen. Die forschenden Bürger*innen entziffern alte | |
Handschriften oder beobachten Insekten, fotografieren Graffiti oder basteln | |
an nachhaltigen Verkehrskonzepten für ihre Stadt. | |
Viele Projekte brauchen die Mithilfe von Freiwilligen, weil sie sehr große | |
Datenmengen verarbeiten. Im Lübecker Projekt lesen sie zum Beispiel 530 | |
Seiten Gerichtsakten, ein Drittel davon ist schon transkribiert. Irgendwann | |
werden sie darin den Namen [3][des gesunkenen Schiffs] finden, dann geht | |
die Recherche in Archiv-Dokumenten weiter. | |
Die Transkriptionen sind nicht nur interessant für die [4][Forschung zum | |
Schiffswrack], sondern „sehr wertvoll auch für die Geschichte der Hanse“, | |
sagt Manuela Nitsch. Die Kulturpädagogin betreut das Projekt. Ihr | |
Arbeitgeber ist die [5][Forschungsstelle für die Geschichte der Hanse] und | |
des Ostseeraums (FGHO) im Europäischen Hansemuseum. Die Forschungsstelle | |
arbeitet für das Projekt mit dem städtischen Archiv und dem Bereich | |
Archäologie zusammen. | |
Die Transkripte füttern auch eine KI, die lernt, selber historische Texte | |
in moderne Schrift zu „übersetzen“. Die Kriterien dafür entwickeln die | |
Freiwilligen mit, denn einige von ihnen sind schon echte Expert*innen. | |
Historiker*innen wären damit Jahre lang beschäftigt und müssten sich | |
das Lesen der Schriften „auch erst aneignen“, sagt Nitsch. | |
Sie vernetzt und schult die Freiwilligen und bietet einmal in der Woche ein | |
Online-Meeting an, wo sie zum Beispiel Kniffe für die Arbeit mit einer | |
Transkriptions-Software lernen. Dann arbeiten sie in Kleingruppen gemeinsam | |
an Texten. | |
Hier trifft Felicitas Blanck auf Kristina Russ, die schon seit 2021 | |
Hansetexte übersetzt. Sie war in der Coronazeit gesundheitlich angeschlagen | |
und suchte ein Ehrenamt, bei dem sie von zuhause gleichzeitig mit anderen | |
zusammenarbeiten kann. „Zuerst habe ich für eine Zeile eine Stunde | |
gebraucht“, erzählt sie. Inzwischen übersetzt sie eine ganze Seite in | |
zwanzig Minuten. „Ich habe danach eine Fortbildung zur Transkription und | |
einen Lateinkurs gemacht. Inzwischen arbeite ich freiberuflich in diesem | |
Feld“, sagt sie. | |
Im Team sind mehrere pensionierte Ärzte, ein Forstwissenschaftler und an | |
Geschichte interessierte Nicht-Akademiker*innen. Ein Historiker der | |
Forschungsstelle hilft bei schwierigen Fragen und liest am Ende Korrektur. | |
Citizen Scientist Tim Burzlaff liebt es, mit den Texten in die | |
Vergangenheit einzutauchen. Gleichzeitig findet er „immer wieder Parallelen | |
zu heute, wenn es zum Beispiel um die Reisekosten bei [6][Hansetagen] | |
geht“. | |
Gabriele Sander aus Bonn ist Archivarin in Rente. Sie macht in dem Projekt | |
mit, weil es „für die Allgemeinheit Sinn macht“ – und für sie selbst. �… | |
war, als würde ich noch einmal Lesen lernen. Ich komme beim Transkribieren | |
in einen Flow, es ist eine Schatzsuche.“ Neulich haben Kristina Russ und | |
ihre Kolleg*innen einen solchen Schatz gefunden. Ein Teilnehmer der | |
Hansetage empfahl ein neues „Büchlein“, das gerade erschienen war. Sein | |
Autor sei ein gewisser „Dr. Luther“. | |
30 Apr 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Schiffsfund-in-der-Trave/!5959500 | |
[2] https://www.mitforschen.org | |
[3] /Schiffsfund-in-der-Trave/!5959500 | |
[4] /!6003950&s=grabitz&SuchRahmen=Print/%20 | |
[5] /Forschung-zur-Geschichte-der-Hanse/!5875342 | |
[6] /Forscherin-ueber-die-Hanse/!5901212 | |
## AUTOREN | |
Friederike Grabitz | |
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