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# taz.de -- Flüchtlingshelfer über Zuwanderung: „Im Grundgesetz steht, dass…
> Wie Integration gelingen kann und was wir von Zuwanderern erwarten
> können. Andreas Tölke erklärt es. Er kämpft für ein weltoffenes
> Deutschland.
Bild: 2015 hat Andreas Tölke syrischen Flüchtlingen seine Wohnung überlassen…
taz: Herr Tölke, könnte die liberale Demokratie in Deutschland am Thema
Migration zerbrechen?
Andreas Tölke: Das muss nicht passieren. Wir als Demokraten müssen aber aus
der Schockstarre über den rechten Rand hinauskommen. Wir sind deutlich in
der Mehrheit, die AfD treibt uns vor sich her und bestimmt den Diskurs. Die
freie Gesellschaft darf sich nicht von Rechtsextremen treiben lassen.
taz: Was heißt das konkret?
Tölke: Wenn Onkel Heinz auf der Familienfeier gegen Ausländer hetzt, muss
Onkel Heinz eben gehen – nicht der, der widerspricht. Kurz gesagt: Wir
dürfen den Rechten auf keinen Fall Räume preisgeben, nicht die analogen und
schon gar nicht die digitalen.
taz: Sie klingen optimistischer als so mancher, der den Untergang der
Demokratie kommen sah, als die AfD für den Antrag der CDU/CSU im Bundestag
stimmte.
Tölke: Das Allergefährlichste ist, sich auseinanderdividieren zu lassen –
es muss der Konsens betont werden und ein klares Bekenntnis zur Demokratie
geben, auch von Herrn Merz. So ein Bekenntnis schließt die AfD
grundsätzlich aus. Folgt man der Hufeisentheorie, haben ganz links, ganz
rechts und religiöse Fanatiker einen Konsens: Menschen in „nutzlos“ und
„nützlich“ zu kategorisieren.
taz: Sie haben Ihr Leben [1][seit 2015 der Unterstützung von
Zuwander:innen aller Couleur gewidmet]. Warum bewegt Sie das Thema so
sehr, dass Sie ihr Leben danach ausrichten?
Tölke: Weil man keine Kontrolle darüber hat, wo man geboren wird. Ich habe
mir doch nicht ausgesucht, Deutscher zu sein. Ich hatte einfach Glück beim
Sperma-Bingo – dass ich hier geboren bin und nirgendwo anders. Soll ich
mich durch meine Nationalität ermächtigt fühlen, andere danach zu
beurteilen, ob sie wertvoll oder wertlos sind? Das ist doch bizarr.
taz: Was entgegnen Sie dem rassistischen Kampfspruch „Ausländer raus“ von
AfD-Anhänger:innen und bestimmten Sylt-Tourist:innen?
Tölke: Miteinander. Eine diverse Gesellschaft ist eine gerechtere
Gesellschaft. Ich glaube an die Kraft von Vielfalt. Es ist genau diese
Kraft, die wir dem Destruktiven und Spalterischen der AfD entgegensetzen
müssen. Diese „Sekte“ hetzt pauschal gegen Zuwanderung, obwohl sie weiß,
wie wichtig diese für Deutschland ist. Ohne Migration und Integration gäbe
es den Wohlstand nicht, den wir in Deutschland haben.
taz: Sie sagen, Migration macht Deutschland reicher. Es gibt Linke, die das
als Verwertungslogik skandalisieren.
Tölke: Ich finde die wunderbaren Visionen einiger Linker entzückend. Man
kann träumen von einem Übermorgen, in dem wir ohne jede soziale Not absolut
friedlich und egalitär zusammenleben. Aber das ist nicht der Status quo. Es
müssen Gesellschaften überzeugt werden, nicht Plena. Das heißt, man muss
auch ökonomische Argumente verwenden, um für Migration zu werben. Ich würde
einen fröhlich pragmatischen Weg vorschlagen.
taz: Wenn Deutschland so stark auf Migration angewiesen ist, warum erleben
wir dann einen Schwenk auch liberaler und linker Parteien hin zu einer
restriktiveren Asylpolitik?
Tölke: Weil es in den letzten Jahrzehnten keiner Partei gelungen ist,
Lösungen dafür zu finden, wie Menschen legal nach Deutschland einreisen und
dann sozial und ökonomisch integriert hier leben können.
taz: Aber es gibt doch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und auch andere
legale Einreisemöglichkeiten.
Tölke: Ja, aber dieses Gesetz ist ein Paradoxon. Unter dem
Fachkräfteeinwanderungsgesetz holen wir Leute bewusst auf unseren und ihren
Wunsch ins Land – selbst dann müssen sie mit zum Teil grotesken
bürokratischen Hürden kämpfen. Das Gesetz ist zugleich eine Schimäre. Es
tut so, als ob es funktioniert. Doch das tut es nicht. Weder für die, die
damit nach Deutschland gelockt werden, noch für die, die mit einem
Aufenthaltsstatus schon hier sind.
taz: Und wie löst man dieses Problem?
Tölke: Wir müssen zunächst verhindern, dass die Gesellschaft
auseinanderreißt. Anstatt ein Narrativ aufzubauen, das den Gewinn von
Zuwanderung betont, wird überproportional betont, was dysfunktional ist,
was uns von „denen“ trennt. Ein größerer sozialer Friede führt dazu, dass
Extremismus sich auf natürliche Art und Weise beschränkt. Da müssen wir
hin.
taz: Es gibt eine Reihe erschütternder Gewalttaten, teils begangen von
ausreisepflichtigen Asylbewerber:innen. Ist es nicht verständlich, dass
viele eine Reaktion darauf verlangen?
Tölke: Ich würde einen Schritt zurückgehen und fragen, warum das
Entscheidende die Herkunft des Täters ist und nicht die Tat. Wieder die
Sichtweise, dass uns Migration bedroht. Aber wir leben in einem
Rechtsstaat. Recht, das für jeden gilt, der sich in Deutschland aufhält.
Straftaten müssen verfolgt werden. Wir haben es bei abgeschobenen
afghanischen Straftätern gesehen: In ihrer Heimat sind sie Helden. Doch
kein Opfer einer Straftat will, dass der Täter unbehelligt davonkommt.
taz: Sie sagen also, dass es Menschen gibt, die abgeschoben werden müssen?
Tölke: Ja, es gibt gerechtfertigte Abschiebungen. Manche von denen, die
hierherkommen, verwirken ihr Recht, hier zu bleiben. Auch das gehört zum
Rechtsstaat.
taz: Was behindert Integration am meisten?
Tölke: Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen, die hier sind, möglichst
zügig in Arbeit und Ausbildung und universitäre Kontexte gebracht werden.
Das müssten sich viel mehr Menschen klarmachen, die in ihren Blasen
unterwegs sind und die Verantwortung auf Politik, Bürokratie oder Medien
abwälzen. Tatsache ist: Wir schieben gut integrierte Leute nachts um halb
drei aus ihren Wohnungen ab, die eigentlich Bleiberecht hätten.
Gleichzeitig schaffen wir es nicht, identifizierte Gefährder dingfest zu
machen.
taz: Wie finden Sie das?
Tölke: Mechanisierte Abschiebungen jenseits einer Rechtsgrundlage machen
mich wütend. Das ist alles destruktiv und fußt auf einer nationalistischen
Auffassung. Es wird immer mehr unterschieden zwischen Menschen, die nutzlos
sind, und solchen, die nützlich sind. Im Grundgesetz steht aber klipp und
klar, dass alle Menschen gleich sind. Wenn wir Fremde nur unter einer
Nutzenperspektive einschätzen, sind wir auf dem Weg in einen Bereich der
deutschen Geschichte, den wir bitte nie wieder betreten.
taz: Sie halten also eine zu harte Migrationspolitik für nicht vereinbar
mit den Werten des Grundgesetzes?
Tölke: Sie ist aus allen möglichen Gründen nicht zielführend. Weder für die
Alterspyramide noch für den sozialen Frieden. Wir müssen uns darauf
konzentrieren, wie wir Migration wirklich sinnvoll organisieren können.
Fragen Sie doch mal die Bubble in Prenzlauer Berg, wie viele Freundinnen
sie haben, die muslimisch oder jüdisch sind; wie viele Freunde sie haben,
die eine andere Hautfarbe haben.
taz: Worauf wollen Sie hinaus?
Tölke: Wir haben es mit einem strukturellen Rassismus quer durch die
Gesellschaft zu tun. Bei dem zum Beispiel die Elite einen schwarzen
Menschen bei einer Vernissage feiert – denn man ist ja so liberal. Derselbe
Mensch wird aber an der nächsten Bushaltestelle angepöbelt – weil er
„schwarz“ ist.
taz: Von welcher Elite sprechen Sie und was werfen Sie ihr vor?
Tölke: Das sind Leute, denen bewusst ist, dass es einen menschengemachten
Klimawandel gibt und dass wir Probleme mit der Wirtschaft und Zuwanderung
haben. Als Reaktion auf die herausfordernde Wirklichkeit ziehen sich diese
Leute zurück und igeln sich ein. Sie packen nicht an, sondern holen die
Klangschalen raus, machen Yoga und suchen nach mentaler Erfüllung – während
draußen Verteilungskämpfe stattfinden. Der Rückzug ins Private ändert
nichts. Demokratie ist Mit-Gestaltung. Die Opferrolle können wir getrost
der AfD überlassen.
taz: Welche Rolle spielt dabei, ob sich Deutschland als Einwanderungsland
versteht – oder eben nicht?
Tölke: Eine große! Dass wir ein Einwanderungsland sind, ist noch lange
nicht von allen verinnerlicht. Obwohl allein ein Blick auf die
Bevölkerungsstruktur hilfreich wäre. Den Menschen ist oft nicht klar genug,
wie sehr Deutschland von Migration profitiert hat – und wie sehr es auch
weiterhin darauf angewiesen ist.
taz: Wir haben über deutsche Verfehlungen beim Thema Migration gesprochen.
Gibt es auch Verhaltensweisen von Zugewanderten, die das Ankommen
erschweren?
Tölke: Natürlich gibt es das. Wir haben es oft bei jungen Männern, die zum
Beispiel die Klamotten einer Frau grenzwertig finden, um es vorsichtig
auszudrücken. Man kann von einem Straßenjungen aus Kabul nicht erwarten,
dass er sofort versteht, was Geschlechtergerechtigkeit und gleiche Rechte
für Frauen sind. Es geht darum, unsere zentralen Parameter zu vermitteln.
Was ist die demokratische Grundordnung und was ein friedliches Miteinander?
Und es muss betont werden: Die Freiheit, die du hier hast, ist genau die
Freiheit, die du allen anderen zugestehen musst. Das muss jemand nicht
sofort verstehen, aber sofort so respektieren. Wenn wir diese Art von
Verfassungspatriotismus nicht hinbekommen, funktioniert es nicht.
26 Feb 2025
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## AUTOREN
Robert Saar
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