# taz.de -- Kontaktabbruch zur Familie: Wenn Eltern verkacken | |
> Auf Social Media berichten immer mehr junge Menschen über ihren totalen | |
> Kontaktabbruch zu den Eltern. Ist der Schritt heilsam oder eine | |
> Sackgasse? | |
Bild: Es sind vor allem Töchter, die offen über ihren Kontaktabbruch zu ihren… | |
Wer Terry trifft, könnte denken, dieses Gesicht müsse im Duden neben dem | |
Begriff „Selbstbewusstsein“ abgedruckt sein. Wache Augen, die freundlich, | |
aber bestimmt den Kontakt zum Gegenüber halten, lautes Lachen und Worte | |
sprudeln nur so aus dem Mund, ohne Zögern und Stottern. | |
Wer denkt, das bedeute, dass es in diesem Leben keinen Struggle gegeben | |
hätte, irrt sich. Mit 34 Jahren hat Terry inzwischen drei Therapien hinter | |
sich und es brauchte viel innere Arbeit, um an den Punkt zu gelangen, an | |
dem Terry heute ist: ganz gut okay mit sich und der Welt zu sein. Warum das | |
alles so schwer war, hatte vor allem mit der Beziehung zum Vater zu tun. | |
Heute hat Terry keinerlei Kontakt mehr zu ihm. | |
„Die Beziehung zu meinem Vater war jahrelang in einer Art On-off-Zustand, | |
bis ich vor fünf Jahren zum allerletzten Mal Kontakt mit ihm hatte.“ Bis | |
Terry etwa 13 Jahre alt war, sei Papa der große Held gewesen. Sehr | |
charismatisch, gut aussehend, es hatte Wirkung, wenn er einen Raum betrat.“ | |
Wenn Terry über dieses Früher spricht, liegt keine Bitterkeit in der | |
Stimme. | |
„Meine Kindheit war schön, bis er irgendwann angefangen hat, im Zuge seiner | |
sportlichen Hobbys Steroide zu nehmen. Er wurde hart gewalttätig. Meist | |
meiner Mutter gegenüber, aber irgendwann auch einmal mir gegenüber. Darüber | |
hinaus ging er immer fremd. Nachts kam es öfters zu Verfolgungsjagden | |
zwischen meiner Mutter, mir im Gepäck, und ihm. Da haben sich Szenen | |
abgespielt wie im Film. Drama ohne Ende.“ | |
Während die vermeintliche Stärke und das Selbstbewusstsein des Vaters als | |
Kind noch Sicherheit und Vertrauen in Terry auslösten, begann sich der | |
Schleier der Verklärung mit der Pubertät zu lüften. „Mein Vater log bei | |
allem, selbst wenn die Wahrheit unleugbar war. Als Kind checkt man das | |
natürlich nicht. Mein Vater war jemand, der per se dachte, dass der Mann | |
das Sagen im Haus hat. Frauen können zwar eine Meinung haben, aber | |
eigentlich weiß er eh alles besser. Mein Vater war ein extremer Narzisst, | |
der nur an sich dachte. Ich konnte ihm nicht mehr vertrauen.“ | |
Mit 15 zog Terry von zu Hause aus, brach den Kontakt zum Vater ab. Die | |
Mutter blieb bei dem Mann, der sie misshandelte, körperlich wie emotional. | |
## Tausende Erlebnisberichte auf Social Media | |
„Going no contact“ ist ein Phänomen, das online seit einiger Zeit auffäll… | |
oft besprochen wird. Man findet Tausende Erlebnisberichte, auch in | |
Videoform auf [1][Tiktok], [2][Youtube] und [3][Instagram]. Für das eigene | |
Wohl harte Grenzen gegenüber den Eltern zu ziehen, auch wenn es in der | |
radikalsten Konsequenz bedeutet, einen totalen Kontaktabbruch zu ihnen | |
vorzunehmen, scheint normal geworden zu sein. | |
Es gibt allerdings wenig wissenschaftliche Daten darüber, ob totale | |
Kontaktabbrüche zwischen Kindern und Eltern heute häufiger stattfinden als | |
früher. Ein Bericht des [4][New Yorker] legt dies anhand anekdotischer | |
Beweise nahe. Es gibt aber auch Stimmen, die meinen, die jüngeren | |
Generationen gingen einfach nur transparenter mit ihren Erfahrungen um. Ob | |
junge Menschen nun häufiger mit ihren Eltern „Schluss machen“ als früher | |
oder nicht – es stellt sich die Frage, ob „Going no contact“ ein wichtiges | |
Werkzeug zur Heilung seelischer Wunden ist oder vielmehr eine Besorgnis | |
erregende Veränderung in unseren Familienbeziehungen. | |
## Sehnsucht nach Verbindung | |
„In unserer Natur als Menschen tragen wir alle die Sehnsucht in uns, mit | |
anderen Menschen, vor allem unserer Familie, guten Kontakt zu haben, uns | |
mit ihnen verbunden zu fühlen,“ erzählt Michael Kuhn, psychologischer | |
Psychotherapeut in Berlin-Kreuzberg. Er arbeitet häufig mit Menschen | |
zusammen, die problematische Beziehungen zu einem oder beiden Elternteilen | |
aufarbeiten wollen. | |
Kuhn erstellt unter anderem Gutachten, die benötigt werden, wenn eine | |
Person ihren Nachnamen ändern möchte, meist aufgrund problematischer | |
Beziehungen zu der Person, der sie diesen Namen verdanken. „Wenn wir | |
bewusst diese Verbindung kappen, gibt es meist gute Gründe dafür“, sagt | |
Kuhn. | |
Aber kann ein Konflikt gelöst werden, indem man den Kontakt abbricht? „Wenn | |
ein Kind den Kontakt zu seinen Eltern abbricht, dann ist das immer ein | |
Versuch des Kindes, sich zu retten. Wenn die Eltern bereit sind, sich | |
infrage zu stellen und ihre Position in dem Konflikt zu hinterfragen, dann | |
kann es eine Lösung geben“, so der Psychotherapeut. | |
## „Nicht Ihre Aufgabe“ | |
Als Terrys erste Therapeutin diese Möglichkeit in den Raum stellte, | |
reagierte Terry ablehnend. „Was denkt die, was sie da sagt, dachte ich mir. | |
Was soll das für ein Rat sein? Ich bin doch hier, um rauszufinden, wie ich | |
diese Beziehung richten kann, nicht wie ich sie beende!“ Doch dann habe die | |
Therapeutin einen Satz gesagt, der Terry innehalten ließ: „Sie versuchen | |
seit 15 Jahren, die Beziehung zu Ihrem Vater zu kitten. Das ist aber nicht | |
Ihre Aufgabe. Sie schaffen das auch nicht, wenn Sie die einzige Person | |
sind, die was dafür tut.“ | |
Irgendwann, Jahre später, begann Terry eine neue Therapie. Als auch diese | |
den Punkt erreichte, an dem der Therapeut vorsichtig zu verstehen gab, ein | |
Kontaktabbruch könne sinnvoll sein, begann sich eine Erkenntnis in Terrys | |
Kopf herauszukristallisieren: „Ich muss das für mich machen, um nicht noch | |
mehr Energie, Nerven, Tränen und Geld für die Therapie zu verlieren, als | |
ich es eh schon habe. Das muss aufhören!“ | |
Und es hörte auf. Dadurch wurde vieles besser. Terry ist eine Person, die | |
weiß, wer sie ist und vielleicht genauso wichtig: wer nicht. „Natürlich | |
habe ich immer noch meine Kopfficks, aber die sind heute ganz andere, als | |
damals, als ich noch Kontakt zu ihm hatte und mich die ganze Zeit ärgern | |
musste, welche Kommentare oder Lügen wohl als Nächstes um die Ecken | |
kommen.“ Trotzdem überkommt Terry manchmal plötzlich eine Traurigkeit | |
darüber, dass es so sein muss, wie es ist. „Weihnachten war richtig schlimm | |
dieses Jahr. Da hat’s mich mal wieder richtig getroffen, wie allein sich | |
diese Erfahrung manchmal anfühlt. Aber grundsätzlich geht’s mir viel besser | |
damit, wie es ist. Ohne ihn.“ | |
Dass es uns so schwerfalle, gewisse Wahrheiten über unsere Eltern zu | |
akzeptieren und daraus Konsequenzen zu ziehen, hänge unter anderem mit | |
Scham zusammen, sagt Michael Kuhn. „In uns ist eine tiefe Dankbarkeit | |
gegenüber unseren Eltern verankert. Wir können nicht anders, als sie zu | |
lieben. Dennoch werfen emotional unreife Eltern jenen Kindern, die Grenzen | |
ziehen, oft vor, undankbar zu sein. Allein der Status des Kindes | |
verpflichtet in ihren Augen zu Gehorsam, zu Unterwerfung.“ | |
Diese Eltern würden jedoch etwas übersehen, meint Kuhn. Wer alles auf die | |
vermeintliche Undankbarkeit des Kindes schiebe, wolle gewisse Dinge im | |
eigenen Verhalten nicht sehen und richte damit schlussendlich noch mehr | |
Zerstörung an. „Die Kinder denken sich dann: Aber das stimmt doch nicht! | |
Ich bin dankbar! Aber ich akzeptiere dieses und jenes Verhalten nicht. Der | |
Kern des Dilemmas solcher Eltern-Kind-Beziehungen ist: Wir lieben unsere | |
Eltern. Aber wir hassen das Verhalten“, so Kuhn. Die Macht, das zu ändern, | |
hätten Kinder leider nicht. Das könnten nur die Eltern. | |
Auch Terry ist im Laufe der Jahre immer wieder auf Unverständnis gestoßen, | |
wenn der Kontaktabbruch zum Vater Thema wurde. „Die haben große Augen | |
gemacht und dann folgte meistens ein Satz wie: 'Häää, das ist doch dein | |
Vater! Der meint das nicht so!“ oder „Ja, aber damit muss man halt lernen | |
zu leben. Das ist eine andere Generation.“ Terry erzählt das lachend und | |
schüttelt den Kopf. „Aber der ist doch nicht 120 Jahre alt! Man kann immer | |
versuchen, kein Arschloch mehr zu sein. Eltern tragen die Verantwortung | |
dafür, kein Arschloch zu sein. Und wenn man eins ist, kann man nicht | |
erwarten, dass dein Kind einfach okay damit ist.“ | |
## Nicht ohne charakterlichen Relaunch | |
Auf die Frage, ob es eine Möglichkeit gäbe, wieder Kontakt zum Vater, dem | |
einstigen Kindheitshelden, zulassen zu können, antwortet Terry nach kurzem | |
Innehalten und Schmunzeln: „Da müsste schon ein krasser charakterlicher | |
Relaunch her!“ Und fährt wieder ernster fort: „Er ist der Archetyp eines | |
Mannes, den ich komplett ablehne, angefangen bei seinen politischen | |
Ansichten bis hin zu seinen gelebten Werten. Er war gewalttätig, er ist ein | |
heftiger Lügner, ohne Empathie für den Schmerz anderer. Ich weiß nicht, wie | |
wir an einen Punkt kommen sollten, wo ich das alles irgendwie okay finden | |
könnte, nur weil er mein Vater ist.“ | |
Auch wenn es keine verlässlichen wissenschaftlichen Daten gibt, lässt sich | |
eines beim Thema „Going no contact“ feststellen: Es sind vor allem Töchter, | |
die öffentlich über ihre Erfahrungen sprechen und meistens einen | |
Kontaktabbruch zum Vater vorgenommen haben. Ein [5][viel verbreiteter Post] | |
dazu lautet folgendermaßen: „Ich glaube, Väter verlieren ein wenig den | |
Verstand, wenn ihnen klar wird, dass ihre Töchter ihnen nicht alles so | |
leicht verzeihen wie ihre Ehefrauen.“ | |
24 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.tiktok.com/@marcelas_soulspace/video/7368079571196939552?q=goin… | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=3_u-Njg1zYA&t=3s | |
[3] https://www.instagram.com/p/CpnJBFjDonN/ | |
[4] https://www.newyorker.com/culture/annals-of-inquiry/why-so-many-people-are-… | |
[5] https://www.tiktok.com/discover/fathers-lose-their-mind-a-little-bit-when-t… | |
## AUTOREN | |
Nina Sternburg | |
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