# taz.de -- Berlinale-Rückblick: Verleugnung der Gegenwart | |
> Promis auf der Berlinale erinnern an David Cunio. Der israelische | |
> Schauspieler befindet sich immer noch in der Geiselhaft der Hamas. | |
Bild: Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal, Christian Berkel, Andrea Sawatzki… | |
Berlin taz | Schneefall im Blitzlichtgewitter. Vor der Eröffnungsgala der | |
75. Berlinale lief alles zunächst wie ein vertrauter Film ab. Weltstars | |
stiegen aus Elektroautos und winkten jubelnden Zaungästen zu. Aufrufe zum | |
Klimaschutz und gegen Kultureinsparungen prangten auf Transparenten und | |
T-Shirts. Doch dann ein Bruch mit dem Drehbuch. | |
Auf dem roten Teppich posierten einige Promis mit Plakaten, die des | |
israelischen Schauspielers David Cunio gedachten. Bereits 2013 war Cunios | |
preisgekrönter Debütfilm „Youth“ auf der Berlinale aufgeführt worden. Se… | |
dem 7. Oktober 2023 jedoch befindet sich der nun 34-Jährige in der | |
Geiselhaft der Hamas. Letztes Jahr, als die Berlinale auf Tuchfühlung mit | |
Kufijas ging, hat das Festival ihn sogar totgeschwiegen. | |
Zu denjenigen, die Donnerstagabend an Cunio erinnerten, zählten die | |
Produzentin Alice Brauner, die Regisseur:innen [1][Julia von Heinz] und | |
Markus Imboden, das Filmpaar Christian Berkel und Andrea Sawatzki, ihre | |
Schauspielkolleg:innen Ulrich Matthes, Martina Gedeck und Marie-Lou | |
Sellem sowie die Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal. Auch die | |
Amerikanerin Tricia Tuttle, als neue Intendantin der Berlinale, ließ sich | |
mit ihnen ablichten. | |
Das Festival präsentiert nunmehr sogar [2][die sehenswerte Dokumentation | |
„Michtav Le’David]“ als „filmischen Brief“ an Cunio. Aber so weit das | |
Positive. Wer auf mehr Selbstreflexion seitens der Berlinale hofft, was das | |
Leid und die Ängste jüdischer Menschen betrifft, wird arg enttäuscht. Denn | |
die Festivalleitung distanziert sich mit aller Deutlichkeit von der | |
Antisemitismusresolution des Bundestags. | |
## Eingriff in die Kunst- und Meinungsfreiheit? | |
Der mit breiter Mehrheit verabschiedete Parlamentsbeschluss ist zwar | |
rechtlich nicht bindend und ohne eigene Strafandrohung. Aber trotzdem wähnt | |
die Berlinale hier einen Eingriff in die Kunst- und Meinungsfreiheit. | |
Daher habe das Dokument „keinen Einfluss auf die Durchführung der | |
Berlinale“, heißt es geradezu abweisend. Unmittelbar vor der | |
Bundestagswahl, und zwar angesichts alarmierend zunehmender | |
judenfeindlicher Übergriffe von links wie von rechts, beweist die Berlinale | |
mit ihrer Sturheit einen erschreckenden Mangel an Sensibilität. | |
So wundert es nicht, dass ausgerechnet Tilda Swinton vor wenigen Tagen mit | |
dem Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde. Denn die | |
renommierte Schottin [3][bekennt sich wörtlich als „große Bewunderin von | |
BDS“.] Ebenjene Bewegung, die zu Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen | |
gegen Israel aufruft, wird von der Hamas gelobt, vom Bundestag als | |
antisemitisch eingestuft und vom Verfassungsschutz als extremistischer | |
Verdachtsfall beobachtet. | |
Die Ehrung von Swinton in einem Land, in dem „Kauft nicht bei den Juden“ | |
noch nachhallt, sagt sehr viel über den Zustand der Erinnerungskultur aus. | |
## Wo liegt die Grenze? | |
Natürlich obliegt es Filmfestivals, kontroverse Diskussionen anzustoßen. | |
Aber wo liegt die Grenze? Man denke an Vanessa Redgrave, die 1978 während | |
ihrer Dankesrede bei den Oscars über Zionist hoodlums geiferte. Immerhin | |
lässt mich Tricia Tuttles Entscheidung nicht kalt. Jahrelang arbeitete ich | |
als freie Übersetzerin für die Berlinale (Presseabteilung und Sektion | |
Generation). | |
Noch 2022 übersetzte ich im Auftrage des Festivals stolz die IfZ-Studie | |
über [4][die NS-Verbindungen des ersten Festivalleiters Alfred Bauer | |
(1911–1986).] Die lange vernachlässigte Offenlegung war notwendig. Aber man | |
darf die Augen vor der Gegenwart ebenfalls nicht verschließen. | |
David Cunio und zahlreiche andere Geiseln werden von der Hamas weiterhin in | |
Gaza festgehalten, während Juden in Deutschland teils in selbst aufgelegter | |
Schutzhaft leben. Gegenwartsleugnung ist auch eine Art der | |
Geschichtsvergessenheit. | |
18 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Film-Treasure-ueber-Erinnerungspolitik/!6035950 | |
[2] /Tom-Shovals-A-Letter-to-David/!6066603 | |
[3] /75-Berlinale-Was-bisher-geschah/!6066602 | |
[4] /Erster-Leiter-der-Filmfestspiele/!5892776 | |
## AUTOREN | |
Michaela Dudley | |
## TAGS | |
BDS-Movement | |
Antisemitismus | |
Meinungsfreiheit | |
Kunstfreiheit | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Schwerpunkt Berlinale | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Tom Shovals „A Letter to David“: Eine Person geteilt in zwei | |
Beeindruckend erzählt Tom Shoval von einer Geisel der Hamas, dem | |
Hauptdarsteller in einem früheren Spielfilm des Regisseurs, ein Berlinale | |
Special. | |
75. Berlinale: Was bisher geschah: Sinn für Parapsychologie | |
Glamour im grauen Winter: Die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle setzte | |
bei der Eröffnung des Filmfestivals auf Unterhaltung statt auf Politisches. | |
Goldene Ehre für Tilda Swinton: Suche nach dem Immerneuen | |
Der Ehrenbär der Berlinale geht dieses Jahr an die Schauspielerin Tilda | |
Swinton. Sie kann sich Rollen ebenso aneignen wie in ihnen verschwinden. |