# taz.de -- Die Wahrheit: Pfefferminzgesänge | |
> Vor dem Stammlokal tauchen plötzlich singende und tanzende junge Frauen | |
> auf und wollen nicht unbedingt Bier trinken mit der Thekenbesatzung. | |
Raimund und Theo standen auf Zehenspitzen vor dem winzigen Fenster, das | |
sich neben der Theke des Café Gum befand, und lugten hinaus. „Also, nach | |
Biertrinkern sehen die nicht aus“, sagte Theo. Raimund fixierte ihn | |
finster. „Als ob du das jemandem ansehen könntest!“, fauchte er: „Immerh… | |
werden es immer mehr. Und alle haben Smartphones vor der Nase.“ Theo pfiff | |
durch die Zähne. „Spitzenmäßiges Argument, Alter!“, spottete er: „Junge | |
Menschen, die in Smartphones starren – das hat sicher was zu bedeuten.“ | |
Raimund machte eine wegwerfende Handbewegung. Er hatte vor Jahren während | |
der einsamen Abende im Corona-Lockdown einen Sonettenkranz aufs Biertrinken | |
und das Café Gum geschrieben und suchte seitdem vergeblich nach einem | |
Verlag. Jetzt hatte er die Gedichte in einem verschrobenen Lyrikportal | |
veröffentlicht, und weil er selbst nicht den geringsten Zweifel an der | |
epochalen Meisterlichkeit seiner Werke hegte, fand er, dass es nur eine | |
einzige vernünftige Erklärung für die Traube von jungen Menschen gab, die | |
sich draußen vorm Gum versammelte und immer weiter wuchs. | |
„Was ist das denn?!“, sagte Theo. Er zeigte auf die dünnen, schief | |
zusammengenähten Kladden, die Raimund auf der Theke ausbreitete. | |
„Nummerierte Liebhaberexemplare. Vom Autor handgebunden und auf Wunsch | |
signiert“, erwiderte Raimund und zog einen nagelneuen Füllfederhalter | |
hervor. | |
„Ich fass es nicht“, flüsterte Theo. Er schüttelte langsam den Kopf und | |
riss plötzlich die Augen auf, als Petris, der Gumwirt, einige eisgekühlte | |
Büchsen auf die Theke stellte. „Bier mit Pfefferminzgeschmack!?“, stotterte | |
Theo. Petris nickte. „Hab ich vom Vertreter. Er sagt, das wird der neue | |
Kult bei jungen Leuten.“ Theo blickte fassungslos von den Büchsen zu den | |
Kladden und zurück. Es kam immer schlimmer. Die Welt war offenbar irre | |
geworden. | |
Raimund hob den Finger an die Lippen. „Hört mal“, flüsterte er. Alle | |
spitzten die Ohren. „Sie singen!“ Theo stellte sich wieder auf die | |
Zehenspitzen und linste durch das Fenster. „Sie tanzen“, sagte er. Dann | |
kreischte er: „Sie kommen!“ | |
Die Tür flog auf, und eine Woge von singenden, tanzenden jungen Menschen | |
schwappte herein. „Hilfe!“, japste Theo, dem allerdings gar nichts geschah. | |
Ein blondes Mädchen drehte ihn einmal um die eigene Achse und knotete ihm | |
ein Freundschaftsband ums Handgelenk. | |
„Das sind keine Lyrikleser, das sind Swifties!“, stöhnte Raimund | |
enttäuscht. Auch ihm wurde ein geflochtenes Freundschaftsband umgebunden, | |
die meisten von den Dingern aber kriegte Petris geschenkt: Wieder und | |
wieder wurden Selfies mit ihm und seiner Theke gemacht, doch leider fand | |
niemand nicht heraus, warum die Taylor-Swift-Fans ihn so sehr liebten, denn | |
immer, wenn jemand nach einer Erklärung fragte, bekam er nur rätselhafte | |
Liedzeilen vorgesungen. | |
Und Pfefferminzbier tranken sie auch nicht. | |
5 Feb 2025 | |
## AUTOREN | |
Joachim Schulz | |
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