# taz.de -- Die Wahrheit: Der Erlöser der Kakerlaken | |
> Der Herbstblues, wenn nicht Weltschmerz hat die Gäste des Stammlokals | |
> erfasst. Schuld sind die Rund-s-tücke in einer Hamburger Bäckerei. | |
Petris, Wirt des Café Gum und Grieche, guckte verständnislos aus der | |
Wäsche. „‚Seinen Moralischen haben‘?“, wiederholte er Luis’ Bemerkun… | |
hatte keinen blassen Schimmer, was das bedeuten könnte. „Das sagt man, wenn | |
jemand total deprimiert ist“, erklärte Luis, „einfach so, ohne Grund, | |
verstehst du? So wie Raimund. Bloß weil es draußen kalt ist und nass und | |
dunkel.“ | |
„Bullshit!“, brummte Theo. „Das sagt heutzutage niemand mehr. Höchstens | |
einer, der so oldschool ist wie du und immer noch mit der Postkutsche | |
verreist.“ – „Außerdem bin ich nicht grundlos deprimiert“, protestierte | |
Raimund: „Alle hassen mich! Wenn das kein Grund ist …“ | |
Er hatte am Wochenende Frizzo besucht, der kürzlich nach Hamburg gezogen | |
war, und gleich am ersten Morgen verpasste ihm das Leben einen rechten | |
Schwinger. „Ich stand in der Bäckerei und sagte fröhlich: ‚Vier Brötchen, | |
bitte!‘“, erzählte Raimund. Die Bäckersfrau aber starrte ihn an, wie sie | |
sonst vermutlich nur Kakerlaken anpeinlich: Hasserfüllt, mordlüstern. | |
„Brötchen?“, zischte sie: „Ham wir nech!“ | |
„Ich wäre am liebsten davongelaufen und fortan mit einer soliden | |
Bäckersfrau-Phobie durchs Leben gegangen“, fuhr er fort, „aber ich nahm | |
meinen ganzen Mut zusammen, zeigte auf die Schütte voller Brötchen hinter | |
ihr und sagte: ‚Und was ist das da?‘“ Sie aber blickte sich nicht mal um. | |
„Das?“, sagte sie: „Sind Rund-s-tücke!“ | |
So ging es das ganze Wochenende weiter: In der Kneipe, im | |
Millerntorstadion, auf der Rückfahrt im Zug – überall sah er blanken, | |
unerklärlichen Hass in den Blicken seiner Mitmenschen, und es war nur eine | |
Frage der Zeit, bis einer einen Schuh auszöge und ihm wie jeder anderen | |
Kakerlake eins überbriete. | |
Raimund schniefte. Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, und Luis | |
war drauf und dran, ihn in den Arm zu nehmen. Theo jedoch drängte sich | |
dazwischen. „Was bist du bloß für ein Weichei geworden!“, knurrte er. | |
„Früher, als wir noch Punks waren, hättest du diesen Hass wie eine Trophäe | |
behandelt! Wir wollten den Abscheu der Leute, ihr Hass fiel auf sie und | |
ihre kranke Welt zurück. Er adelte uns und das andere Leben, von dem wir | |
träumten, wir hattatatututä …“ | |
Er kam aus dem Konzept und schnappte nach Luft, denn plötzlich starrte das | |
Weichei ihn mit eisiger Feindseligkeit an. Aus Raimunds Miene sprach nur | |
noch Verachtung, der Jammer, der ihn eben noch beherrscht hatte, war | |
verflogen, und Theo brach der Schweiß aus. | |
„Ich … äh …“, stotterte er, sein Äußeres schien – so ähnlich wie … | |
Goldblum in „Die Fliege“ – etwas deutlich Kakerlakiges anzunehmen, und | |
schließlich wusste wieder einmal nur Petris, was zu tun war, indem er ihnen | |
zwei hausgebrannte Tsipouro hinstellte, sie mit einem warmen Blick bedachte | |
und sagte: „Vertragt euch, Jungs, wenn wir nicht zusammenhalten, haben wir | |
gegen die kalte, nasse, dunkle Welt da draußen keine Chance.“ | |
3 Dec 2024 | |
## AUTOREN | |
Joachim Schulz | |
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