# taz.de -- Ägyptische Perspektiven auf Berlin: Die Stadt, die Liebe atmet und… | |
> Ein Gastaufenthalt wirft für unsere Autorin viele Fragen auf. | |
> Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit, wäre das auch in Kairo möglich? | |
Bild: Ob verheiratet oder nicht, Silvester oder Sommer, geküsst werden darf je… | |
Berlin taz | Neulich schlenderte ich durch die Straßen Berlins. Draußen war | |
es kalt. Doch Kleinigkeiten, die ich beobachtete, wärmten mich: das Lächeln | |
der Liebenden, ihre endlosen Küsse, die Musik der Straßenmusiker und das | |
Hanfaroma, das sich mit der Berliner Luft vermischte. Auf einer Wand fiel | |
mir ein Graffito ins Auge. „Freiheit beginnt mit einer Frage!“ stand dort | |
geschrieben. | |
Der Spruch löste etwas in mir aus; für einen Moment erinnerte ich mich an | |
die Straßen Kairos, wo Freiheit nur als ein Luxus für mit Fragen beladenen | |
Seelen gilt. In dieser Stadt werde ich mit endlosen Fragen konfrontiert. In | |
etwa, wie ihre Bewohner:innen so viel Freiheit genießen können. Und ob | |
es möglich ist, dass wir, die woandersher kommen, diese Freiheit mit zurück | |
in unsere Straßen nehmen? Würde meine Gesellschaft akzeptieren, dass mein | |
Mann und ich uns in der Öffentlichkeit, [1][wie auf dem Tahrirplatz in | |
Kairo], so lange küssen wie die Pärchen auf den Straßen Berlins? Oder | |
müssen wir akzeptieren, dass jede Stadt ihre eigenen, unveränderlichen | |
Regeln hat? | |
An jeder Ecke Berlins sieht man Paare, die sich ungezwungen küssen. Ich | |
denke an meine Heimat und frage mich, warum dort öffentlich gezeigte Liebe | |
als Skandal gilt. Warum müssen wir unsere Liebe heimlich zeigen, als ob wir | |
ein Verbrechen begehen? Genau diese Frage stellte sich auch die syrische | |
Autorin [2][Ghada Al-Samman] in ihrem Buch Capturing Freedom’s Cry. | |
Diese Frage kreist in meinem Kopf, seit ich in Berlin angekommen bin. Hier | |
zeigt jeder seine Liebe so selbstverständlich wie das Atmen. Im Nahen | |
Osten, wo ich herkomme, wird Liebe hingegen als Schande betrachtet, die | |
verborgen werden muss. In meiner Heimat wird die Liebe gejagt und im Namen | |
von Sitten und Traditionen verurteilt. Liebe auszudrücken wird zu etwas, | |
was dem Schmuggeln von Gütern über Grenzen gleichkommt. Grausam, oder? | |
## Traditionen bestimmen das Leben | |
Vor nicht allzu langer Zeit ging in Ägypten folgende Geschichte in den | |
sozialen Medien viral: Ein Paparazzo fotografierte ein Paar, das sich | |
öffentlich küsste. Die Frau trug ein Kopftuch. Das Foto wurde mit der | |
Überschrift gepostet: „Schaut euch diese verschleierte Frau an, die bei | |
hellem Tageslicht Ehebruch begeht.“ Das Bild verbreitete sich schnell. Die | |
Kommentare darunter waren zustimmend, es folgten noch härtere Bemerkungen, | |
die sich über die Männer in der Familie der Frau lustig machten, weil sie | |
„so etwas“ zuließen. Die sozialen Medien wurden zu einem offenen | |
Gerichtssaal. | |
Die verschleierte Frau hatte das Glück aus Kairo zu kommen, wo die sozialen | |
Traditionen weniger streng und blutig sind als auf dem Land. Sie wurde | |
„nur“ von ihrer Familie geschlagen, durfte nicht mehr zur Universität gehen | |
und musste zu Hause bleiben. Wäre sie vom Land gewesen, wäre das Ganze | |
tragischer geendet. Für die Männer der Familie ist ein Kuss eine „Tat“, d… | |
nur durch den Tod gesühnt werden kann. Dieser Vorfall verdeutlicht die | |
große Kluft zwischen der Hauptstadt und dem Land in Ägypten. | |
Er zeigt, wie die Traditionen dort das Leben der Menschen bestimmen, selbst | |
in ihren intimsten Momenten – im Gegensatz zu den Paaren hier, die sich vor | |
mir am Berliner Flughafen zur Begrüßung oder zum Abschied küssen. | |
Ich beobachtete diese warmen Szenen so lange, dass viel zu spät zu meiner | |
Willkommensfeier komme. Beim Empfangsessen empfahl mir eine Kollegin, mir | |
das 49-Euro-Monatsticket zu besorgen, mit dem ich alle Verkehrsmittel | |
nutzen konnte – und ich folgte ihrem Rat. | |
## Über die Freiheit zu kiffen | |
Ich genoss das ermäßigte Monatsticket und wünschte mir, dass wir etwas | |
Ähnliches in meiner Heimat hätten. Ich war fasziniert von der U-Bahn, den | |
Straßenbahnen und Bussen. Auch die Nutzung von Fahrrädern war praktisch, | |
und es war möglich, sie in öffentlichen Verkehrsmitteln mitzunehmen. | |
Darüber hinaus investiert die Regierung in umweltfreundliche Infrastruktur | |
für eine nachhaltigere Zukunft. Das beeindruckte mich und ich widmete | |
meinen ersten Artikel für die ägyptische Zeitung, für die ich schreibe, dem | |
Berliner Verkehrssystem. | |
Nur eines störte mich beim Erkunden der Stadt: der Hanfgeruch an | |
öffentlichen Orten. Ein Mann, der neben mir an einer Haltestelle saß, hat | |
pausenlos geraucht, was mir Schwindel bereitete. Ich wechselte den Platz | |
und landete neben einem syrischen Wissenschaftler. Er bemerkte mein | |
Unbehagen und erklärte mir, dass der Konsum und Anbau von Cannabis in | |
Berlin vor Kurzem teillegalisiert wurde. Noch bevor ich mein Erstaunen | |
ausdrücken konnte, erklärte er, dass die Regierung damit versuche, den | |
Menschen mehr Freiheit zu geben und ihnen Raum zu bieten, um den Druck des | |
Alltags abzubauen. | |
Ich beschäftigte mich intensiver mit medizinischen, sozialen und | |
wirtschaftlichen Vorteilen der Legalisierung von Hanf in Berlin und ging | |
ins Hanfmuseum. Der Museumsbesuch war informativ, brachte mich jedoch dazu, | |
die Nebenwirkungen der Legalisierung, insbesondere in der Öffentlichkeit, | |
infrage zu stellen. Was ist mit meiner Freiheit, diesen Geruch nicht | |
einatmen zu müssen, frage ich mich jedes Mal, wenn ich den Geruch einatmen | |
muss. Fühle ich mich sicher, umgeben von diesen nicht ganz nüchternen | |
Menschen da draußen? | |
Eines Tages wachte ich auf und stellte fest, dass die ersten beiden Dinge, | |
die mich an Deutschland fasziniert hatten, nicht mehr existierten: das | |
49-Euro-Ticket und der Museumssonntag. Die Sparmaßnahmen machten den 1. | |
Dezember 2024 nicht nur für mich zur letzten Gelegenheit, [3][den freien | |
Museumstag zu genießen], sondern für alle Berliner. | |
## Liebgewonnener Museumssonntag | |
An diesem Tag machte ich mich früh auf den Weg zur Museumsinsel, um lange | |
Besucherschlangen vor allen großen Museen vorzufinden. Sie fotografierten | |
die Gebäude und machten Selfies mit ihnen, als würden sie sich von ihnen | |
verabschieden. Ich war sowohl beeindruckt als auch traurig über diesen | |
Anblick. | |
Die wirtschaftlichen Veränderungen, die den jüngsten Kriegen folgten, | |
hatten das Leben der Menschen bereits so hart getroffen, dass solche | |
kostenlosen Möglichkeiten, die Museen zu besuchen, für sie viel bedeuteten. | |
Ich verbrachte meine Wartezeit in der Schlange vor dem Alten Museum und | |
fragte die Menschen, wie sie sich fühlten. | |
„Diese Initiative war ein monatliches Ritual für mich und viele andere. Ich | |
hatte keine Zeit, diese Museen zu besuchen, als ich noch gearbeitet habe“, | |
sagte Maria, eine ältere Berlinerin in ihren 70ern. Rosa, eine junge | |
brasilianische Besucherin, kritisierte: „Was für eine Enttäuschung, Kultur | |
nur denen anzubieten, die dafür bezahlen können!“ | |
Ich schaffte es an diesem Tag nicht mehr ins Haus der Kulturen der Welt | |
(HKW), da die Zeit nicht mehr reichte. Allerdings ging ich am folgenden | |
Sonntag zum HKW und war traurig, es fast leer vorzufinden. Ich fragte einen | |
der Mitarbeiter draußen, ob es letzten Sonntag auch so leer gewesen sei und | |
er antwortete: „Um Gottes willen, nein!“ [4][Die Sparmaßnahmen hatten das | |
Vergnügen des Berliner Lebens so schnell schrumpfen lassen.] | |
## Eine Stadt, die Fragen stellt | |
Am Ende bleibt Berlin eine Stadt, die ihre eigenen Fragen aufwirft und sich | |
gleichzeitig den Fragen ihrer Besucher stellt. Ist Freiheit hier ein | |
Produkt eines einzigartigen kulturellen Kontexts? Oder ist es eine | |
Entscheidung, die überall getroffen werden kann, solange wir genug Mut | |
haben? | |
Berlin ist nicht nur das, was wir sehen, es ist auch das, was wir dort | |
fühlen. Sie ist eine Stadt, die in den Parks Liebe atmet, die | |
Beschränkungen auf den Straßen herausfordert und die Gegenwart durch ihre | |
Museen neu gestaltet. Doch sie trifft auch substanzielle Entscheidungen, | |
die den Willen ihrer Bewohner ignorieren. Die Stadt löst nicht nur in mir | |
Diskussionen über das Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit und dem | |
öffentlichen Interesse aus. | |
Berlin ist nicht nur ein Schauplatz für Geschichten; dieser Ort ist eine | |
Erfahrung, die mit all ihren Widersprüchen gelebt werden muss. Am Ende | |
dieser mehrwöchigen Reise kehre ich nach Kairo zurück und frage mich: Sind | |
wir in unserer eigenen Stadt bereit, unsere Fragen mit demselben Mut zu | |
stellen? | |
29 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Kolumne-Macht/!5494347 | |
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Ghada_al-Samman | |
[3] /Drei-Jahre-Museumssonntag-in-Berlin/!6024110 | |
[4] /Kuerzungen-im-Berliner-Haushalt/!6054378 | |
## AUTOREN | |
Noha Al-Kady | |
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