# taz.de -- Olympische Spiele: Nicht noch höher, schneller, weiter | |
> Paris 2024 wird als Vorzeigeolympia präsentiert: nachhaltig, gerecht, | |
> schön. Doch die sozialen und ökologischen Kosten des Megaevents sind | |
> dramatisch. | |
Bild: Sichtbarer Protest: Demonstration in der Nähe des Place de la Républiqu… | |
Paul Alauzy erzählt: „Die Räumung wurde uns von heute auf morgen bekannt | |
gegeben“. Der 29-Jährige erinnert sich gut an jenen Tag im April 2023 in | |
L’Île-Saint-Denis – einer Gemeinde in der Pariser Banlieue, wo heute das | |
olympische Dorf steht. „Wir wurden von Drohnen gefilmt, es waren Hunderte | |
Polizeikräfte da. Ich habe versucht, mit einem Kommissar zu sprechen; es | |
war unmöglich. Sie haben uns dann teils in den Hof, teils in die Zimmer | |
gesperrt. Der Kommissar hat gesagt: ‚Der erste Bus, der hier steht, geht | |
nach Toulouse.‘ Da sollten die Leute in Aussortierungszentren gesteckt | |
werden.“ | |
Paul Alauzy ist Koordinator bei Ärzte ohne Grenzen in Paris und Sprecher | |
des Bündnisses Le revers de la médaille, auf Deutsch „Die andere Seite der | |
Medaille“. Bis zu dem Zeitpunkt, von dem er hier erzählt, hatte er mit den | |
Olympischen Spielen noch nie etwas am Hut gehabt. „Dann sind sie uns quasi | |
vor die Nase gefallen“, erzählt er rückblickend. | |
Die Räumung aus dem Jahr 2023, die Alauzy beschreibt, betrifft ein | |
besetztes Haus, in dem etwa 500 Personen untergebracht waren. Unibéton | |
heißt das Gebäude und hieß das dazugehörige Kollektiv. Die meisten der | |
Bewohner*innen waren aus dem Tschad und Sudan geflohen. Ohne Papiere | |
und im Randbezirk gehörten sie zu den eher Unsichtbaren der Gesellschaft. | |
Nicht unsichtbar genug. Denn Unibéton war nur wenige Meter von dem Ort, an | |
dem das olympische Dorf für Paris gebaut wurde – und passte offenbar nicht | |
in das Bild, das die Stadt sich vor internationalen Gäst*innen geben | |
wollte. | |
„Die Olympischen Spiele haben unser Leben zerstört und waren ein Albtraum | |
für uns“, erzählt Faris Alkhali. Der 31-Jährige war verantwortlich für das | |
Gebäude und ist zudem Sprecher eines tschadisch-sudanesischen Kollektivs in | |
Paris. Auch er ist aus dem Sudan geflohen. „Die Spiele sollen Freude | |
bringen – aber sie waren nie für uns gedacht“, kritisiert Alkhali. „Das … | |
für die Reichen und Schicken. Und wir zahlen die Rechnung.“ | |
## 19.500 Vertriebene | |
Die Unibéton-Bewohner*innen sind nicht die Einzigen, die auf solche Art | |
aus dem Stadtbild getilgt wurden. [1][19.500 Personen] wurden in und um | |
Paris innerhalb von anderthalb Jahren aus ihren Unterkünften geräumt, so | |
dokumentiert es Le revers de la médaille. „Das sind 40 Prozent mehr als | |
sonst“, weiß Paul Alauzy. Viele von den Vertriebenen wurden in die eingangs | |
erwähnten Zentren (sas) in ganz Frankreich verlegt. Diese „sas d’accueil | |
temporaire“, Empfangsschleusen, werden etwa ein Jahr vor den Olympischen | |
Spielen eingeführt. | |
[2][Offiziell] sollen sie helfen, Migrant*innen auf Gemeinden in | |
Frankreich zu verteilen und eine „passende Unterkunft“ für sie zu finden. | |
Doch [3][Hilfsorganisationen] kritisieren, dass sie in Wirklichkeit nur der | |
„sozialen Säuberung“ von Paris und Umgebung dienen. „Es gab dann überha… | |
keine Unterkünfte“, berichtet auch Faris Alkhali. Meistens harren die in | |
Bussen wegtransportierten Geflüchteten Hunderte Kilometer entfernt in | |
Turnhallen oder Camps aus oder sind sofort obdachlos. | |
Die gewaltsame Räumung von Unterkünften und die noch weitere | |
Marginalisierung von Obdachlosen ist – unter der Hand – zwar schon lange | |
eine übliche Praxis, erzählt Paul Alauzy. Er weiß, wovon er spricht. Für | |
Ärzte ohne Grenzen macht er in Teams sogenannte Kälterunden, bei denen man | |
die Obdachlosen an ihren gewohnten Aufenthaltsorten besucht, mit ihnen | |
spricht und sie unterstützt. „Aber mit den Olympischen Spielen sind neue | |
Gesetze, neue Mittel und neue polizeiliche Methoden dazugekommen“, erzählt | |
der Aktivist. „Die haben das alles beschleunigt.“ | |
Das [4][Antibesetzungsgesetz] – ein Jahr vor Olympia in Frankreich | |
verabschiedet – bestraft das Besetzen und Bewohnen leer stehender Gebäude | |
noch härter als zuvor. Bei einem anderen Gesetz ist die Verbindung zu dem | |
Megaevent noch offensichtlicher. Das [5][„Gesetz vom 19. Mai 2023 bezüglich | |
der Olympischen und Paralympischen Spiele“] regelt den Einsatz von | |
KI-Videoüberwachung in den Straßen. Zwar wird noch keine | |
Gesichtserkennungssoftware genutzt, wohl aber eine [6][„algorithmische | |
Videoüberwachung“], die Bewegungen und Gruppen erkennt, liegen gelassene | |
Taschen oder „verdächtige Menschen“. | |
## Repressive Gesetze dank Olympia | |
Ursprünglich sollte der Einsatz dieser Technologie auf den Zeitraum um die | |
Olympischen Spiele herum begrenzt sein und im März 2025 aufgehoben werden. | |
Doch schon im Herbst 2024 hat sich der Pariser Polizeipräfekt in einer | |
Anhörung vor dem Parlament [7][für eine Verlängerung ausgesprochen] – und | |
könnte damit Erfolg haben. Genau das hatten Aktivisten für Menschenrechte | |
und gegen einen Überwachungsstaat von Anfang an befürchtet. „Am Ende | |
bleiben solche vermeintlichen Ausnahmegesetze dann doch dauerhaft“, moniert | |
Paul Azauly. | |
Auch vom neuen Einwanderungsgesetz („loi Darmanin“, benannt nach dem | |
damaligen Innenminister) glaubt Alauzy, dass es einen Zusammenhang mit | |
Olympia gibt. Nachweisen lässt sich das allerdings nicht. Das Gesetz trat | |
Anfang 2024 in Kraft, ein halbes Jahr vor Beginn der Spiele. Es hat die | |
Rechte von Menschen ohne europäischen Pass drastisch eingeschränkt. | |
„Leider gehören soziale Säuberungen zu den Olympischen Spielen intrinsisch | |
dazu. Das ist extrem problematisch“, sagt Paul Alauzy. Tatsächlich lassen | |
sich drastische Gesetzesänderungen in diesem Bereich bei einer Reihe von | |
Olympiagastgebern feststellen. In Atlanta wurde das Übernachten in Parks | |
und auf den Straßen [8][1996] pünktlich zu den Olympischen Spielen | |
kriminalisiert, genauso aber das Betreten von leer stehenden Gebäuden. | |
Für Olympia 2004 in Athen wiederum erließ die griechische Regierung ein | |
[9][Gesetz], das die sofortige Enteignung all jener erlaubte, auf deren | |
Grundstücken Gebäude für die Spiele errichtet werden sollten. Letztlich | |
wurden vor allem [10][Sinti*zze und Rom*nja] gewaltsam aus der Stadt | |
vertrieben. | |
## „Olympia Kidnapping Act“ | |
Zu den Spielen 2012 in London wurde kurz vorher noch ein Gesetz erlassen, | |
dass die [11][Durchsuchung] von Privathäusern durch die Polizei erlaubte, | |
wenn sie sich auf olympischen Stätten befanden. | |
2010 fanden die Olympischen Spiele im kanadischen Vancouver statt – und zu | |
dieser Zeit wurde dort auch ein neues Gesetz [12][gegen Obdachlose] | |
verabschiedet: der [13][Assistance to Shelter Act]. Polizeikräfte sind | |
seitdem in Vancouver berechtigt, Obdachlose dazu zu zwingen, in eine | |
Unterkunft zu gehen. Das Gesetz gilt unter seinen Gegner*innen als | |
„Olympia Kidnapping Act“. | |
Auch in Paris organisieren sich diejenigen, die von den „sozialen | |
Säuberungen“, wie Alauzy es nennt, in der ein oder anderen Art betroffen | |
sind. „Wir haben dann Kontakt zu anderen Vereinen aufgenommen und | |
festgestellt: Es sind nicht nur die migrantischen Obdachlosen betroffen. Es | |
sind auch die ‚französischen‘. Es sind auch Sexarbeiterinnen, die | |
festgenommen und in Haft gesteckt werden. Ganze Obdachlosensiedlungen | |
wurden aufgelöst.“ | |
Alauzy und viele andere tun sich zusammen und gründen die Organisation | |
[14][Le revers de la médaille]. Mit der Zeit kommen in diesem Bündnis über | |
hundert Organisationen zusammen. Unabhängig von dem Bündnis finden sich | |
auch Klimaschutzaktivist*innen etwa von Youth4Climate und Extinction | |
Rebellion. Denn auch aus ökologischer Perspektive sind die Olympischen | |
Spiele für viele nicht vertretbar. Zu den Sponsoren gehören notorische | |
Umweltsünder wie Coca-Cola; die Errichtung von großer Infrastruktur | |
verschwendet Ressourcen. | |
## Zerstörte Grünflächen | |
In Aubervilliers im Norden von Paris werden 4.000 Quadratmeter Grünfläche | |
für die Errichtung eines Olympiaschwimmbads zerstört: Die jardins | |
d’ouvriers sind so etwas wie Schrebergärten, in Frankreich „Arbeitergärte… | |
genannt, weil sie in Randbezirken von Arbeiter*innen genutzt wurden und | |
werden. | |
Im Vorort Saint-Denis wird ein [15][Autobahnkreuz] gebaut – es soll zwei | |
bedeutende Autobahnen verbinden. Auch hier ist die Rolle der Olympischen | |
Spiele sichtbar: Das Projekt gibt es schon lange, es wurde jedoch als zu | |
teuer und aufwendig viele Jahre ad acta gelegt. Für die Olympischen Spiele | |
jedoch wird das Geld dann in die Hand genommen – zumal eine der Autobahnen | |
am olympischen Dorf vorbeiführt. Das Autobahnkreuz wird um eine Schule | |
herum gebaut; Schüler*innen und Anwohner*innen wehren sich – | |
vergeblich. Wenige Monate nach der Eröffnung der Anschlussstelle ist die | |
Bilanz mau: Rund um das [16][Autobahnkreuz] ist massiver Stau, morgens | |
braucht man hier für 1,6 Kilometer etwa eine halbe Stunde. | |
Auf den Baustellen schuften [17][Geflüchtete] ohne Papiere für geringe | |
Löhne und unter schlechten Arbeitsbedingungen. Die Legalisierung ihres | |
Aufenthaltsstatus, den die Arbeiter*innen in einem Streik gefordert | |
hatten, wurde von den Behörden versprochen und bis heute nicht umgesetzt. | |
## Widerstand früher organisieren | |
Paul Alauzy und die Mitstreiter*innen von Le revers de la médaille | |
wissen im Jahr 2023, dass es schon zu spät ist, die Spiele zu verhindern. | |
Sie versuchen, die verheerenden Folgen irgendwie abzufedern und | |
Öffentlichkeit dafür zu schaffen. Alauzys wichtigste Lektion: Der | |
Widerstand gegen die Olympischen Spiele muss früh genug anfangen. | |
Aktuell ist Le revers de la médaille im Kampf gegen Winterolympia 2030 in | |
den französischen Alpen aktiv. Auch mit Blick auf die mögliche Bewerbung | |
deutscher Städte sagt er: „Ich würde sofort in einen Zug steigen, um mich | |
mit den Leuten in Berlin zu vernetzen.“ Denn dass auf die deutsche | |
Hauptstadt ein ähnliches Szenario zukäme wie auf Paris, dessen ist er sich | |
sicher. | |
„Wenn die Olympischen Spiele wirklich für Freundschaft zwischen den Völkern | |
stehen, für Solidarität und Inklusion – dann sind das Werte unserer | |
Organisationen und Bürger*inneninitiativen“, stellt Alauzy klar. Die | |
Mitglieder von Le revers de la médaille hätten nicht per se ein Problem | |
mit den Olympischen Spielen. Das Budget des Megaevents würde es theoretisch | |
ermöglichen, ein wirklich inklusives Ereignis daraus zu machen. „Wenn es | |
nur ein kapitalistisches Riesenfest ist, wo es um neue Kundschaft und neue | |
Territorien geht, um Business zu machen – mit allen sozialen und | |
ökologischen Folgen –, dann sind wir dagegen.“ | |
4 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://lereversdelamedaille.fr/wp-content/uploads/2024/06/1-year-of-social… | |
[2] https://www.gisti.org/IMG/pdf/circ_2023-03-13_sas_ocr.pdf | |
[3] https://www.gisti.org/spip.php?article7116 | |
[4] https://fr.wikipedia.org/wiki/Loi_du_27_juillet_2023_visant_%C3%A0_prot%C3%… | |
[5] https://www.interieur.gouv.fr/actualites/grands-dossiers/a-linterieur-des-j… | |
[6] https://www.amnesty.fr/liberte-d-expression/actualites/pourquoi-la-videosur… | |
[7] https://www.lemonde.fr/societe/article/2024/09/25/le-prefet-de-police-de-pa… | |
[8] https://www.nytimes.com/1996/07/01/us/as-olympics-approach-homeless-are-not… | |
[9] http://www.ruig-gian.org/ressources/Athens_background_paper.pdf | |
[10] https://www.omct.org/en/resources/urgent-interventions/greece-evictions-of… | |
[11] https://www.vice.com/de/article/anti-homosexuelle-gesetzgebung-ist-nur-ein… | |
[12] https://www.theguardian.com/world/2010/feb/03/vancouver-winter-olympics-ho… | |
[13] https://thetyee.ca/News/2009/10/14/OlympicsHomelessLaws/ | |
[14] https://lereversdelamedaille.fr/les-associations-du-collectif/ | |
[15] https://radioparleur.net/2020/08/24/pleyel-echangeur-mobilisation-jo/ | |
[16] https://www.leparisien.fr/seine-saint-denis-93/saint-denis-malgre-les-amen… | |
[17] https://www.leparisien.fr/seine-saint-denis-93/saint-denis-malgre-les-amen… | |
## AUTOREN | |
Lea Fauth | |
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