| # taz.de -- Die Wahrheit: Numinöse Nomen | |
| > Neues von der Sprachkritik: Ein olles Anhängsel an Substantive ist | |
| > plötzlich wieder hip wie Hippe und führt zu merkwürdigen | |
| > Wortverlängerungen. | |
| Bild: Mit hängender Zunge hängen manche Sprecher ein e an | |
| Am Anfange schuf Gott Himmel und Erde – so begönne das Alte Testament, wenn | |
| jemand eine neue Übersetzung versuchte und dem derzeit wehenden Zeitgeiste | |
| folgte. Zwar war das altertümelnde Dativ-e nie ausgestorben und hatte sein | |
| Existenzrecht dort gewahrt, wo ein Substantiv in uneigentlicher Bedeutung | |
| verwendet wird oder wo es sich um eine Redensart handelt: Wer etwas im | |
| Schilde führt, hat in Wahrheit keinen Schild dabei; wer sich zu Tode | |
| langweilt, stirbt nicht wirklich. Dass dem Tode aber auch sonst meist der | |
| Vokal angehängt wird – jemand ist „schuldig am Tode eines anderen“ –, … | |
| mögen Gründe der Ehrfurcht vor dem Alten mit im Spiel sein. | |
| Oder im Spiele, denn das Zusatzvokälchen steht zwar nicht im Alten | |
| Testamente, aber in neuen Romanen, deren Autoren „im Lichte der flach | |
| fallenden Sonnenstrahlen“ etwas beobachten (Timon Karl Kaleyta: „Heilung“… | |
| was „in unserem Falle“ insofern „dem Wohle der Allgemeinheit“ (Alexander | |
| Schievelbusch: „Karma“) dient, als es dem Dative allgemein wohltut. | |
| Feststeht: „Auf jurististischem Wege“ wird man dem auf alt frisierten | |
| Dative nicht beikommen, zu oft steht das e-Morphemchen „im Dienste“ auch | |
| der Presse, verwenden es Journalisten „in großem Stile“, weshalb man vor | |
| ihm „nur auf dem Monde sicher“ zu sein scheint. | |
| Man mag das olle Anhängsel-e dicke haben, aber dünne macht es sich nicht, | |
| was vor über hundert Jahren der Sprachkritiker Gustav Wustmann befürchtete. | |
| Vielmehr wildert es inzwischen in weiteren Gefilden: im Reich des Adjektivs | |
| – das gute alte Lateiner, anders als neumodische Grammatiker, ebenso wie | |
| das Substantiv, wie jeder weiß, als „Nomen“ einordnen. | |
| ## Derbe Feier | |
| Was manches Substantiv im Dative mitkriegt, sind hier Eigenschaftswörter | |
| wie „derb“, „doll“ oder „prall“, denen feste was angehängt wird, w… | |
| als Adverb oder Prädikatsnomen fungieren: Dann wird „hart und derbe“ | |
| gefeiert, was „derbe okay“ ist; nur „Liefer-Start-ups schmieren derbe ab�… | |
| Die Literatur jedoch nicht: Zwar „fand ich das Buch nicht so dolle“, aber | |
| es „wird sich ja dolle verkaufen“, auch wenn „ich das nicht so pralle | |
| finde“ – drei Zitate nicht etwa aus einem Texte, sondern aus dreien. Was | |
| genügt, denn „die Liste ist zu lange“, um sie vollständig wiederzugeben. | |
| Indes, war es denn mit dem Umstandsworte früher derbe besser? Gab es eine | |
| sprachliche „Welt, in der alles heile zu sein scheint“? Nein, „die Zeit w… | |
| strenge“, konstatierte schon „Radetzkymarsch“-Autor Joseph Roth für die … | |
| k. Vergangenheit, und in der Weimarer Republik redeten die Leute nicht | |
| anders: Kurt Tucholsky belustigte es, wenn man „so schön natürlich spricht, | |
| reine wie im Leben“. | |
| Man sollte aber nicht zu strenge sein und sich „zum ach wievielsten Male“ | |
| (Theodor Fontane: „Frau Jenny Treibel“) aufregen! Womit es jetzt vom | |
| Substantiv über das Adverb hurtig zum Adjektiv als Attribut kommt, und zwar | |
| in seiner gesteigerteren und seiner gesteigertsten Form. Die Steigerung ist | |
| nämlich eine unerwartet schwierige Angelegenheit, es gilt in der Praxis | |
| das Muster: gut möglich, besser möglicher, bestmöglichst. | |
| Schon um 1900 missfielen dem Sprachkritiker Gustav Wustmann Formen wie „der | |
| schöngelegenste Teil, die leichtlaufendste Maschine, die tiefliegendere | |
| Bedeutung“. Aber noch 100 Jahre später war Prinz Charles „der altgedienste | |
| Thronanwärter“, ist sein Gegenstück „Bernd das Brot Deutschlands schlecht | |
| gelaunteste Fernsehfigur“; und schaut man zurück, bietet sich dem noch | |
| „schlecht gelaunteren Blick“ schon Goethe dar: Er bastelte im „Faust“ d… | |
| Satz zusammen: „Die letztesten hat Herkules erschlagen.“ | |
| ## Zweiter Goethe | |
| Selbstverständlich muss der Weimarer Versefex nicht gleich als der „meist | |
| überschätzteste“ Autor deutscher Zunge heruntergestuft werden. Ein | |
| „vielversprechenderer“ ist nun mal bis heute nicht in Sicht, einen zweiten | |
| Goethe haben selbst die „besteingerichtesten“ Literaturstudiengänge nicht | |
| hervorgezaubert. | |
| Das ist in einer gründlich verwalteten und entzauberten Welt auch schwer – | |
| womit zum Schluss das Substantiv wieder Thema ist, als in ein steifes | |
| Dingwort verwandeltes Eigenschaftswort. Aus „zwiespältig“ wird | |
| „Zwiespältigkeit“, aus „widerständig“ wird „Widerständigkeit“, u… | |
| ist eine momentane Haltung zur dauerhaften persönlichen Eigenschaft | |
| geworden: Man psychologisiert und schließt von einer Bosheit oder | |
| Niedertracht, die sich in einer Tat oder Äußerung gezeigt haben, auf | |
| „Boshaftigkeit“ oder „Niederträchtigkeit“ als Charakterzug einer Perso… | |
| Wer dann wegen „körperlicher Übergriffigkeit“ angezeigt wird, hat sich | |
| nicht bloß einen Übergriff zuschulden kommen lassen, sondern er ist sein | |
| Wesenszug; wer die „Rückfälligkeit eines Jungen“ postuliert, stellt wie d… | |
| Nazis auf den Charakter ab und macht den Knilch bereits zum, im Nazijargon | |
| gesagt: Berufsverbrecher. | |
| Da kann man schon zum schlechtestgelauntesten Miesepeter werden und muss | |
| dem lieben Gotte danken, dass es zum Glücke so dolle nicht gekommen ist. | |
| 6 Dec 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Köhler | |
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