# taz.de -- Sober November versus Dry January: Ignoranz und Abstinenz sind Brü… | |
> Trüb ist es draußen, da helfen drinnen zubereitete Leckereien. Was aber, | |
> wenn der Arzt eine „mitteleuropäische Wohlstandsleber“ diagnostiziert? | |
Bild: Joggen, um den Kopf frei zu bekommen | |
Das ist die Jahreszeit, für die nichts spricht. Die Sonne scheint nicht, | |
und es schneit auch nicht.“ Muss man mehr als [1][der Dichter] über den | |
November sagen? Was lässt sich tun, um der Misere zu begegnen? Kochen und | |
essen und trinken natürlich. Dann aber kommt der Gesundheitscheck, und der | |
Arzt spricht von einer „mitteleuropäische Wohlstandsleber“ und rät zu mehr | |
Bewegung und Verzicht. | |
Joggen ist zwar langweilig, aber draußen sein doch immer belebend. Also | |
laufe ich los, nicht schnell, nicht weit, gerade so lange, bis ich in | |
Schwitzen komme. Mit den Hunden habe ich mich inzwischen arrangiert. Hunde | |
sind wie Männer, die meisten wollen nur spielen. Als männlicher, weißer | |
Jogger fühle ich mich einmal wie eine Frau auf dem nächtlichen | |
Nachhauseweg, nur dass für Männer keine Leinenpflicht besteht. Aber Regeln | |
und Pflichten sind ja in Berlin nur da, um missachtet zu werden (und sind | |
wir nicht, als wir noch jung und überbordend waren, genau deswegen | |
hierhergekommen, meine lieben gleichaltrigen Mitberliner:innen?). | |
Sie sehen schon: Was ich beim Laufen in der reizarmen Novembernatur | |
genieße, ist, dass ich meinen Assoziationen ganz lange Leine geben kann. | |
Und wenn ich ihrer überdrüssig werde, dann ziehe ich einfach das Tempo an, | |
und das Hirn schaltet sich aus: Ein euphorischer Zustand, der in mir so | |
etwas wie Neid auf diejenigen Mitmenschen aufkommen lässt, die ihr gesamtes | |
Leben lang bewusstlos unterwegs sind. | |
Wenn diese Sehnsucht nach dem Nichts stärker wird, renne ich sogar mal den | |
Kreuzberg hoch, ein Kreuzweg eben, an dessen Ende ich geläutert bin und | |
nach Hause spazieren darf. Oben habe ich noch meine Rückenübungen gemacht, | |
denn zu sehen gibt es nichts. Berlin sieht aus, wie es von der amtierenden | |
Großen Koalition gewollt ist: eine hässliche Provinzstadt, [2][die aber | |
autogerecht.] Auf die Idee muss man in Zeiten, da in Autostädten wie | |
Wolfsburg und Ingolstadt die Angst umgeht, wie Detroit zu enden, erst mal | |
kommen. | |
## Sober November? Dry January! | |
Aber am Verzicht führt auf Dauer kein Weg vorbei. Ich interpretiere Dauer | |
als weite bis mittlere Ferne, wie wir einst nach dem Skifahren auf der | |
Hütte sangen: „[3][Morgen, ja morgen, fang ich ein neues Leben an]. Und | |
wenn nicht morgen, dann übermorgen.“ Mein Arzt sieht das genauso. „Wir | |
sehen uns im Februar wieder zur Lagebeurteilung, im November und über | |
Weihnachten macht Abstinenz eh keinen Sinn.“ Nichts also mit Sober | |
November, sondern erst Dry January! Damit kann ich sehr gut leben – | |
jedenfalls jetzt. | |
Und dann wird es schon wieder dunkel. Ich tue, was zu tun ist, ich zünde | |
Kerzen an und schäle meinen süßen Kleinen die heißen Maroni und die kalten | |
Orangen. Draußen setze ich mich aufs Fahrrad, am Horizont, ganz im Westen | |
schimmert noch Licht, rosig und hoffnungsvoll. Wenn ich weit nach Osten | |
schauen könnte, würde ich die Raketen und das Drohnenfeuer des Putinschen | |
Mörderstaates auf Kyjiw und Odessa niedergehen sehen. Menschen in Not | |
kommen gar nicht erst auf den Gedanken, auf etwas verzichten zu wollen, sie | |
brauchen im Gegenteil mehr, sie brauchen Hilfe. | |
Und da muss ich an den Witz denken, wo der Bettler an der Tür der | |
hochherrschaftlichen Villa klingelt: Die Dame des Hauses öffnet, unser Mann | |
sagt: „Gnädige Frau, verzeihen Sie bitte die Störung – aber ich habe seit | |
zwei Tagen nichts gegessen.“ Worauf sie antwortet: „Aber lieber Freund – | |
Sie müssen sich zwingen!“ | |
25 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /!717583/ | |
[2] https://www.morgenpost.de/berlin/article407723715/verkehrspolitik-kann-berl… | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=Pp8QY5XGZIQ | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
## TAGS | |
Kolumne Das bisschen Haushalt | |
November | |
Verzicht | |
Social-Auswahl | |
Kolumne Das bisschen Haushalt | |
Kolumne Abgefüllt | |
Drogenkonsum | |
Bier | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Trend im Januar: Warum Verzicht auf den Verzicht die wahre Größe wäre | |
Wie so viele andere verzichtet unser Autor im Januar auf Alkohol. Mit | |
aggressiver Klarheit formuliert er ein paar weitere Verzichtvorschläge. | |
Kalorien und Wein: Erst der Crémant, dann die Reue | |
Auf den Etiketten von Weinflaschen könnte bald nicht nur vor | |
Alkoholabhängigkeit gewarnt werden, sondern auch vor zu vielen Kalorien. | |
Alkoholfreier Januar: Die Gefahr benennen | |
Die Suchtexpertin Heike Beckmann wirbt für einen Monat ohne Alkohol. Warum | |
diese Denkweise problematisch ist. | |
Historikerin über Nazis und Bier: „Lauter betrunkene Volksgenossen“ | |
Einerseits war der gesunde Volkskörper das Ideal. Andererseits wollten die | |
Menschen trinken. Ein Gespräch mit der Historikerin Dorothea Schmidt. |