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# taz.de -- Nahost-Konflikt vor US-Wahl: „Netanjahu wartet ab“
> Die Lage in Gaza ist katastrophal, die entsprechende UN-Hilfsorganisation
> wurde verboten. Auch in Israel stellt sich die Frage nach dem Kriegsziel.
Bild: Viel zu kurz war der Grenzübergang Erez für humanitäre Hilfe geöffnet
Jerusalem taz | Zwei Tage. So lange dauerte es im April, b[1][is Israel den
Grenzübergang Erez in den Norden des Gazastreifens für Hilfslieferungen
öffnete], nachdem US-Präsident Joe Biden mit einem Ende der amerikanischen
Unterstützung gedroht hatte. Jetzt, wenige Tage vor der
US-Präsidentschaftswahl fällt die Drohung, den Nachschub an US-Munition und
Waffen zu stoppen, in Jerusalem auf taube Ohren. Mehr als die Hälfte der
30-tägigen Frist ist vorbei, passiert ist nichts.
Israel würde nichts gegen die „katastrophale humanitäre Krise“ in Gaza
unternehmen, sagte Washingtons UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield dem
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am Dienstag.
Statt den in dem Brief von Mitte Oktober geforderten 350 Lastwagen pro Tag,
humanitären Pausen und einem Ende der Abriegelung von Nordgaza ist das
Gegenteil der Fall: Das UN-Nothilfebüro Ocha meldet seit dem 6. Oktober
eine verschärfte Blockade in Nordgaza, besonders um das Flüchtlingslager
Dschabalia. Alleine in der vergangenen Woche habe es sieben „mass casualty
events“ gegeben.
Bei einem solchen Angriff auf ein fünfstöckiges Wohnhaus in Beit Lahia in
Nordgaza am Dienstag sollen laut dem nahen Kamal Adwan-Krankenhaus Dutzende
Menschen getötet worden sein, die Mehrheit Frauen und Kinder.
US-Außenamtssprecher Matthew Miller sprach von einem „schrecklichen
Vorfall“ und forderte Aufklärung von Israel. Die Armee teilte mit, der
Schlag habe einem „Späher“ mit Fernglas auf dem Dach des Hauses gegolten.
Dass das Gebäude als Unterkunft genutzt werde, sei den Soldaten nicht
bekannt gewesen.
## Drastische Kritik von den UN
Drei Tage zuvor waren israelische Soldaten laut Ocha bereits in das
Adwan-Krankenhaus eingedrungen, hatten drei Krankenwagen zerstört und den
größten Teil des medizinischen Personals festgenommen. Die Armee spricht
von einem „präzisen Schlag gegen eine Hamas-Hochburg“. Aktuell kümmern si…
dort laut UN-Angaben nur noch der Krankenhausdirektor und ein Kinderarzt um
150 Patienten.
UN-Generalsekretär [2][Antonio Guterres warnte angesichts des Vorgehens der
Armee im Norden von Gaza vor „ethnischer Säuberung“]. Auch die israelische
Zeitung Haaretz kommentierte in ihrem Leitartikel diese Woche: [3][„Wenn es
wie ethnische Säuberung aussieht, ist es wahrscheinlich genau das.“]
Dafür sprechen dem Blatt zufolge die enormen Opferzahlen unter Zivilisten,
die fortgesetzte Blockade und die Aufforderung, das Gebiet nach Süden zu
verlassen. Auf der anderen Seite würde dieses Vorgehen von anhaltenden
Forderungen der rechtsreligiösen Teile der Regierung nach einer jüdischen
Besiedlung gestützt. Vor wenigen Wochen hatte ein von der Regierung
erwogener „[4][Plan der Generäle]“ im Wesentlichen vorgeschlagen, die
Zivilbevölkerung aus dem gesamten Norden zu vertreiben und im Anschluss
alle verbliebenen Menschen auszuhungern.
Vor diesem Hintergrund sorgt das von Israel beschlossene UNRWA-Verbot für
Empörung. In seltener Einigkeit warnte der UN-Sicherheitsrat „nachdrücklich
vor jedem Versuch“, die Arbeit von UNRWA zu behindern oder zu beenden. Auch
die USA, die Kritik an Israels Vorgehen im wichtigsten UN-Gremium häufig
per Veto verhindern, trugen die Erklärung mit.
## Hilfsstruktur könnte zusammenbrechen
Aktuell ist völlig unklar, wie ohne UNRWA die Versorgung von rund zwei
Millionen vertriebenen Bewohnern im Gazastreifen künftig garantiert werden
soll. „UNRWA ist das Rückgrat der internationalen humanitären Operation in
Gaza“, sagte UNRWA-Sprecher Jonathan Fowler.
Ohne die rund 13.000 vor allem palästinensischen Beschäftigten in dem
Küstenstreifen, ehemalige Lehrer, Pfleger und Bürokräfte, die heute
Hilfslieferungen durch ein Kriegsgebiet transportieren und überfüllte
Flüchtlingsunterkünfte verwalten, würde die internationale Hilfe in Gaza
„zusammenbrechen“. Auch die Versorgung von rund einer Million bei UNRWA
registrierten Palästinensern im besetzten Westjordanland, der Betrieb von
96 Schulen und 43 Gesundheitszentren könnte zum Erliegen komme, warnt
Fowler.
In Israel stand das Hilfswerk seit vielen Jahren in der Kritik. Viele
Israelis werfen UNRWA vor, den Nahostkonflikt zu zementieren und den
Flüchtlingsstatuts von Palästinensern über Generationen weiterzugeben.
Kritiker widersprechen, dass UNRWA nur deshalb noch existiere, weil der
israelisch-palästinensische Konflikt bis heute ungelöst ist.
Im Januar erhob Israel schwere Vorwürfe gegen zwölf UNRWA-Beschäftigte.
Diese sollen sich an den Massakern am 7. Oktober beteiligt haben. Die
Anschuldigungen weiteten sich schnell aus. Heute behaupten israelische
Politiker bis zu Ministerpräsident Netanjahu regelmäßig, UNRWA sei
vollkommen von der Hamas unterwandert. Die UN hat nach Untersuchungen zehn
Mitarbeiter entlassen. Beweise für eine Unterwanderung hat Israel bisher
aber nicht vorgelegt. UNRWA-Chef Philippe Lazzarini spricht von einer
„Delegitimierungskampagne“.
## Wie und wofür Krieg?
Über die humanitäre Situation hinaus stellt sich auch innerhalb der
israelischen Führung die Frage, wie und wofür der Krieg noch fortzusetzen
ist. Es sei erreicht, was militärisch möglich ist, darin seien sich die
Spitzen der Armee, der Geheimdienste und der Verteidigungsminister Joav
Gallant einig, berichtet die Zeitung Haaretz. Stattdessen sei jetzt, nach
einer Serie militärischer Erfolge die Voraussetzungen für Verhandlungen
geschaffen.
„Wir haben spektakuläre Erfolge an allen Fronten verbuchen können, aber wir
wandeln sie aktuell nicht in strategische Fortschritte um“, sagt Michael
Milsthein, der frühere Leiter der Palästinenserabteilung des israelischen
Militärgeheimdienstes. Das Problem der israelischen Führung sei ein „Mangel
an langfristiger Strategie an allen Fronten“. Oft wird die Schuld dafür
Premierminister Benjamin Netanjahu gegeben.
Dieser sei getrieben von seinen rechtsextremen Koalitionspartnern, sagt
Gayil Talshir, Politikwissenschaftlerin von der Hebräischen Universität in
Jerusalem. „Das Ziel der Minister Smotrich und Ben Gvir ist, jüdische
Siedlungen in Gaza zu errichten.“ Dem hat Netanjahu mehrfach widersprochen.
„Aber die Siedler brauchen keine politische Entscheidung, eine
längerfristige Militärbesatzung in Gaza reicht ihnen, um früher oder später
Fakten zu schaffen.“ So seien auch die ersten der heute rund 500.000
israelischen Siedler ins Westjordanland gelangt.
Die festgefahrenen Verhandlungen über ein Ende der Kämpfe könnten indes mit
Blick auf den Libanon in Bewegung kommen. Lange hatte die Hisbollah eine
Waffenruhe in Gaza zur Bedingung für ein Ende des Krieges gemacht. Nun
sollen Medienberichten zufolge die USA die Möglichkeit eines von Gaza
unabhängigen Waffenstillstandes mit der Hisbollah ausloten. Ein erster
US-Vorschlag in diese Richtung sieht einen Rückzug der israelischen Armee
vor, gewährt aber ein Interventionsrecht auf libanesischem Gebiet.
## Keine Einigung mit dem Libanon
Der libanesische Regierungschef Nadschib Mikati hatte sich am Donnerstag
zunächst zuversichtlich gezeigt: Eine Einigung sei „binnen Stunden oder
Tagen“ möglich. Nach einem israelischen Luftangriff mit laut dem
libanesischen Gesundheitsministerium mindestens 45 Toten sagte er, die
„fortgesetzte Eskalation“ Israels gebe keinen Anlass zu Optimismus. In
Israel starben durch einen Beschuss der Hisbollah nahe der Grenze fünf
Menschen.
„Ich hoffe, dass die israelische Regierung hinter den Kulissen ernsthaft
nach einer politischen Lösung neben dem militärischen Vorgehen sucht“, sagt
Milshtein. Der Impuls für eine Lösung müsse aktuell und nach den
militärischen Erfolgen der vergangenen Wochen von der israelischen
Regierung in Kooperation mit den USA kommen. „Wenn das nicht passiert,
könnten wir uns bald tief in einen Abnutzungskrieg im Libanon und in Gaza
verstricken.“
Mit einer richtungsweisenden Entscheidung vor den [5][US-Wahlen am 5.
November] rechnet die Politikexpertin Talshir aber nicht. „Netanjahu wartet
ab, denn Trump oder Harris wird den Unterschied machen, wie viel Spielraum
Israel haben wird.“, sagt sie. [6][Donald Trump wünschen sich zwei Drittel
der Israelis einschließlich Netanjahu als Präsident] und erhoffen sich von
ihm bedingungslose Unterstützung für das Vorgehen in Gaza und im Libanon.
Was Trump tatsächlich in der Region tun würde, kann niemand voraussagen.
Zuletzt versprach er beim Onlinedienst X, er werde „das Leid und die
Zerstörung im Libanon beenden“, behielt aber für sich, wie er das anstellen
wolle. Zuvor hatte er ähnlich Äußerungen zum Gazakrieg gemacht. Zugleich
aber soll er von Netanjahu [7][laut einem Bericht der Times of Israel
gefordert haben, den Krieg zu beenden, bevor er im Falle eines Wahlsieges
sein Amt antrete].
1 Nov 2024
## LINKS
[1] /Nachrichten-im-Nahost-Krieg/!6008109
[2] https://www.theguardian.com/world/2024/oct/30/antonio-guterres-warns-israel…
[3] https://www.haaretz.com/opinion/editorial/2024-10-29/ty-article-opinion/if-…
[4] https://www.tagesspiegel.de/internationales/wird-der-norden-gazas-ausgehung…
[5] /US-Wahl-2024/!t5575916
[6] https://www.timesofisrael.com/poll-shows-israelis-massively-favor-trump-ove…
[7] https://www.timesofisrael.com/trump-told-netanyahu-he-wants-gaza-war-over-b…
## AUTOREN
Felix Wellisch
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