# taz.de -- Bonnie „Prince“ Billy live: Feuer, Schwefel, vielstimmiger Chor | |
> US-Singer-Songwriter Bonnie „Prince“ Billy kommt nach langer Pause auf | |
> Tour. Sein eigenwilliger Folkstil ist genährt von der Tradition der | |
> Appalachen. | |
Bild: Bonnie Prince Billy, US-Singersongwriter | |
Auf jeden von uns wartet der Tod. Mit dieser Erkenntnis machen so banale | |
Dinge wie das Rasensprengen mit dem Wasserschlauch gleich viel mehr Spaß. | |
Abgründig zu sein, aber mit Leichtigkeit, im Songtext wie in der Musik, das | |
schaffen nur wenige [1][so gut wie der US-Singer-Songwriter Will Oldham, | |
genannt Bonnie „Prince“ Billy]. | |
Das obige Zitat entstammt dem Album, mit dem er vor mittlerweile 25 Jahren | |
einem größeren Publikum bekannt wurde: „I See A Darkness“. Es war | |
gleichzeitig seine erste Veröffentlichung unter dem Künstlernamen, der an | |
den erfolglosen Stuart-Prinzen erinnert. | |
Mit Schottland hat Will Oldham allerdings nichts am Hut, er kommt aus | |
Louisville im US-Bundesstaat Kentucky, wo er bis heute lebt und arbeitet. | |
Nach über zehn Jahren kommt Bonnie „Prince“ Billy endlich wieder auf | |
Tournee. Sein aktuelles Album ist bereits 2023 erschienen: „Keeping Secrets | |
will Destroy you“ zeigt den Künstler in bestechender Verfassung. | |
Anlässlich eines besonderen Auftritts in Berlin in einigen Tagen lohnt es | |
sich, noch einmal einen Blick zurück zu werfen. Der Titelsong von „I See A | |
Darkness“, wurde ein Jahr nach Veröffentlichung [2][von keinem Geringeren | |
als Johnny Cash auf dem Album „American Recordings“] gecovert, Oldham | |
selbst sang dafür die Backing-Vocals. | |
Vom Großen Vorsitzenden der Americana-Gemeinde diese Ehre erwiesen zu | |
bekommen will schon etwas heißen. Auch andere erkannten in Oldham [3][ein | |
Songwriter-Genie, das seinesgleichen sucht]. So wählte US-Internet-Magazin | |
Pitchfork das Album auf Platz 9 seiner Rangliste der besten 100 Werke der | |
1990er. | |
Rückkehr nach Kentucky | |
Damit war Bonnie „Prince“ Billy endgültig zur Indie-Berühmtheit geworden. | |
Dabei war der 1970 geborene Künstler schon weit vor der Jahrtausendwende | |
aktiv. Ein Studium brach er ab, die Schauspielkarriere in Hollywood sollte | |
es auch nicht sein. So kam er Anfang der Neunziger zurück nach Kentucky und | |
begann mit einer Vielzahl von Leuten aus der lokalen Musikszene seiner | |
Heimatstadt Musik zu machen, darunter auch seine Brüder Paul und Ned. | |
Mit Paul zog Will auf die elterliche Schafsfarm im Umland. Hier ließ es | |
sich ungestört leben und Songs komponieren. Das Resultat waren fünf Alben | |
unter Varianten des Namens Palace („Palace Music“, „Palace Brothers“, | |
u.v.a.). Auch „I See A Darkness“ wurde dort aufgenommen. | |
Louisville liegt westlich der Bergkette Appalachen, der Bundesstaat | |
Kentucky ist geprägt vom Bergbau. „Appalachia“ meint nicht nur die Gegend, | |
sondern auch die Kultur der eigenbrötlerischen Bergler und nicht zuletzt | |
ihre Musik. Klassiker des US-Folk wie der „Wayfaring Stranger“, auch von | |
Johnny Cash besungen, kommen von hier. | |
Betreibt man in der Region etwas Wurzelsuche, stößt man immer wieder auf | |
eine archaische Form des kraftvollen vielstimmigen Chorgesangs, etwa auf | |
dem Soundtrack des Bürgerkriegsdramas „Cold Mountain“ (2003). Hundert raue | |
Kehlen singen in voller Lautstärke, ohne Instrumente: „And am I born to | |
die? / To lay this body down? / And must my trembling spirit fly into a | |
world unknown?“. Das Lied, das hier so eindrucksvoll das ewige Memento Mori | |
beschreibt, oder besser: beschreit, kommt aus den Appalachen. | |
Gesangbuch aus dem 19. Jahrhundert | |
Der Text stammt aus der Feder von Charles Wesley, Mitbegründer der | |
Methodisten; die Melodie schrieb Ananias Davisson, Komponist aus dem | |
benachbarten Shenandoah Valley. Es erschien erstmals 1816 in Davissons | |
Gesangbuch „Kentucky Harmony“, und später in dem Buch, das dieser Musik den | |
Namen geben sollte: „The Sacred Harp“. Der Titel des Songs, ähnlich | |
mysteriös: „Idumea“. | |
[4][Wer mit dem Werk von Bonnie „Prince“ Billy] vertraut ist und sich | |
außerdem für die seltsamen Randbereiche des Folk interessiert, dem dürften | |
Titel und Text bekannt vorkommen. Der britische Industrialfolk-Musiker | |
David Tibet veröffentlichte 2006 als Current 93 das mystisch verbrämte | |
Konzeptalbum „Black Ships Ate The Sky“. | |
Das zentrale Element: „Idumea“. Insgesamt neun Versionen des Songs, mit | |
verschiedenen Gaststimmen, etwa von Shirley Collins und Ahnoni Hegarty, | |
sind vertreten. Der apokalyptische Text passt wunderbar zu Tibets eigenen | |
fiebertraumartigen Texten. „Waked by the trumpet sound / I from the grave | |
shall rise/And see the judge in glory rise, / And see the flaming skies!“ | |
Bonnie „Prince“ Billy ist auch mit dabei. Seine Interpretation von Idumea | |
klingt stark reduziert auf die Kernelemente des Folk: ein dräuender | |
Dronesound, ein lakonisches Banjo, darüber schwebt Oldhams immer wieder | |
brüchige Stimme, die eindringlich das Düstere im Jenseits besingt: „A land | |
of deepest shade / Unpierced by human thought / The dreary region of the | |
dead / Where all things are forgot.“ | |
Fast jedes Jahr ein Album | |
Der Song ist „Gothic Americana“ vom Feinsten, auch wenn man Will Oldham | |
nicht auf dieses Etikett reduzieren sollte, dazu ist sein Werk zu | |
vielfältig. In den vergangenen 25 Jahren hat er nicht nur fast genauso | |
viele Alben veröffentlicht, sondern ist auch der Schauspielerei treu | |
geblieben. Immer wieder wirkte er in Indie-Filmen mit, etwa in Kelly | |
Reichardts „Old Joy“ (2006). | |
Der Filmregisseur und Schauspieler Tim Morton lebt ebenfalls in Louisville. | |
2016 lernten er und Oldham sich am Set des Indie-Films „Men Go To Battle“ | |
kennen. Sie freundeten sich an, wiewohl sie bereits gemeinsame Bekannte in | |
der örtlichen Musik- und Kunstszene hatten. | |
Und Tim Morton macht auch Musik: Er singt „Sacred Harp“. Tatsächlich hat | |
diese alte Chortradition aus Appalachia in letzter Zeit eine erstaunliche | |
Wiederbelebung erfahren. In den ländlichen Südstaaten, in | |
Baptistengemeinden und Sängerfamilien vor dem Aussterben bewahrt, | |
verbreitete es sich zuerst im Zuge des Folk-Revivals auch in die urbanen | |
Zentren der USA, um dann etwas später Europa zu erreichen. | |
In Großbritannien fiel „Sacred Harp“ auf fruchtbaren Boden, denn hier | |
liegen seine Wurzeln: In den alten Kirchen- und Volksliedern, die von den | |
Auswanderern in die USA mitgenommen wurden. Seit einiger Zeit wird auch in | |
Deutschland „Sacred Harp“ gesungen. | |
Die existenziellen Texte treffen einen zeitlosen Nerv, aber es ist vor | |
allem die unmittelbare, kraftvolle Musik, die so anders klingt als brave | |
Choräle. „Sacred Harp ist a cappella Heavy Metal“, schreiben die Bremer | |
Sänger*innen auf ihrer Webseite, und das trifft es gut. Powerchords, | |
Feuer und Schwefel, alles da. | |
Religion und Politik bleiben draußen | |
Dieser hypnotische Sound geht einher mit einer Praxis, die viel mehr | |
Folksession als Chorprobe ist, egalitär und gemeinschaftsorientiert, und | |
die vor allem viel Inbrunst ermöglicht, ohne den religiösen Ballast. | |
Religion und Politik bleiben draußen aus dem hollow square – dem Viereck | |
aus Stühlen, in dem man sich beim „Sacred Harp“-Singen gegenübersitzt. | |
Nur so ist zu erklären, wie sich bei den großen Conventions Menschen über | |
Alters-, Partei- und Religionsgrenzen hinweg begegnen können. | |
Republikanisch wählende Rednecks sitzen neben queeren jüdischen New Yorker | |
Akademiker*innen und singen gemeinsam alte Folk-Hymnen. Das klappt | |
nicht immer reibungslos, aber es funktioniert, um ein altes Klischee zu | |
bedienen, durch die verbindende Kraft der Musik. | |
Seit dem Comeback haben sich Indiefolk-Musiker*innen immer wieder von | |
„Sacred Harp“ inspirieren lassen. [5][Will Oldham, der seine musikalische | |
Inspiration seit jeher aus den obskuren Musiktraditionen seiner Heimat | |
Kentucky schöpft, hat auch schon mitgesungen]. | |
2019 erschien „In Good Faith“, das zweite Video von Bonnie „Prince“ Bil… | |
unter der Regie seines Freundes Tim Morton. Es besteht fast komplett aus | |
Material, das Morton für ein bisher unveröffentlichtes | |
Dokumentarfilmprojekt über die singing communities in den USA gedreht hat. | |
Gezeigt werden junge und alte Menschen unterschiedlichster Herkunft, alles | |
Freund*innen von Tim, wie sie von nah und fern anreisen, um zusammen zu | |
singen. | |
Singen als Naturgewalt | |
Bonnie „Prince“ Billy wird hier Teil der Sängergruppe, er reiht sich bei | |
den namentlich genannten Porträtierten ein: Rod from Alabama, Betsy from | |
Portland, Will from Kentucky. Dem US-Rolling Stone sagte er 2019 in einem | |
Interview: „Man wird komplett von dieser Masse an Stimmen überwältigt (…). | |
Es bricht alles aus einer Gruppe von Leuten hervor und wird zum großen | |
Ganzen. Und man selbst ist mittendrin. Es fühlt sich ganz wunderbar an, | |
weil es kein Entkommen gibt. Man fühlt sich sicher, und man kann sich | |
einfach dieser Naturgewalt hingeben.“ | |
Am zweiten Berliner Konzerttermin wird Bonnie „Prince“ Billy die Berliner | |
Sacred Harp Sänger*innen auf die Bühne bitten. Auch dies hat schon | |
Tradition, es fand so bereits zweimal bei seinen Londoner Gigs statt, | |
ermöglicht durch eine reisefreudige europäische junge Szene, die gerne jede | |
Gelegenheit nutzt, um gemeinsam zu singen. | |
Dass es in den Liedern die meiste Zeit um Tod, Jenseits und Höllenfeuer | |
geht, tut der Freude daran keinen Abbruch. Das Leichte im Abgründigen | |
finden und umgekehrt – das gelingt sowohl den Sacred Harp Singers wie auch | |
dem ewig inspirierten und inspirierenden Vollblutmusiker Will aus Kentucky. | |
Caro Stamm-Reusch ist Teil von Sacred Harp Berlin | |
8 Oct 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Neues-Album-von-Bonnie-Prince-Billy/!5410486 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=vM3HKEHdN-k | |
[3] /Neues-Album-von-Angel-Olsen/!5714740 | |
[4] /Archiv-Suche/!386745&s=Bonnie+Prince+Billy&SuchRahmen=Print/ | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=q-rLvg1k-Uk | |
## AUTOREN | |
Caro Stamm-Reusch | |
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